Und sie lief...
Und wieder einmal lief sie. Sie konnte gar nicht mehr sagen, wie viele Schritte sie wohl schon voreinander gesetzt hatte. Sicherlich waren es einige mehr gewesen, als ein Normalsterblicher in seinem Leben je gesetzt hatte. Doch sie genoss es. Der Himmel begann langsam sich in einem wunderschönen Magenta zu färben, wie es um diese Jahreszeit nur so typisch war. Schon vor vielen Jahren hatte der Himmel diese einzigartige Farbe gehabt. Abends eher mit einer Nuance zu viel Blau. Die Nacht hatte schon ihre Finger im Spiel und versuchte die letzten Farben der Sonne mit sich zu ziehen. Sie wollten nie bleiben doch um die Nacht nicht traurig und einsam zu stimmen, kamen sie jeden Morgen um die Nacht zu verabschieden und ihr eine angenehme Pause zu wünschen. Der Tag war dann ihr ständiger Begleiter, vermischte sie mit einem himmlischen orange, lies sie fröhlich den Horizont erklimmen.
Auch das war schon immer so gewesen. Voller staunen dachte Frieda zurück. Ja, es war einfach erstaunlich. Im Laufe der Jahre änderten sich so viele Dinge, wenn man nicht darauf achtete könnte man meinen alles sei vergänglich. Man könnte glauben nichts sei mehr wie vor 40 Jahren, als sie zum ersten Mal das Schauspiel von Tag und Nacht aus der Sicht eines Sportlers genossen hatte. Doch wenn sie nun überlegte wurde ihr klar, dass genau fünf Dinge geblieben waren: Sie schwamm, sie lief, sie fuhr Rad, Der Tag kam, Der Tag. So liebte sie es, so war es schon immer gewesen und so würde es bis zu ihrem letzten Tag bleiben, das wusste sie genau.
Bei Kilometer 15 kam sie an einem Verpflegungsstand vorbei. Die meisten Leute sind an diesem Punkt noch hoch motiviert, Frieda wurde pausenlos überholt. Doch ihr machte es nichts aus. So war das eben. Früher war sie auch einer dieser top fitten jungen Athletinnen gewesen, sie hatte trainiert um besser zu werden, Wettkämpfe bestritten um zu siegen und Bestzeiten zu erbringen. Im Laufe der Zeit waren diese Dinge unwichtiger geworden. Sie hatte gelernt andere Seiten des Sports zu schätzen. Als sie Jung war hatten die Leute sie für Verrückt erklärt, weil sie so viel und so hart trainierte und sich immer wieder zu quälen schien. Nun erklärten die Leute sie für verrückt, weil sie alt war und trotzdem noch trainierte. Aber was hatte schon die Meinung anderer zu bedeuten? Mit dem älter werden war es ihr immer wichtiger geworden den Sonnenaufgang zu sehen. Es war ihr wichtiger geworden an der frischen Luft zu sein. All diese Dinge hatte sie in ihren jungen Jahren für so selbstverständlich gehalten, doch nun waren sie ihr ans Herz gewachsen wie ihre eigenen Kinder.
Sie ließ sich von den Helfern mit Bananen und Riegeln versorgen und nahm sich bevor sie weiter lief noch einen Becher mit kühlem Wasser. Als sie sich das Wasser über Kopf und Nacken laufen ließ musste sie unwillkürlich wieder wenige Stunden zurück denken. Das Wasser hatte am Morgen angenehm kühl ihre Waden umspielt. Sie hatte den Blick in die Ferne schweifen lassen und es noch immer nicht glauben können: Nach vierzig Jahren wurde in der Stadt, die sie so liebte wirklich eine Langdistanz veranstaltet. Sie würde wirklich noch einmal in ihrem Leben einen Ironman in der Havel beginnen um auf der Brandenburger Straße unter dem kleinen Brandenburger Tor beenden. lange hatte sie sich nichts anderes gewünscht, doch nie wirklich daran geglaubt. Und während sie Schritt für Schritt langsam weiter ins kühle Nass ging, beschloss sie, dass dies der letzte Wettkampf sein würde an dem sie offiziell teilnahm. Der Startschuss fiel und sie wartete noch einen Moment, bis die jungen, schnellen sich in die Fluten gestürzt hatten. Sie wollte ihnen nicht im Weg sein, schließlich wollten sie Bestzeiten erreichen. Dann stieß auch sie sich mit den Füßen vom sandigen Boden ab und begann mit langen, kraftvollen Zügen 3,8 Kilometer in Richtung Geltow zu schwimmen. Für Mitte siebzig war sie gewiss keine langsame Schwimmerin und dank ihrer Erfahrung und jahrelangem Training in diesem Gewässer ließ sie viele Leute hinter sich. Sie fühlte sich zu Hause.
Der leere Becher holte sie zurück ins jetzt und hier. Ungefähr ein halber Tag war seit diesem Moment vergangen. Wie viel Zeit genau wusste Frieda nicht, denn auch die Uhr hatte sie bei diesem Rennen daheim gelassen. Sie richtete sich ganz allein nach der Sonne.
