"... woher alle Ding seine Ursprung hat, und wie es jetzt stehet und wirket, und wie es am Ende dieser Zeit werden wird ..."
J.B.


Es gibt wohl nichts Unbehaglicheres für mich, als diese kalten und nebligen Herbsttage, an denen einem die Kälte in die Knochen und ins Gemüt kriecht. Obwohl ein Jahr nach dem anderen vergeht, bleiben der Schmerz und die Trauer zurück.

Trauer um ein Stück verlorene Zukunft, ein Stück verlorenes Leben und unerfüllte Hoffnungen. Am 5. November 1987 war einer jener Tage, an dem der Herbst sich von seiner besten Seite zeigte. Doch weder der strahlend blaue Himmel, noch die goldglänzende Sonne, die im warmen Licht die Farbenpracht der Laubblätter hervorhob, konnten mich dazu verleiten, mich aus meiner inneren Anspannung zu lösen oder meine Gedanken um etwas anderes kreisen zu lassen als meine innere Zerrissenheit, in der ich mich befand. Immer wieder durchflutete mich so ein erschreckendes, ja fast panikartiges Gefühl, dass ich am liebsten einfach davongelaufen wäre. Doch man kann nicht vor sich selbst wegrennen und sich selbst zurück lassen. Wie verlockend war der Gedanke, einfach die Augen zu schließen und all dieses Grauen wegzuwünschen. Wie ein Kind an der warmen Brust der Mutter Schutz und Trost zu finden.

Es kamen viele liebe und anteilnehmende Menschen, die uns ihr Beileid ausdrücken wollten, aber einfach nicht die richtigen Worte fanden. Ich konnte ihre Ohnmacht spüren. Manche umarmten mich schweigend, manchen war die Situation unangenehm und sie wichen mir aus. Der Schleier des Vergessens hat sich mit den Jahren über all jene Einzelheiten gelegt, die nicht von Bedeutung für mich gewesen waren. Intuitiv hatte ich wahrgenommen, wer ehrliche Trauer mit uns empfunden hatte. Sogar den Namen des Pfarrers habe ich vergessen, der sichtlich bemüht war, uns die Last von unseren Herzen zu nehmen, indem er uns erklärte, dass unser Kind, gleich einem hellen Sonnenstrahl in den Himmel eingegangen sei. Seine Worte waren damals so unverständlich für mich und dennoch klangen sie wundervoll. Ich wollte so gerne an diese Realität glauben können.

Was folgte war der Weg durch den Friedhof zum Grab. Vor mir schwarze und braune Hosenbeine.

Asche zu Asche. Staub zu Staub.

Es ist ein weiter Weg bis dorthin.

Ich hatte gedacht, dass es leichter für uns wäre, wenn wir weiße Rosen ins Grab werfen würden, doch die Blumen schlugen hart und laut auf dem Sargdeckel auf. Eine nach der anderen hieb blutende Wunden in mein Mutterherz.

Wir hätten ebenso Erde nehmen können.

An mir zogen viele Gesichter vorbei, und ich habe zum Abschied viele Hände gedrückt. Jahre danach, wie auch an jenem Tag, kann ich mich an kein einziges Gesicht erinnern, obwohl ich gewusst hatte, wer zum Begräbnis gekommen war.

Was mir über viele Jahre geblieben ist, war der Schmerz und die scheinbare Gewissheit, dass das Leben uns vieles nimmt, was wir wirklich lieben, was wir nicht loslassen können oder wollen. Dieser Schmerz war schier unerträglich.

Ich musste einen Teil von mir für immer fortgeben, loslassen.

Einen Teil von mir...


Der Weg war lang, und er führte steil bergauf an vielen fremden Gräbern und Bäumen vorbei. Für die Sargträger war es nur ein Job, tägliche Routine. Wie konnte man nur leben, wenn man unaufhörlich, täglich mit dem Tod und dem Leid der Hinterbliebenen konfrontiert wurde?

Am Grab angelangt dachte ich insgeheim, dass ich beim letzten Geleit meiner Mutter weit mehr geweint hatte. Diesmal war ich selber Mutter, diesmal war ich erwachsen, diesmal hatte ich mich mehr unter Kontrolle. Niemand bemerkte hinter dem Trauerflor meines großkrempigen Hutes meine Tränen, die sich unaufhaltsam über mein Gesicht und meinen Hals ihren Weg bahnten, bis sie vom schwarzen Rand meiner Bluse aufgesogen wurden.

Als man den kleinen Sarg langsam dem offenen Erdenschlund übergab und in die Tiefe sinken ließ, packte mich unbändige Verzweiflung. Mein Kind würde von den Erdmassen erdrückt werden und sein zarter gebrechlicher Körper würde dem Befall von Maden und Würmern ausgesetzt sein.

War dies der Kreislauf des Lebens?


„Du kamst, du gingst mit leiser Spur,
ein flücht´ger Gast im Erdenland.
Woher? Wohin? Wir wissen nur: Aus Gottes Hand in Gottes Hand.“
Ludwig Uhland

Gewidmet dir, mein Herz, der du in mein Leben getreten bist, um deine Aufgabe zu erfüllen:

Mich zu lehren, dass du, bei aller Liebe, nicht mein Eigentum und eigen Teil bist.
Mich zu lehren, dass ich loslassen kann, ohne dich unwiederbringlich zu verlieren.
Mich zu lehren, dass unsere Zeit in ihrer Qualität so unendlich bereichernd war.
Mich zu lehren, dass du Teil von mir und ich Teil von dir bin, für immer.

In Liebe für dich...


© Copyright 2007 Michaela Thanheuser


© Michaela Thanheuser


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Kommentare zu "ABSCHIED NEHMEN"

Re: ABSCHIED NEHMEN

Autor: noé   Datum: 30.01.2014 0:22 Uhr

Kommentar: 20 lange kurze Jahre hat es gebraucht, bis Du dieses Erleben in Worte fassen konntest? So viel Trauer, soviel Schmerz... Wie hast Du das aushalten können... Wie hältst Du das aus?
War Dein Gedicht AUCH für Dein Kind?
Beide Texte sind so schön, dieser so wehmutsvoll, aber auch sehr zart, die Verletzlichkeit ist für mich spürbar.
Man muss sicher sehr viel Stärke haben zum Weitermachen. Ich wünsch' Dir ganz viel Kraft und ich wünsch' Dir nach Möglichkeit auch unbeschwerte Zeiten zum Leben.
Ganz liebe Grüße von
noé

Re: ABSCHIED NEHMEN

Autor: Watergirl   Datum: 30.01.2014 8:31 Uhr

Kommentar: You use your pen kill her right now, bitte.

Re: ABSCHIED NEHMEN

Autor: Angélique Duvier   Datum: 30.01.2014 12:00 Uhr

Kommentar: Ich bin vor Ergriffenheit völlig sprachlos, mir fehlen einfach die Worte, dieser unendliche Schmerz den du hinnehmen musstest, einfach entsetzlich!
Alles Liebe,
Angélique

Re: ABSCHIED NEHMEN

Autor: Hans Finke   Datum: 04.02.2014 14:07 Uhr

Kommentar: Michaela, da muss ich einfach nur ganz still sein; als wär ich mitgegangen... Lieben Gruß Hans

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