Je weiter sie nach Westen kamen, desto schwermütiger wurde ihr Vater. Als wäre das Schicksal nicht schon grausam genug gewesen, starb jetzt auch noch ihre jüngste Schwester im Alter von noch nicht einmal zwei Jahren. Das Baby war den Strapazen der Reise einfach nicht mehr gewachsen. Ihre Eltern hatten keine Kraft mehr, zu trauern.
Sie funktionierten mit versteinerten Minen und zogen einfach wie in Trance mit dem Treck immer weiter westwärts.
Zu diesem Zeitpunkt war auch dem Letzten von ihnen klar, dass sie nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können. Die Wehrmacht würde niemanden mehr zurückdrängen, der Führer selbst hat sie zermürbt und aufgerieben an zu vielen Fronten. Sie war Hitlers Größenwahn zum Opfer gefallen und über die haltlosen Durchhalteparolen der mittlerweile völlig irre gewordenen Nazifunktionäre konnten realistisch denkende Menschen nur noch bitter schmunzeln.
Die Flüchtling hofften, dass die Geschichten, die sie hörten, sich bewahrheiten würden, nämlich, dass Deutschland kurz vor der Kapitulation stünde und die Nazis entmachtet werden würden, dass die Alliierten Streitkräfte das Land besetzen und sich um die gebeutelte Zivilbevölkerung und auch um die zahllosen Flüchtlinge kümmern würden.
Hier sah es im Moment noch nicht danach aus, denn obwohl den Nazis das Wasser bereits bis zum Hals stand, hatten sie offensichtlich immer noch nichts Besseres zu tun, als ihrer Meinung nach "lebensunwertes Leben" in die Konzentrationslager zu deportieren.
Die alte Frau hatte bis heute nie ein KZ gesehen. Aber sie würde die Züge ausgemergelter und halb verhungerter Menschen nicht vergessen, die von SS-Männern wie Vieh zu den Bahnhöfen getrieben wurden, um dort auf eine Reise ohne Wiederkehr in völlig überfüllte Eisenbahnwaggons verladen zu werden.
Manchmal sah das 13-jährige Mädchen, wie sich die Aufseher einen dieser Unglücklichen wahllos herauspickten und in zwangen, sich am Strassenrand nieder zu knien. Dann zogen sie einfach ihre Pistole und richteten den armen Menschen per Genickschuss hin!
Die grausamen Bilder von vor Fassungslosigkeit und Todesangst entstellten Gesichtern, in dem Moment, als die Geschosse ihre Halswirbelsäulen zerfetzten, verfolgten die Frau bis heute in ihren Träumen.
Die Toten wurden danach einfach in den Strassengraben gestossen und liegen gelassen, dem Führer zur Ehr und den Raben zum Frass.
Das Mädchen konnte keinen Grund, geschweige denn einen Sinn im Handeln der SS-Aufseher erkennen, wahrscheinlich hatten diese perversen Schweine einfach nur Entzugserscheinungen, weil sie seit Stunden keinen Menschen mehr getötet hatten.
Weinend fragte sie ihren Vater: "Papa, was ist denn hier los?",
und ihr Vater antwortete ihr: "Mein Kind, es herrscht Krieg!".
Mit dieser kurzen und einfachen Antwort ersparte er sich, seiner 13-jährigen Tochter einen Wahnsinn erklären zu müssen, für den es keine Erklärung gab.
Die Flüchtlinge konnten nichts für diese armen Menschen tun, sie mussten froh sein, selbst noch am Leben zu sein, zu viele von ihnen waren bereits gestorben. Hätten sie sich mit den schwer bewaffneten SS-Leuten angelegt, wären sie wahrscheinlich gleich in die Reihen der Deportierten eingegliedert worden, zumal die Nazis die aus dem Banat stammenden Flüchtlinge bestimmt nicht der reinen, arischen Herrenrasse zu geordnet hätten, deutsche Wurzeln hin oder her.
In ihrer Hilflosigkeit blickten sie zum Himmel, um das Elend auf der Erde nicht sehen zu müssen, oder weil sie immer noch feindliche Flugzeuge befürchteten. Vielleicht auch, weil sie hofften, ihre auf der Flucht verstorbenen Angehörigen dort zu sehen, oder Gott, der hoffentlich noch nicht samt seiner himmlischen Heerscharen geflohen war und die Erde endgültig dem Teufel überliess.
Mehr als hundert Augenpaare, die gleichzeitig zum Himmel blickten, erfüllten die Luft mit einem stummen Gebet, dass flehentlich an Gottes Ohren dringen sollte und das sich, in Worte ausgedrückt, wohl irgendwie so angehört hätte:
"Nun, so sage uns, du gütiger Gott, der du die Ewigkeit kennst, wer von uns wird noch erwachen an jenem neuen Morgen, der die Dunkelste aller Nächte vertreibt?
Sollte die Sonne wirklich jemals wieder aufgehen, nur, um die vom Krieg verbrannte Erde zu bescheinen?"


© Fone


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Fortsetzung folgt.

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