Prolog
Zack – und plötzlich ist alles dunkel. Ab heute, für immer. Könnt ihr euch das vorstellen?
Es ist das erste Mal seit meinem Unfall, dass ich wieder hier bin. Noch ein letztes Mal möchte ich diesen Ort in all seiner Schönheit erleben. Nur ein letztes Mal. Ich atme tief ein, tiefer als sonst. Die kalte Seeluft dringt in meinen Körper; sie wirkt irgendwie belebend. Das ist genau die belebende Energie, die ich jetzt brauche, um den ersten Schritt zu wagen. Ich reiße all meinen Mut zusammen. Langsam greife ich mit der zittrigen linken Hand nach dem hölzernen, morschen Treppengeländer. Für einen Moment halte ich die Luft an. Ich warte bis sich meine Hand beruhigt hat. Es dauert eine Weile bis ich mich wieder gefangen habe und ich das Geländer fest greifen kann. Dann strecke ich die andere Hand in deine Richtung. Du sollst sie greifen, mir Halt geben, einfach nur für mich da sein. Die Hand bleibt leer. Dieses Mal ist es nicht nur meine Hand, die zu zittern beginnt. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit erstreckt sich durch meinen ganzen Körper. Ich schaffe es nicht ohne dich. Ich will es nicht ohne dich schaffen. Doch ich muss es. Noch einmal atme ich tief ein, nehme allen Mut zusammen und mache den ersten Schritt. Genau wie damals höre ich Schritt für Schritt ein Knacken. Das immer lauter werdende Knacken verrät mir, dass es immer noch die alte Treppe ist. Die immer alte Treppe, die zu einer kleinen Bucht führt, unsere Bucht. Endlich bin ich unten angekommen. Das Zittern lässt langsam nach und ich fange an, mich zu beruhigen. Um diesen Ort bewusster zu erleben, ziehe ich meine Birkenstocks aus und nehme sie in die Hand. Ich spüre den warmen Sand unter meinen nackten Füßen, während ich langsam Richtung Meer gehe. Immer dem Rauschen nach.
Am Wasser angekommen, bleibe ich stehen. Ich bin mir unsicher, warum ich hergekommen war. Mein Gedankenspiel wird von einem herben Geruch unterbrochen, der in der Luft liegt. Es ist dein Geruch. Es muss das neue Parfüm sein. Ein Gefühl von Geborgenheit steigt in mir auf, wärme erfüllt meinen Körper. Die Hilflosigkeit, die ich soeben noch verspürte, ist wie in Luft aufgelöst. Die tiefe Leere in meinem Körper fängt an, sich Stück für Stück zu füllen; sie füllt sich durch Erinnerungen, die durch den herben Geruch in der Luft in mir geweckt werden. Diese Erinnerungen werde ich immer in meinem Herzen tragen. Deine Arme um meine Hüfte geschwungen, dein Kopf auf meiner Schulter gestützt und dein warmer Atem, den ich in meinem Nacken spüre, so wie immer. Genau das sind die Erinnerungen, die mich kurz erstarren lassen. Unbewusst lasse ich mich in den warmen Sand sinken. Dieser Ort ist einfach nicht mehr derselbe ohne dich. Das ist unser Ort. Unser. Gerne denke ich an unsere gemeinsame Zeit zurück. Heute möchte ich am liebsten die Uhr zurückdrehen und noch einmal alles zum zweiten Mal erleben. Ich möchte das selbe fühlen wie damals; das Feuer wieder in mir entfachen und unbeschwert durch das Leben gehen, so wie damals. Weißt du noch Phil, da drüben auf den Steinen im Meer haben wir uns stundenlang aufhalten können. Wir haben Krebse geangelt. Professionell mit einem Stock, einer Schnur und einen kleinen Köder versteht sich. Doch wir haben sie nicht einfach nur gefangen. Nein. Jeder Krebs hat seine eigene kleine Geschichte bekommen. Da gab es zum Beispiel Elias. Elias war der Zauberer unter den Meerestieren. Er hat sich abends immer in Schale geworfen. Den Smoking an, den Zylinder auf und ab ging die Show. Wir stellten uns dabei vor, wie er Millionen von Meereswesen ein Lachen ins Gesicht zaubert. Ach, wie wir uns stundenlang damit aufhalten konnten die wildesten Geschichten zu kreieren. Ich mochte deine spontane Art. Mit deinen ausgedachten Geschichten hast du mir immer ein Lächeln ins Gesicht zaubern können. Du bis… warst; du warst mein Zauberkrebs. An anderen Tagen saßen wir einfach nur da. Ich in deinen Armen. Wir lauschten den Klang der Wellen. An anderen Tagen redeten wir bis tief in die Nacht. Wir brauchten nicht viel, wir brauchten nur uns. Du hast diesen Ort einfach zu unseren werden lassen. Es war alles perfekt. Dachte ich zumindest. Heute vor genau einem Jahr hast du mir das Gegenteil bewiesen. Ich kann mich daran erinnern, als wäre es erst gestern gewesen.



