Arndt Feldmann gehörte zu jenen vitalen Mittdreißigern, die ständig bestrebt sind, die Umsätze ihrer Arbeitgeber mittels innovativer Verkaufsstrategien
zu steigern. Doch heute war ein schwarzer Tag für ihn. Sein Chef hatte ihn
mit vorwurfsvollen Worten auf die schlechtere Geschäftslage hingewiesen: "Feldmann, Sie sind müde. Was ist los mit Ihnen? Die Auftragslage hat sich zu unseren Ungunsten verändert. Dafür mache ich Sie verantwortlich. Wo bleibt Ihr dynamischer Einsatz für die Firma?" Arndt Feldmann hatte sich nicht rechtfertigen können, weil sie durch ein wichtiges Telefonat unterbrochen worden waren.

Nun eilte er innerlich erregt zu seiner Wohnung. Sein Weg führte ihn durch
den Stadtpark. Auf einer Bank saß gewöhnlich ein alter Mann, der ihn jedes-
mal freundlich grüßte. "Grüß Sie Gott!" sagte er diesmal, "haben Sie einen Augenblick Zeit?" Arndt Feldmann grüßte nur kurz zurück: "Tut mir leid, ich habe keine Zeit!" - "Ich möchte Ihnen ein wenig Zeit schenken", sagte der Alte freundlich. Überrascht blieb Feldmann stehen: "Wie wollen Sie das denn anstellen?"

Trotz seiner psychischen Anspannung setzte er sich neben den Alten auf die Bank im Stadtpark, abwartend, was jener wohl sagen würde. Der Alte sagte: "Ich beobachte Sie seit vielen Wochen, Herr ..?" - "..Feldmann!" - "Herr Feldmann. Sie erscheinen mir immer wie einer, der von irgendetwas getrieben wird. Sehen Sie, ich bin vor einer Woche vierundachtzig Jahre alt geworden. Das ist viel Zeit, das Leben und die Menschen kennen zu lernen.. Ich habe kostbare Zeiten damit vergeudet, dass ich an den wesentlichen Dingen des Lebens vorübergegangen bin." - "Gibt es wesentlichere Dinge als die Verantwortung für seinen Beruf?" fragte Arndt Feldmann. "Gewiss, gewiss!" sagte der Alte: "Haben Sie sich schon einmal Zeit genommen, die Hände Ihrer Frau zu betrachten und darüber nachzudenken, was sie damit alles kann und macht? Oder haben Sie einmal Zeit gehabt, das Leben in einem Stückchen Wiese aufmerksam zu beobachten? Oder saßen Sie einmal am Ufer eines Baches und schauten dem Fließen des Wassers zu?" - "Das alles hat doch wohl mehr mit dem Vergeuden von Zeit zu tun.!" entgegnete Feldmann. Und der Alte: "Wenn Sie so denken, junger Freund, dann haben Sie versäumt, eine Beziehung zu den Dingen herzustellen, die Ihr Leben wertvoll machen. Sie eilen Ihren Verpflichtungen nach, aber Sie vergessen es, Zeit zu investieren, sich selber kennen zu lernen. Ihre Frau macht Ihr Leben wertvoll, die Wiese, der Bach, der Himmel, die Vögel und alle die zahlreichen Lebewesen, mit denen Sie existieren, ebenso!"

Nachdem sich Arndt Feldmann freundlich von dem alten Mann verabschiedet hatte, sah er zum ersten Mal am Weg den herrlich blühenden Rotdorn. Daheim nahm er die Hände seiner Frau, mit denen sie ihn so oft schon gestreichelt hatte und küsste sie lange. Heute würde er sich Zeit nehmen, wertvolle Dinge im Leben zu entdecken.


© Friedel Schmidt


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Beschreibung des Autors zu "Die Hände seiner Frau"

Es ist oft schwer, den sensiblen Teil der eigenen Persönlichkeit kennen und verstehen zu lernen.

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