Die Tränen meiner Großmutter

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Die Tränen meiner Großmutter

Ich kann nicht mehr weiterlesen. Ein nebelhafter Schleier aus Tränen benetzt meine Augen und um ein Haar hätte ich das vergilbte Papier, das ich in den Händen halte, um einen weiteren Fleck ergänzt. Wäre das so schlimm? Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich meiner mir unbekannten Großmutter, die mit 51 Jahren an Krebs starb, wirklich nahe gekommen. Mein Mitgefühl wächst ins Unermessliche.

Sie durfte mich nicht mehr kennenlernen, starb sie doch zwei Jahre vor meiner Geburt. Viel Rätselhaftes rankt sich um sie, denn ich kenne sie nur von zwei bis drei Schwarzweißfotos und von den Schilderungen meiner Mutter, die ihre Tochter war.

Eine sehr strenge Mutter muss sie gewesen sein, meine Großmutter, die nur zwei Kinder bekam. Zuerst einen Sohn, dann – fast auf den Tag genau sieben Jahre später – meine Mutter. Nach der Mazdaznan-Lehre habe sie meine Mutter gezeugt, erzählte diese mir nicht nur einmal. Nach dieser Lehre sei es für eine Frau wichtig, dass sich ihr Körper im Siebenjahresrhythmus einmal von Grund auf regeneriere, bevor sie wieder schwanger werde.
Allein in dieser Regel steckt so viel harte Disziplin, dass sie stellvertretend für alles andere stehen darf, was meine Mutter mir noch erzählt hat von ihrer strengen Mutter.

Ich war sicher, ich hätte sie nicht gemocht, diese Frau mit dem alt aussehenden Gesicht, der runden Nickelbrille, der konsequent selbstgenähten Kleidung, den klobigen Pumps. Die wenigen Erzählungen, die ihr Wesen beschrieben, ließen mich schaudern. Was für eine harte Person muss sie gewesen sein, die ihre Tochter mit einem abgeschnittenen Gartenschlauch in der Hand durchs Haus jagte, um ihr wegen einer beim Spielen verlorenen Hornspange eine Tracht Prügel zu verpassen?

Aber eines Tages, so erzählte mir meine Mutter …

„Als ich einmal vom Spielen nach Hause kam – ich war 14 und kam gerade vom Rollschuhlaufen, die Rollschuhe hatte ich noch in der Hand – hörte ich im Wohnzimmer ein schreckliches Schluchzen. So ein schlimmes Weinen hatte ich noch nie im Leben gehört. Ich ging um die Ecke, mein Herz schlug wie wild. Da sah ich meine Mutter. