Danach waren sie vorsichtiger. Glücklicherweise kamen sie nach Böhmen, ein damals noch mehr von den Deutschen kontrolliertes Gebiet und hier mussten sie nicht mehr ganz so viel Angst vor Partisanen oder vor feindlichen Flugzeugen haben. Hier konnten sie sich auch bei der einheimischen Bevölkerung sehen lassen und manchmal bekamen sie sogar Lebensmittel von den hier ansässigen Bauern geschenkt, so dass sie es nicht mehr nötig hatten, zu stehlen.
Das bedeutete allerdings nicht, dass sie die Pforte zum Paradies durchschritten hätten, denn die tödliche Gefahr kam diesmal aus einer ganz anderen Richtung, in die bis jetzt keiner auf die Idee kam, zu schauen.
Mehrere Mitglieder des Trecks klagten über Unwohlsein, Bauchschmerzen und Durchfall. In den darauffolgenden Tagen stieg das Fieber der Erkrankten auf lebensgefährliche Werte, und als der Erste starb, waren rote Pusteln auf seiner Brust zu erkennen. Obwohl sie keinen Arzt in ihren Reihen hatten, wussten doch die Älteren und Erfahrenen von ihnen, dass sie es hier mit der tödlichen Krankheit Typhus zu tun hatten.
Vermutlich war der Erreger in einer der Pfützen oder einem der Bächen oder Brunnen, aus denen sie getrunken hatten, oder in verunreinigten Lebensmitteln, die sie gestohlen hatten. Die Krankheit griff mit unbarmherziger Grausamkeit um sich, befiehl hauptsächlich die Schwächeren, das hieß vor allem die Alten und die Kinder.
Die Menschen vom Treck waren verzweifelt, immer mehr von ihnen erkrankten und sie wurden einsam, weil jeder wusste, dass zu enger Kontakt mit den Kranken lebensgefährlich war.
Dann starben sie. Wie die Fliegen starben sie. Kein einziger der Erkrankten hat überlebt. Ohne Zugang zu Medikamenten und ohne die Möglichkeit, einen Arzt zu konsultieren, hatten sie nicht die geringste Chance.
Das Mädchen erinnerte sich noch an einen alten Mann, der wohl ein Freund ihres Vaters war. Oft war dieser Mann in der Heimat bei ihnen zu Hause, redete mit ihrem Vater, hatte mit ihm gegessen und getrunken und war immer sehr lieb zu ihr und ihren Geschwistern.
Die Sinne getrübt vom hohen Fieber, Pusteln auf der Brust, schlug er kurz bevor er starb noch ein letztes Mal seine Augen auf und er sagte verzweifelt und nicht mehr ganz bei sich:
"Warum bin ich nicht zu Hause geblieben? Lieber Gott, warum hast du mich zum Sterben hier her gebracht?"
Dann flossen die letzten Tränen aus seinen gebrochenen Augen über die erkaltenden Wangen und ihr Vater weinte...
Als die Krankheit ihre elfjährige Schwester erwischte, war der Gipfel der Belastbarkeit erreicht.
Sie begruben sie, wie sie alle begruben. Ohne Sarg, ohne göttlichen Beistand, ohne menschenwürdige Zeremonien verscharrten sie sie in der Erde. Das Mädchen sah, wie die Erde langsam das Gesicht ihrer Schwester bedeckte, das letzte, was sie von ihr sah, war eine kleine Hand, die sich ihnen entgegen streckte als wollte sie sagen:
"Lasst mich bitte nicht hier zurück, nicht in dieser ungeweihten Erde, nicht in dieser fürchterlichen Wildnis, bitte, nehmt mich mit!" Dann war ihre Schwester völlig von Erde bedeckt.
Sie sah, wie ihr Vater bitterlich weinte, wie ihre Mutter mit versteinerter Mine dastand, vom Schock zu keiner Bewegung mehr fähig,
und sie wusste in diesem Augenblick, das würde ihnen das Herz brechen,
das würden sie nicht überleben.
Die Krankheit hatte die Hälfte des Trecks dahin gerafft. Vermutlich kam ihnen der hereinbrechende Winter zu Hilfe, der die Ausbreitung der Krankheit eindämmte. Sie änderten ihren Kurs und bogen nach Westen ab und ohne sich wirklich darüber bewusst zu sein, nahmen sie Kurs auf Deutschland, das Land, aus dem ihre Vorfahren stammten und das noch keiner von ihnen gesehen hatte, das Land, von dem alles Elend der Welt momentan ausging.


© Fone


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Fortsetzung folgt..

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Kommentare zu "Die Geister der Vergangenheit 2"

Re: Die Geister der Vergangenheit 2

Autor: Uwe   Datum: 27.10.2014 0:02 Uhr

Kommentar: Phone Fone!
"Nicht ohne" - das würde es nicht treffen, sondern alles dabei und drin, in deinem literarischen Bericht! (Und auch ich bin richtig darinnen.)
u.

Re: Die Geister der Vergangenheit 2

Autor: noé   Datum: 28.10.2014 17:30 Uhr

Kommentar: Ich denke an Deine Schwiegermutter, beim Lesen. Du hilfst ihr mit dieser filmischen Beobachtung des damaligen Geschehens sicher sehr, das Angestaute zu verarbeiten. Wie doppelt wertvoll ist Dein Bericht!
noé

Re: Die Geister der Vergangenheit 2

Autor: Fone   Datum: 28.10.2014 22:13 Uhr

Kommentar: Ich danke euch für die lieben Kommentare.
Ich wollte ihr in erster Linie zeigen, dass ihre Erzählungen nicht nur nerven. Die meisten unserer Familienmitglieder haben wenig Verständnis für ihre Geschichten, die sie, zugegeben, sehr oft erzählt. Aber ich habe feine Abweichungen raus gehört, die jedesmal ein neues, interessantes Detail preisgeben. Daraus kann man etwas machen. Darüber freut sie sich, denn sie weiß natürlich, dass die Geister der Vergangenheit auch in denen Schlummern, die kein Verständnis für sie haben, wie der weitere Verlauf der Geschichte noch zeigen wird.

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