Vera schloss die Haustür ab und machte sich mit ihrem Auto auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt. Merkwürdig hatte sie es schon gefunden, dass der Chef sie ebenso wie ihre Kolleginnen und Kollegen zur Autobahnauffahrt bestellt hatte. Schließlich sollte heute doch der lang ersehnte Betriebsausflug stattfinden. Aber Schmitti aus der Buchhaltung hatte ihre Bedenken zerstreut: „Der Alte lässt sich doch jedes Jahr etwas Neues einfallen“, hatte er gesagt, „es wird bestimmt lustig.“

Als Vera den Parkplatz an der Autobahn erreichte, waren ihre Kolleginnen und Kollegen bereits vollzählig dort. Sie standen zu zweit oder zu dritt zusammen und unterhielten sich oder scherzten miteinander. Einige blickten ihr erwartungsvoll entgegen. Dr. Brakensiek, ihr Chef, reichte ihr lächelnd die Hand und begrüßte sie: „Hallo, Frau Puschelmann, guten Tag! Ich glaube, jetzt sind wir komplett und können starten.“

Er bat die anderen, sich zusammenzufinden, räusperte sich, wie man das von ihm kannte, und setzte zu einer kleinen Rede an: „Ich freue mich, dass Sie heute alle hier zu unserem diesjäh-rigen Betriebsausflug erschienen sind.“ Er schaute sich in der Runde um und fuhr fort: „Sie wissen ja sicher alle, bereits, dass sich unsere Firma seit einiger Zeit in einer sehr angespann-ten Finanzlage befindet. Deshalb habe ich mir für den heutigen Tag etwas ganz Besonderes ausgedacht.“ Er lächelte vielsagend. „Sie werden sehen, dass man auch bei einem Betriebsaus-flug sparen und trotzdem seine Freude haben kann.“

Aufmunternd klatschte Dr. Brakensiek in die Hände und nickte seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern freundlich zu, bevor er die Katze endlich aus dem Sack ließ. „Unser heutiges Ziel ist Düsseldorf, eine wunderschöne Stadt, kann ich Ihnen sagen. Angesichts der leeren Firmenkasse wird es Ihnen aber doch sicherlich nichts ausmachen, die Reise per Anhalter an-zutreten. Wir treffen uns dann so gegen halb 12 vor dem Hauptbahnhof. Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt.“

Verdutzt blickte Vera sich um. Auch die anderen waren offensichtlich sprachlos. Doch als Dr. Brakensiek selbst mit gutem Beispiel voranging und gleich der erste Fahrer anhielt, um ihn mitzunehmen, wollte sie nicht nachstehen. Sie hielt den Daumen hoch, und schon nach kurzer Zeit saß sie in einem dicken Mercedes, der in Richtung Düsseldorf fuhr. Selbstverständlich waren nicht alle pünktlich am Hauptbahnhof, so dass man mit dem Mittagessen noch eine Weile warten musste. Nach und nach trafen schließlich die Kolleginnen und Kollegen ein, bis auch der letzte das Ziel erreicht hatte. Es war Beierlein aus der EDV, und er hatte sage und schreibe sieben Autos gebraucht, um nach Düsseldorf zu gelangen.

„Meine Damen, meine Herren“, begann nun Dr. Brakensiek und rieb sich die Hände, „wie ich sehe, haben alle das erste Etappenziel erreicht. War doch gar nicht so schwer, oder?“ Natürlich erwartete er nicht wirklich eine Antwort, und so schwiegen die anderen auch. „Ich glaube, wir haben uns jetzt eine kleine Stärkung verdient, was meinen Sie? Ich habe bei der Bahnhofsmission einen großen Tisch für uns reservieren lassen, wenn Sie mir bitte folgen wollen ...“ Damit schritt er Richtung Haupteingang, während Vera und ihre Kolleginnen und Kollegen ihm zögernd folgten.