Ich bekam deinen Brief. Seitdem du wegen deines Jobs in die Schweiz musstest, schicktest du mir andauernd Briefe. Damit ich ihn in Ruhe lesen konnte, ging ich runter zur Bucht. An keinen anderen Ort warst du mir so nahe wie hier. Ich lies mich genau an der Stelle nieder, wo ich jetzt gerade sitze, in Gedanken versunken, den Wellen lauschend. Ich habe schon oft Briefe von dir erhalten, habe mir also nicht viel dabei gedacht. Ein Liebesbrief vielleicht? Ein Fabel für Poesie und Romantik hattest du ja schon immer.
Doch was dann kam, raubte mir den Atem.
Lilima prangte in geschwungenen Lettern hervor. So nanntest du mich immer. Ich war immer deine Lieblingsmaus, deine Lilima.
Manchmal weiß man, wann ein Kampf verloren ist. Ich werde aufgeben, aufgeben, bevor die Zeit mich aufgibt.
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen was du mir sagen wolltest. Meine Gedanken waren wie benebelt. Ich konnte in dem Moment keinen klaren Kopf fassen. Wie ich mich fühlte? Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht so recht wie es in mir aussah. Ich zitterte auf jeden Fall am ganzen Körper. Minuten lang saß ich im warmen Sand und starrte aufs Meer, unsicher weiter zu lesen oder es einfach bleiben zu lassen. Doch dann ich nahm allen Mut zusammen und riskierte einen weiteren Blick auf den Brief. Ich musste einfach wissen, wie es in dir aussah. So viele Fragen schossen durch meinen Kopf. Wenn ich eine Antwort finden würde, dann hier. Ich las weiter.
Ich merkte es zuerst gar nicht. Es war ein ganz normaler Routinebesuch. Die ersten Warnzeichen habe ich nicht wahrgenommen, wollte sie einfach nicht wahrnehmen. Geschwollene Lymphknoten schwellen auch wieder ab. Aber nein, es war nicht so. Ich blieb so lange bei dir, bis ich konnte. Glaub mir. Du musst mir wirklich glauben. Als es zunehmend ernster wurde, die Zeit mich einholte und ich es nicht mehr geheim halten konnte, wusste ich, ich muss gehen. Eine Chemotherapie wollte ich einfach nicht. Sie hätte uns vielleicht zwei Monate mehr gegeben. Zwei Monate in denen ich nicht der sein hätte können, der ich wirklich war. Du sollst mich nicht in einer solch schlechten Erinnerung behalten. Du sollst das Ganze nicht noch einmal durchmachen müssen. Nicht noch einen geliebten Menschen verlieren.
Nicht noch einen geliebten Menschen verlieren. Bei diesen Worten flossen meine Tränen unaufhaltsam über mein Gesicht. Du hattest Recht Phil, ich kann nicht noch jemanden verlieren. Nicht noch einmal Abschied nehmen. Der Verlust sitzt immer noch tief. In meinen Gedanken spielte ich den Verlust meiner Großmutter noch einmal durch:
Den ganzen Tag habe ich nichts essen können, gar nichts. Mit mulmigen Gefühl fuhr ich zum Haus meiner Großeltern. Obwohl, war es wirklich ein mulmiges Gefühl? Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht so recht wie es in mir aussah. Ich wusste nur, es war an der Zeit Abschied zu nehmen. Abschied. Das Wort ging mir die ganze Fahrt nicht mehr aus den Kopf. Abschied… Noch nicht bereit dafür, steckte ich den Schlüssel mit zitternden Händen in das Schloss, drehte ihn um und trat ein. Bevor ich den Schritt in das Wohnzimmer wagte, atmete ich noch einmal tief durch. Ich sammelte all meine Kraft und trat ein. Sprachlos stand ich in der alten Holztür. Sonst fiel mein Blick zuerst auf den großen Fliesentisch, der den Raum füllte. Auch wenn wir unsere Großeltern größtenteils zum modernen Wohnen überzeugen konnten, der Fliesentisch musste bleiben. Wir haben uns immer bei jedem Familientreffen darüber aufgeregt wie grässlich dieser Tisch doch aussieht. Doch meine Großmutter störte das nicht. Sie störte sich noch nie daran, was andere über sie dachten. Immer wenn wir zusammen einkaufen gingen, sang sie die Lieder laut mit, die als Hintergrundmelodie liefen. Die einen stiegen sofort mit ein, sagen und tanzten, von anderen wurde sie einfach nur belächelt. Ich bewunderte Sie immer dafür. Um den Tisch standen gepolsterte Bänke. Dort musste sich immer die ganze Familie draufquetschen. Und bei jeder Familienfeier wurde es immer etwas enger und die Familie größer. Doch es störte niemanden. Meine Großmutter