Als sie die kleine Pause, die sie sich gegönnt hatte, beendete lief sich Schritt für Schritt weiter. Noch nicht ganz die Hälfte der letzten Teilstrecke war vollbracht und auch wenn es gewiss kein Zuckerschlecken war solche Distanzen aus reiner Körperkraft zu bewältigen, spürte sie doch schon jetzt einen leisen Stich der Sehnsucht, wenn sie daran dachte das es das letzte Mal sein sollte. Sie würde dem Spektakel nicht fern bleiben können, das musste sie sich gar nicht erst einreden. Doch sie hatte für sich selbst beschlossen, dass sie nie wieder starten würde. Eine alte Frau wie sie musste den jungen Leuten schließlich nicht die Startplätze klauen.
Beim Radfahren war sie darüber ins Grübeln gekommen. Sie hatte während der 40 Jahre, die sie Triathlon betrieben hatte, an ca. 30 Ironman teilgenommen, allein acht Mal davon war sie in Hawaii gestartet. Die Startplätze sind bei solchen Veranstaltungen immer begrenzt und wenn Frieda daran dachte, wie vielen Menschen sie die Chance versagt hatte einmal an solch einem Event teilzunehmen bekam sie beinahe ein schlechtes Gewissen. Aber sie hatte es genossen. Sie hatte jeden einzelnen ihrer Wettkämpfe genossen, egal ob es eine Teilnehmerbegrenzung gab oder nicht. Das spielte auch überhaupt keine Rolle. Umso mehr Menschen an dem Event teilnahmen, desto mehr Spaß machte es, ein Teil der Masse zu sein, die alle das gleiche Leid und die gleiche Freude teilen. Die Menschen die bei solchen Veranstaltungen um einer rum sind verstehen einen oft besser als seine beste Freundin. Sie erklären einen nicht für verrückt oder eigenartig, weil man es liebt sich körperlich bis zum Extrempunkt und darüber hinaus zu belasten. Und auch wenn beim Wettkampf letztendlich jeder für sich selbst verantwortlich ist und man allein auf seinem Rad sitzt um immer weiter in die Pedale zu treten, weiß man doch, dass es um einen herum noch hunderte andere gibt die gerade das gleiche fühlen. Auf dem Rad hatte Frieda sowieso immer den meisten Spaß gehabt. Das treten wurde irgendwann zu einem Automatismus und je länger die Strecke wurde, desto mehr liebte sie es einfach nur dahin zu fliegen und den Wind im Gesicht zu spüren. Doch gleichzeitig war sie geprägt von Zahlreichen stürzen, die sie über die Jahre miterlebt, und am eigenen Körper erfahren musste. Jedoch konnte sie mittlerweile von sich behaupten, dass die Stürze sie nur noch stärker gemacht hatten. Die Angst vor gefahren war durch einen gesunden Respekt abgelöst wurden sie war zu einer erfahrenen und sicheren Fahrerin heran gewachsen. Frieda hatte jeden der 180 Kilometer genossen und sich dabei weder in heikle Situationen gebracht noch für andere eine Gefahr dargestellt. Trotzdem war für sie der Erste Schritt in die Wechselzone wie die Landung eines Flugzeuges. Man hatte nun einfach die Gewissheit, nicht mehr die Kontrolle über die hohe Geschwindigkeit verlieren zu können.
Während Sie in Gedanken an frühere Trainingseinheiten versunken war, bemerkte sie nur noch verschwommen ihre Umgebung. Sie kannte die Landschaft, sie war ihr vertraut. Nach und nach wurde das lockere Läufchen, dass es noch bei Kilometer 15 gewesen war, zunehmend härter. Sie war noch nie gut darin gewesen die Brücke zwischen Halbmarathon und Marathon zu überqueren. Heute war das Glück jedoch auf ihrer Seite, denn Kilometer 23 verlief entlang des Luftschiffhafen Areals, Hier kannte sie wohl jeden Quadratzentimeter. Sie war hier nicht nur zur Schule gegangen sonder hatte sich auch während ihrer Studienzeit nicht von dem Gelände trennen können und war schließlich als ausgebildete Lehrerin zurückgekehrt um Heranwachsenden ihre Leidenschaft für den Sport weiter zu geben. Auch wenn der alte Betonbau, der einst ihre Schule gewesen war, durch ein modernes Glasgebäude abgelöst worden war, konnte sie noch den Geist von damals spüren, der nun zu ihr auf die Laufstrecke wehte und sie weiter trieb. Am Rand sah sie kleine Kinder mit Schildern. Wenn sie die Augen zusammen kniff, konnte sie auch ohne Brille die Worte ‚Go, Power- Omi‘ lesen. Ihr Mantra in jeder Situation bei der sie die Zähne zusammen beißen musste. Den Spruch hatten die Mitglieder der Grundschul- Arbeitsgemeinschaft für sie geprägt, die sie vor zehn Jahren übernommen hatte. Mit fünfundsechzig war sie sich gewiss noch nicht alt vorgekommen, doch zwischen ihr und den kleinen Rackern lagen Jahrzehnte und so nahm sie es liebevoll hin von ihnen als ‚Power- Omi‘ bezeichnet zu werden. Als sie an die damalige Zeit dachte, fiel ihr plötzlich auf, dass sie die Arbeitsgruppe schon vor vielen Jahren aufgegeben hatte und ihre kleinen Racker mittlerweile zu Teenagern heran gewachsen waren. Als sie noch einen Blick auf die Kinder mit den Schildern warf, waren es nur noch fremde Menschen mit Getränken und Schwämmen in der Hand.