Frau Hackebeil von der Bahnhofsmission begrüßte sie überschwenglich. „Das ist ja mal eine gute Idee“, meinte sie. „Solche Leute wie Sie verirren sich ja sonst nur ganz selten zu uns.“ Sie machte eine einladende Bewegung mit der Hand. „Setzen Sie sich. Ein Drei-Sterne-Menü können wir Ihnen natürlich nicht bieten, aber dafür gibt’s Mutters gute Erbsensuppe.“ Schon kam ihre Mitarbeiterin mit einem kleinen Servierwagen angefahren, auf dem zwei große Töpfe standen. „Suppe mit Erbsen kostet 80 Pfennige, ohne 40“, verkündete Frau Hackebeil und schaute in die Runde. „Wer möchte was?“

Die Suppe schmeckte hervorragend, Nachschlag gab es selbstverständlich nur gegen Aufpreis. Doch Vera und ihre Kolleginnen und Kollegen verließen gut gesättigt die Bahnhofsmission. Frau Hackebeil wünschte ihnen noch viel Spaß am Nachmittag und bot ihnen an, auch im nächsten Jahr beim Betriebsausflug wiederzukommen. Dr. Brakensiek schaute auf seine teure Armbanduhr. „Wir haben jetzt 13.30 Uhr, wir sind genau im Zeitplan. Ich habe vorgesehen, dass wir uns jetzt zum Rhein begeben, wo wir eine Stunde lang Schiffe gucken können. An-schließend haben wir Gelegenheit - natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben - in einem Freudenhaus ganz in der Nähe die Auslagen anzusehen.“

Die Programmpunkte wurden ohne Widerspruch angenommen, und der Nachmittag verging wie im Fluge. Sogar ans Kaffeetrinken hatte Dr. Brakensiek gedacht. Auf dem Weg zu Freu-denhaus kehrte man bei der Heilsarmee ein, die gerne bereit war, gegen einen kleine Spende für jeden eine Tasse Kaffee auszuschenken. Als der Chef seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anschließend auch noch ins Asylantenheim führte, um dort an einer Folkloreveranstal-tung teilzunehmen, war jeder zufrieden. Die gemeinsame Polonaise über die Kö war sozusagen nur noch der krönende Abschluss. Das Programm war rund, und Dr. Brakensiek hatte sich wieder einmal viel Mühe gemacht.

Am frühen Abend plagte nicht nur Vera der Hunger. Doch der Chef hatte auch hierfür vorge-sorgt. Gegen 20 Uhr erreichte man nach einem kleinen Spaziergang die Heilig-Geist-Gemeinde. Das Pfarrhaus war schnell gefunden, und Dr. Brakensiek drückte persönlich auf den Klingelknopf. Nach einer Weile öffnete der Pfarrer die Tür und blickte seine Überra-schungsgäste entgeistert an. „Guten Abend zusammen“, sagte er leicht irritiert und abwartend. „Guten Abend, Herr Pfarrer“, entgegnete ihm Dr. Brakensiek voller Enthusiasmus. „Hätten Sie wohl ein Abendbrot für eine Gemeinschaft hungriger Seelen?“ Noch bevor der Pfarrer antworten konnte, stieß der Chef die Tür weit auf und schritt voran ins Pfarrhaus. Die anderen folgten ihm, und der Pfarrer konnte nicht umhin, dem Wunsch seiner ungebetenen Gäste statt-zugeben.

Nach einem etwas dürftigen, aber sehr schmackhaften und vor allem kostenlosen Abendessen verabschiedeten sich alle. „Nun geht es zurück nach Hause“, sagte Dr. Brakensiek mit einem leichten Bedauern in der Stimme. „Lassen Sie uns gemeinsam den Zug nehmen, die Straße ist im Dunkeln zu gefährlich.“ Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stimmten ihm zu, und so ging es zu Fuß zurück zum Hauptbahnhof. Dort war schnell ein passender Anschluss gefun-den, und im Zug gab es zur Freude aller genügend freie Sitzplätze.

Während der Rückfahrt, die man aus Ersparnisgründen ohne Fahrkarten angetreten hatte, tauschten sich alle noch einmal über die Erlebnisse an diesem Tage aus. Vor allem Vera hatte es gefallen, und sie wunderte sich noch immer, dass man auch mit sehr wenig Geld einen ge-lungenen Betriebsausflug veranstalten konnte. Fröhlich trat sie aus dem Abteil und öffnete auf dem schmalen Gang das Fenster. Heftig wehte ihr der sommerliche Fahrtwind ins Gesicht. Sie schloss die Augen und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Den Schaffner bemerkte sie erst, als er schon vor ihr stand und sie nach der Fahrkarte fragte ...


© Ulrich Kusenberg


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