Der Schlaganfall

Ich erinnere mich an eine Zeit der Fürsorge, du hast für deine Familie gesorgt, hast uns schwere Arbeiten abgenommen und uns geholfen, den Alltag gemeinsam zu meistern. Streng warst du, manchmal auch zornig, fordernd und doch gütig zugleich.

Verändert hat sich schlagartig unsre Welt, die Kinder sind erwachsen und aus dem Haus.
Jetzt umsorgen wir dich ohne einen Hauch von Unterstützung. Zorn und Streit überwiegen den Alltag und überschatten die Tage an denen ich die schwere Arbeit alleine meistern muss, ohne die Hilfe der Kinder, unter deinen kritischen Augen. Es ist schwer geworden, hin und wieder schöne Momente mit dir erleben zu dürfen.

Zu sehr hat dich der Schlag in deinem Wesen verändert. Du bist dem Tod noch mal davongelaufen. Mühsam, mit einem fast mörderischen Ehrgeiz hast du an dir gearbeitet um Stück für Stück deiner Umwelt und Leistungen wieder zurück zu erobern.

Nachdem du das Krankenhaus verlassen konntest, freuten wir beide uns auf die gemeinsame Zeit, die wir miteinander verbringen würden. Aber es warst nicht du, so wie ich dich kannte, der zu mir zurückkehrte.

Verbissen, oft im Dunkeln alleine grübelnd, zornig über alles, was nicht mehr so funktioniert wie gewohnt, über den Verlust der Arbeitsfähigkeit hast du dir so manches mal den Tod herbeigesehnt und haderst mit deinem dir geschenktem Leben, mit dem du anscheinend nichts mehr anfangen kannst.

Ein Hobby kennst du nicht, du warst nur ein Arbeitstier, ständig darauf bedacht, deine Familie zu versorgen, für deine Rentnertage vorzusorgen. Ein Wohnmobil wolltest du dir anschaffen, wenn du in Rente gehst. Reisen unternehmen, dir die Welt gemeinsam mit mir betrachten. Das waren deine Ziele auf die du hingearbeitet hast, für die du zahlreiche Überstunden geleistet und für die du auf so viel Freizeit verzichtet hast.

Und jetzt? Was ist dir geblieben?

Lange Autofahrten sind nicht mehr möglich, Bewegungseinschränkungen sind noch das geringste Hindernis. Die gesamte Motorik hat sich verändert, dein Blick ist starr geworden. Hasserfüllt trauerst du um alles was nicht mehr geht und vergisst zu leben. Da dir vieles nicht mehr möglich ist, lässt du deine Unzufriedenheit und deinen Missmut durch ständige Aggressionen an mir aus, übst ständig Kritik, suchst permanent nach Fehlern, die du lautstark anprangerst.

Von einem liebenswerten, hilfsbereiten, charmanten Ehemann und Familienvater hast du dich in einen für mich fremden, jähzornigen und rechthaberischen Partner verwandelt.
Es fällt mir immer schwerer die schwierig gewordenen Tage mit dir gemeinsam zu gestalten. Ich vermisse den Partner, an dessen starken Schultern ich meinen Kopf lehnen kann, der die Verantwortung der Ehe gemeinsam mit mir trägt.

Alle Arbeiten rund ums Haus, pünktliche Mahlzeiten tagein, tagaus, Termine für Arztbesuche und die Medikamenteneinnahme überwachen, das sind meine Aufgaben. Ich umsorge dich rund um die Uhr, begleitet von der täglichen Angst, dich durch einen erneuten Schlag zu verlieren.

All dieses bedruckt mich sehr. Und doch ist die Liebe nicht vergessen die uns einmal verband. Nur versteckt hat sie sich im täglichen Einerlei zwischen Arbeit und ständigen Aggressionen.

Ich sehne mich so sehr nach dir zurück, die Zeit vor deiner Erkrankung. Ich suche dich so oft und finde nur eine bekannte Hülle mit fremdem Inhalt. Täglich stirbt ein Stück meiner Hoffnung, meine verlorene Liebe in dir zu finden. Der Verfall deiner Persönlichkeit zehrt an meinen Kräften, nimmt mir Stück für Stück den Traum einer trauten Zweisamkeit.

Ja ich liebe dich immer noch, auch wenn es sehr schwer fällt.

Deine Ehefrau.


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Beschreibung des Autors zu "Der Schlaganfall"

Ein Schlaganfall ändert nicht nur den betroffenen Menschen, das Zusammenleben ist oft belastet, selbst wenn augenscheinlich der funktionanle Körperzustand wieder erreicht wurde, bleiben Spuren zurück. Nichts ist mehr so wie es war. Nicht für den Betroffenen und ganz und gar nicht für die Angehörigen, die sich auf einen neuen Partner einstellen müssen. Eine Aufgabe mit einigen Hürden für alle Beteiligten, die sich im Laufe des Alltags offenbart.

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Kommentare zu "Der Schlaganfall"

Re: Der Schlaganfall

Autor: Ellena V. Schürer   Datum: 16.07.2015 13:54 Uhr

Kommentar: Warum hat noch niemand "gefällt mir" angeklickt? Weil es nur versteht, wer es selbst erlebt hat. Sehr schön geschrieben. Du bringst es auf den Punkt.

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