Sie lief Kilometer um Kilometer und mit der Zeit beschlich sie das Gefühl einer gewissen Schwerelosigkeit. Sie betrachtete die einzigartigen Facetten der brandenburgischen Landschaft und nahm die Luft, die sie so viele Jahre lang geatmete hatte bewusst war. Immer wieder schien sie ihr Blick zu täuschen. Zunächst glaubte sie auf dem Rad neben ihr Don, ihren alten Trainer zu erkennen. Er fuhr in konstanter Geschwindigkeit immer mit ihr mit, gab ihr Zwischenzeiten durch, wie er es immer getan hatte. Er hatte immer gewusst wie er sie am besten erreichen konnte. Einmal hatte er sie angebrüllt, beim nächsten Training hatte er ihr nur leise die Zeiten ins Ohr geflüstert und doch sie hatte sich immer auf ihn verlassen können. Er war ein guter Trainer, der Beste, und würde es auch immer sein. Doch heute konnte er sich um seine anderen Athleten kümmern, Frieda lief heute nur so dahin, ohne irgendwelche Zwischenzeiten zu benötigen. Als sie sich umdrehte um ihm das zu sagen, hielt sie verwundert inne. Don war in ihrer Laufbahn als Profiathletin ihr Trainer gewesen, doch das lag schon viele Jahre zurück. Sie waren auch danach stets eng in Kontakt geblieben und doch war es unmöglich, dass Don ihr heute, bei ihrem letzten Rennen zusah. Sie hatte ihm noch letzte Woche Blumen ans Grab gelegt.
Der Radfahrer schoss an ihr vorbei und Frieda lief, im stillen Gedenken an ihren Trainer, weiter. Die Sonne sank immer weiter, das Magenta breitete sich weiter über dem Himmel aus. Eine wunderschöne Farbe, die sie so oft beim Schwimmtraining bewundert hatte. Danach war sie häufig nach Hause geeilt um genau dieses wunderschöne purpurrot auf eine Leinwand zu übertragen, doch nie war es ihr gelungen. Ein Grund mehr für sie, immer wieder den Sonnenuntergang mitzuerleben. Sie erreichte Kilometer vierzig und wie selbstverständlich lehnte Rheinhart, ihr Ehemann an einer Laterne, die kleine Nelly an der Hand, wie er es all die Jahre getan hatte. Und sie wusste, egal wie, auch heute würde er es vor ihr ins Ziel schaffen und sie dort erwarten. Er hatte all die Jahre dort auf sie gewartet, war nie selbst gestartet und hatte sie doch immer unterstützt wenn sie ihn gebraucht hatte. Sie wollte ihm ein Lächeln schenken und ihm versichern, dass alles gut war, doch nun fühlte sich auch ihr Gesicht so schwerelos an und sie war nicht mehr in der Lage Worte zu formen. Rheinhart und Nelly gingen zurück zum Auto, welches am Wegrand geparkt worden war und Frieda konnte wieder das Wrack am Baum erkennen, welches sich trotz des Schnees grell silbern von seiner Umgebung abhob. Don war nicht der einzige Gewesen, dem sie Blumen ans Grab gebracht hatte. Auch ihre geliebte Familie hatte sie seit drei Jahren besucht. Sie warf noch einen Blick auf die Laterne, doch Rheinhart und Nelly waren bereits verschwunden.
Sie wusste, dass sie für sie lief und gleichzeitig die Zeit nach dem Verlust der am meisten geliebten Personen in ihrem Leben nicht überstanden hätte, wenn sie sich nicht in ihr Training und die wandernte Sonne hätte flüchten können. Und so lief sie weiter, die letzten zwei Kilometer durch die Innenstadt, dem Ziel entgegen. Immer wieder begegnete sie bekannten Gesichtern und dankte ihnen für die wunderschöne Zeit, die sie mit ihnen verbracht hatte. Die letzte Gerade kam vor ihr in Sicht. Sie hatte es wieder einmal geschafft, drei Strecken an einem Tag, ohne Pause. Einige Menschen sagen, es sei die härteste Sportart der Welt. Für sie würde es immer die schönste Sportart der Welt bleiben.
Sie hob den Blick und sah hinter dem Torbogen, der heute mit der Aufschrift Ziel versehen war, die letzten Sonnenstrahlen am Himmel. Auch heute wollte das dunkle Blau der Nacht die Strahlen bei sich behalten. Doch sie würden gehen, so wie sie es 40 Jahre lang getan hatten. Frieda genoss den Blick während sie die letzten Schritte über die Ziellinie trat. Sie sah all ihre Freunde und Geliebten, die im Ziel auf sie warteten und sie mit offenen Armen begrüßten. Das sie dort langsam auf den Boden sank und sich um sie herum Sanitäter versammelten nahm sie nur am Rand war. Ihr Blick war auf die letzten Sonnenstrahlen gerichtet und als diese Hinter den Häusern versanken, schloss auch Frieda ein letztes Mal ihre Augen.