schätzte die Gesellschaft. Doch viel mehr interessierten sie die neusten Geschichten. Und mit neusten Geschichten meinte sie nicht das aktuelle Weltgeschehen. Nein, sie meinte schon den typischen Gossip. Sie wusste immer als erste Bescheid, was im Dorf gerade getratscht wird. Als ich damals auf Scheunenfeten gegangen bin, wusste sie am nächsten Morgen mehr als ich selbst. Sie wusste einfach über alles Bescheid – der Buschfunk funktionierte einfach immer. Doch als ich jetzt den Blick in das einst gemütliche Wohnzimmer voller Erinnerungen warf, sah ich als erstes das veraltete Pflegebett, welches nun den Platz des Tisches einnahm. In dem Bett meine Großmutter. Dieser Anblick brach mir das Herz. Vollkommen abgemagert mit gelblicher Haut lag sie dar; mit einem Lächeln im Gesicht als sie mich erblickte. Ich lies mich neben ihr nieder. Langsam und bedacht nahm sie meine Hand. Mit ihrer zerbrechlichen, zarten Stimme brachte sie ein „schön dich zu sehen.“ hervor und streichelte währenddessen meinen Arm. Ich merkte wie schwer ich schlucken musste, bevor ich ihren Satz mit zitternden Stimme erwidern konnte. Stille! „Weißt du?“, hatte sie dann gesagt. Die folgenden Worte klingen noch heute in meinen Kopf. „Du hast die Möglichkeit alles richtig zu machen, aber wie lange du diese Möglichkeit noch hast, sagt dir niemand.“ Ich nahm ihre Hand fester denn je und schaute ihr tief in die Augen. „Du hast alles richtiggemacht!“, brachte ich mit einer überrascht festen Stimme hervor. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. Noch bevor sie etwas erwidern konnte, nahm ich sie fest in den Arm. „Du weißt, dass ich immer bei dir sein werde. Und egal wo ich bin, vergessen werde ich dich nie!“ Mir lief eine Träne über das Gesicht. „Nicht traurig sein! Der hellste Stern am Himmel soll dich immer an mich erinnern.“ Das waren ihre tröstenden Worte. Noch lange haben wir einfach nur dagesessen. Meine Großmutter und ich Arm in Arm. Sie verabschiedete sich mit den Worten „Bis zum nächsten Mal!“ Doch wir beiden wussten, es gibt kein nächstes Mal.
Noch so einen Abschied würde mein Herz nicht verkraften. Beim Lesen deiner Zeilen machte ich mir Vorwürfe. Vorwürfe nichts gemerkt zu haben. Du konntest es noch nie leiden, wenn ich mir zu viele Gedanken machte. Wenn du jetzt hier wärst, würdest du meine Hand greifen und mir fest in die Augen sehen. Lilima, hör auf die ganze Welt ändern zu wollen, würdest du dann mit spöttischen Grinsen sagen. So wie du es immer sagtest, wenn ich mal wieder Unmögliches möglich machen wollte. Doch ich hörte nichts… nur das Rauschen des Meeres. Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, las ich weiter.
Ich wollte nur das Beste für dich, das Beste für uns. Für mich gab es einfach keinen anderen Ausweg. Der Kampf war verloren. Ich wollte nicht durch die Hölle gehen, ans Bett gebunden sein, auf den Tod wartend. Jetzt kann ich von mir behaupten, ich habe gelebt. Und vor allem, ich habe geliebt. Ich habe dich geliebt, Lilima. Du solltest mich so in Erinnerung behalten, wie du mich kennst. Führe dir die schönen Momente vor Augen. Immer und immer wieder. Vergiss mich einfach nicht. Trage mich immer in deinen Herzen und du wirst sehen, ich werde immer bei dir sein… und du bei mir. Eines Tages wirst du es verstehen.
In Liebe
Dein Zauberkrebs


© Krümelmonster


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Kommentare zu "Loosing Laugh"

Re: Loosing Laugh

Autor: Verdichter   Datum: 23.10.2020 18:03 Uhr

Kommentar: Es ist ein bisschen schwierig, hierzu "es gefällt mir" zu sagen. Ich bin ja kein Psychopath. Aber der Text ist gut geschrieben, unheimlich eindringlich und bewegend. Dabei lebendig.
Wenn das der Prolog war, werde ich alles lesen, was folgt!
Gruß, Verdichter

Re: Loosing Laugh

Autor: Krümelmonster   Datum: 25.10.2020 17:31 Uhr

Kommentar: Vielen Dank lieber Verdichter!
Ich würde gerne Feedback bekommen, um den Text zu optimieren. Was hat dir besonders gefallen und was eher weniger? Über eine Antwort würde ich mich sehr freue.
Ich wünsche Dir nich einen schönen Sonntag Abend :)

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