Verschickungskinder. Meine Erfahrung mit Karlshafens Kuraufenthalt 1961/62. Da war ich 6 Jahre alt.

Ich sollte unbedingt zur Kur, so hatte es meine Mutter gewünscht, denn ich war nach ihrer Meinung einfach zu dünn und wog nicht viel für mein Alter. Ich dachte noch auf was für eine Abenteuerreise man mich schickte, als ich mit einem braunen Koffer damals am Bahnhof stand und von einer Begleiterin bis zum Abteil gebracht wurde. Ich kapierte erst viel später was man mit mir vor hatte. Dass ich von Sontra weg nach Karlshafen mußte, um dort an einer Völlerei teilzunehmen was man auch unter Kur verstand. Denn was man mir zu Hause oben reinstopfte blieb einfach nicht in den Hosen drin, wie man so sagte. Da meine Mutters Eltern damals damit gute Erfahrungen gesammelt hatten an solch einer Aufpeppelkur, tat man sich’s einfach und fragte nach wo denn in der Nähe von Sontra eine solche wäre. Karlshafen war ein Steinwurf weit weg, wurde so für mich lange qualvolle 4 Wochen und somit die Hölle auf Erden. Es sollten ursprünglich 6 Wochen werden, die dann aber wegen meines Naturells sehr fettes Fleisch wieder auszubrechen abgebrochen wurde. Ich mochte einfach nicht dieses wabbelige Zeug in mich reinstämmen. Zu Hause stromerte ich fast den ganzen Tag im nahegelegenen Wald herum, hatte einen mächtigen Hunger danach aber es nutzte nix. Die Kalorien die ich oben rein stopfte blieben nicht bei mir. Also, wurde hier nachgeholfen, auch, weil es der damalige Arzt so betrachtete denke ich. 4 Wochen Erbsensuppe mit Speckzulage. Fettes Essen was es an Masse scheinbar jeden Tag in Karlshafen gab. Ich konnte diese Erbsensuppe schon von weitem riechen. Selbst draußen auf dem Exerzierplatz vor dem wir immer antreten mußten vor dem weißen, großen Haus in dem die Sonne glühte wenn sie schien. Ich ekelte mich einfach zu sehr an der Schwabbelmasse, am Speck, an dem man noch hin und wieder die Haare zählen konnte, die nicht richtig abgebrannt oder entfernt wurden. Einfach nur ekelhaft! Zum Frühstück schon Leberwurst zum Abwinken und dann immer und immer wieder diese erbärmliche Erbsensuppe, die ich massig wieder rausbrach sobald ich nur ein wenig von aß. Irgendwann ging dann gar nix mehr. Den Flur zur Toilette war voll von meinem Erbrochenen das ich dann auch noch aufputzen mußte und mich garantiert nochmals dabei erbrach. Es gab Kinder die mußten ihr Erbrochenes auch noch essen - grausam!!! Zur Strafe gab es dann eine Art Arrest im dunklem Keller, um am nächsten Tag wenig bis nüscht zu essen. Nur zu trinken, so viel ich mich noch erinnern kann. Auch tauschte ich das Frühstück, wenn es irgendwie ging und niemand es bemerkte. Wenn man erwischt wurde fielen Strafen an. Irgendwann knipste ich mein Bewußtsein hierfür aus. Ich wurde nach ca. 4 Wochen „untherapierbar“ wieder nach Hause geschickt. Dort machte mein Vater meiner Mutter schwere Vorwürfe wegen meines Zustandes und wir consoltierten erst mal unseren Hausarzt. Der war gleichfalls entsetzt und wollte mich in ein nahegelegendes Krankenhaus einweisen, weil man dachte ich würde sterben, so dünn muß ich damals wohl gewesen sein. Durchs Mutter’s Hausmannskost und intensives Handeln meiner Oma, die auf mich mit Argusaugen dann später aufpasste, dass ich immer was zu futtern bekam, ging’s dann mit der Zeit. Viele Einträge die ich im Forum der Verschickungskinder las decken sich mit denen die ich auch gemacht habe deswegen möchte ich nicht weiter drauf eingehen. Ich verdrängte diese Zeit immer noch und es ist auch gut so!!! Ein bis zweimal gab es in der Woche einen Badetag. In Holzfässern in dem man geschruppt wurde. Ich fand es damals als sehr unangenehm so nackig mit zig anderen sich die Haut zu schruppen oder auch schruppen lassen. Mehr weiß ich leider oder gottseidank nicht mehr. Die Ordensschwester waren nicht gerade zimperlich oder zugänglich, eher eiskalt, sympathisch wie ein Stein. Das alles machte mir als 6 Jähriger doch recht viel Angst. Ich glaube auch öfters in die Hose gemacht zu haben. Dafür wurde man natürlich bestraft. Ich war froh wieder zu Hause zu sein! Sicherlich gab es auch ein paar nette Seiten an dieser Kur, wie das Spazierengehen. Die Landschaft zu genießen mit den Kameraden. Was mir aber immer wieder negativ auffiel, dass man als Kind unter diesen unnahbaren, eiskalten Engel kein bisschen Empathie fand. Jeder Fehler wurde auf die Goldwaage gelegt und dir als Strafe ausgelegt, so dass man immer und jederzeit angespannt war. Ich war froh, dass meine 6 Wochen nach bereits 4 Wochen zu Ende waren! Ich höre mal an dieser Stelle auf weil es doch sehr strapazierös ist. Wer mehr darüber wissen will der kann unter dem gleichnamigen Titel https://verschickungsheime.de weiter recherchieren.