© S.Pilz


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Beschreibung des Autors zu "Und sie lief..."

Der Text ist an Anlehnung an ein Ereignis beim New York Marathon 2013 entstanden. Die 86- Jährige Joy Johnsen nahm zum 25. Mal am New York Marathon teil. Am Tag nach ihrem Lauf schlief sie in ihrem Hotelzimmer ein und wachte nie wieder auf.
Mehr Informationen: http://www.n24.de/n24/Nachrichten/Panorama/d/3789870/86-jaehrige-stirbt-nach-new-york-marathon.html

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Kommentare zu "Und sie lief..."

Re: Und sie lief...

Autor: Uwe   Datum: 22.10.2014 10:32 Uhr

Kommentar: Gelungen, keine Margarine, sondern gute Butter, du Butterbluemchen, toll beschrieben. (Ich fahre auch noch Fahrrad und jogge, bin 1943 geboren. Auf dein Schreiben hin stelle ich jetzt auch einen Text dazu in´s Netz und verwende zum besserem Bekanntwerden deinen Namen (weil du erst seit gestern "bei uns" bist?)
LG
u.

Re: Und sie lief...

Autor: Butterbluemchen   Datum: 22.10.2014 13:46 Uhr

Kommentar: Hi Uwe,
Danke, ich fühle mich geehrt ! Deine Geschichte mit dem Hund hat mir durchaus gefallen, kann mich nur allzu gut in deine Lage hinein versetzen !
Lg

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