Aus meinem Tagebuch


Heute begehe ich feierlich den 23.000sten Tag meiner Einzelhaft. Vor meiner bislang noch nicht sehr angegriffenen Epidermis zerfleischen sich die Kannibalen. Die Welt riecht etwas säuerlich, nach Aspirin und einem Konzentrat aus Idiotie und Verzweiflung. Lebe ich in einer Toilette?

Dichte Wolken am Horizont künden von einem bevorstehenden Orkan und von ganz oben kommt ein durchdringendes, alle Sinne betäubendes, Geräusch:

dröööhn, dröööhn…

Wo ich auch bin, was ich auch tue, überall holt es mich ein. Es zerschmettert, Sekunde für Sekunde, meine Nerven. Ich kann nur denken, wenn ich mir die Ohren zuhalte.

Bei meinen Zeitgenossen bemerke ich diese Geste nicht. Sie rennen herum, sie lassen sich beschäftigen, sie knabbern an ihren Vorräten, sind fleißig und sie verhalten sich hirnrissig. Überall sehe ich weibliche Kreaturen mit aufgeblähten Bäuchen.

Dröööhn, drööööhn…

Die Frauen (?) sind seltsam gekleidet und sie machen einen dressierten Eindruck. Sind sie verwunschen, wie ein Märchenschloss aus uralter Zeit? An Versailles erinnern sie mich jedenfalls nicht – obwohl ich manchmal den Eindruck habe, daß sie von Sonnengötzen begleitet werden. Sicher befinden sie sich in einer Umlaufbahn um die Humanität. Das Zentrum ist weit.

Dröööhn, dröööhn…

Wenn ich mich recht erinnere, haben viele (ebenfalls seltsam gekleidete) Herren auf dem letzten, sogenannten „Konzil“, unbewusst, etwas von einem Loch erwähnt.

Es gähnt in unbekannter Tiefe, mitten in unserer Gesellschaft, es beinhaltet nichts, es darf nicht zugeschüttet werden, man darf nur etwas hineininterpretieren. Ist es das Symbol einer Toilette, unantastbar, wie die, in der ich lebe? Dem Geruch nach erinnert es mich an uralte Exkremente - verheerend!

Dröööhn, dröööhn…

Wenn ich jemanden frage, warum er sich nicht, wie ich, die Ohren zuhält, bekomme ich zur Antwort: Weshalb denn – es ist doch nichts(?).

In welcher Sprache hat der das gesagt? Meine Kann es nicht gewesen sein, sonst würde ich ja alles verstanden haben.
Ich schüttle also nur den Kopf, deute auf den Himmel und schreie:

dröööhn, dröööhn!

Daraufhin wird mir der Vogel gezeigt. Es ist einer der wenigen Arten, die nur dann vom Aussterben bedroht sind, wenn es uns nicht mehr gibt.

Ich freue mich keinesfalls über diesen Artenschutz, höre darüber hinaus aber Wortfetzen, die mir bekannt vorkommen: …Faultier…Unke…Tasmanischer Teufel. Die sind, glaube ich, vom Aussterben bedroht!

Dröööhn, dröööhn…

Ich muss mich kurz abwenden. Aus der Hosenasche hole ich einen Zettel hervor, auf den schreibe ich „Hochverrat“! Darüber male ich eine Hand, die nach oben deutet.

Daß ich mich selbst damit nicht gemeint habe, versteht wieder keiner. Die Vernichtungsorganisationen bleiben ohne Schuldzuweisung. Man schüttelt nur ignorant den Kopf. Manche schütteln ihn so sehr, daß sie ihn in Bälde verlieren werden.

Dröööhn, dröööhn…

Der 23.000ste Tag meiner Einzelhaft geht zu Ende. Noch einmal reiche ich eine Beschwerde ein und stelle den Antrag, erneut dem Haftrichter vorgeführt zu werden. Man solle doch bitte die Umstände prüfen, unter denen ich hier eingeliefert wurde.

Dann fällt die Sonne in die bereitstehenden Orkanwolken am Horizont, die Uhr fällt von der Wand und der Tag ist aus!


© Sur_real


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