© Michael Dierl


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Beschreibung des Autors zu "Verschickungsheime und deren Kinder. Eines davon war ich."

Auch hier im Forum ist es mal angebracht über Dinge zu reden die man doch meist vergisst oder durch die Zeit verdrängt. Ich habe einen Beitrag bereits unter Verschickungskinder veröffentlicht. Ich kann nur von meiner damaligen Position aus sprechen. Sicherlich gab es auch positive zu berichten doch waren viele Kommentare die ich las eher erschreckend wie mit Menschen, also kleinen Kindern doch jahrelang in diesen sog. Kurheimen umgegangen wurde.

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Kommentare zu "Verschickungsheime und deren Kinder. Eines davon war ich."

Re: Verschickungsheime und deren Kinder. Eines davon war ich.

Autor: Jens Lucka   Datum: 19.12.2021 20:39 Uhr

Kommentar: Es ist ja wirklich unglaublich was so für Dinge geschehen !
Mein Mitgefühl ist bei dir lieber Michael.

Gruß, Jens

Re: Verschickungsheime und deren Kinder. Eines davon war ich.

Autor: Alf Glocker   Datum: 20.12.2021 6:41 Uhr

Kommentar: Uffa! Das ist der Hammer...

LG Alf

Re: Verschickungsheime und deren Kinder. Eines davon war ich.

Autor: Michael Dierl   Datum: 20.12.2021 8:02 Uhr

Kommentar: Dank Euch für Eure Kommenatare. Ich wollte das schon lange einmal loswerden aber dazu findet man im Netz nun auch sehr viel Diskussionstoff. Schlimm ist wenn eine Gesellschaft es nicht zustande bringt das Lügen und kriminelles Handel ungestraft bleiben und sogar unter den Tisch gekehrt werden und man nicht mal eine finanzielle Reue zeigen will, was ja dann einem echten Eingeständnis des Handelns wäre. Es wird Zeit, dass hier zusammen an einem Strang gezogen wird um das wieder gut zu machen was kaputt gemacht wurde wenn das überhaupt machbar ist. Auch hier war's wieder mal Ordensleute, ein Verein der von uns allen lebt aber um echte Strafe sich herum drückt. Dabei schwimmen sie im Geld!

Re: Verschickungsheime und deren Kinder. Eines davon war ich.

Autor: Sonja Soller   Datum: 20.12.2021 11:59 Uhr

Kommentar: Vieles, was geschehen ist, wollen die, die daran beteiligt waren heute nicht mehr wahrhaben oder bagatellisieren es. Ja, es ist unglaublich. Im Nachhinein können einem die Kinder leidtun, aber dadurch wird es nicht ungeschehen gemacht.
Die Kinder vergessen dieses Erlebnis nie, es hat sich tief eingebrandt.

Herzliche Adventsgrüße aus dem mitfühlenden Norden, Sonja

Re: Verschickungsheime und deren Kinder. Eines davon war ich.

Autor: Michael Dierl   Datum: 20.12.2021 13:20 Uhr

Kommentar: Ja, danke Dir Sonja, ja, man hat gelernt zu verdrängen, zu vergessen aber viele Ursachen wie Konzentratonsstörungen oder Schlafdefizite, oder einfach on top zu sein wie die meisten Jungen Menschen hat so bei manchen leider eine Begründung die in früher Kindheit zu suchen ist. So schlepppt jeder irgend ein Mangel mit sich herum und weiß es gar nicht, dass man dieses Übel, dass einem als Kind zugesetzt wurde genau daran liegt. So hat man riesen Respekt vor Vorgesetzten jeglicher Form auch was die Schulpersonal betrifft. So sollte der Lehrer ein guter Freund sein nur ist er leider durch diesen Mist eher ein Feind als ein Freund und das ist nicht gut! Auch diese Ordensklufft hat leider negatives Image bekommen ja und die Kirche selbst natürlich auch dabei gibt es ganz passable Leute dort, wie einzeln feststellen mußte. Aber man ist immer in der Deckung, paßt auf etc. man ist eben misstrauisch, misstrauischer als die meisten unter uns.

Re: Verschickungsheime und deren Kinder. Eines davon war ich.

Autor: Sonja Soller   Datum: 21.12.2021 11:12 Uhr

Kommentar: Habe mich nicht getraut "Gefällt mir" zu drücken.
Das du darüber geschrieben hast, Hut ab, aber das Geschehen an sich gefällt mir natürlich nicht!!!!

Herzl. Grüße
Sonja

Re: Verschickungsheime und deren Kinder. Eines davon war ich.

Autor:   Datum: 21.12.2021 11:48 Uhr

Kommentar: Lieber Michael, ich hatte auch nicht gerade eine leichte Kindheit, aber deine Story hat mich erschüttert.

LG Herbert

Re: Verschickungsheime und deren Kinder. Eines davon war ich.

Autor: Michael Dierl   Datum: 21.12.2021 21:24 Uhr

Kommentar: Tja, so ist das eben mal. Wie mein Arzt mal sagte: Es gibt Glückspilze und Pechvögel, sie gehören zur letzten Gattung. Tja, die Wahrheit ist manchmal sehr schmerzhaft zu ertragen aber was will man machen.....!?

lg Michael Dank für Eure Kommentare

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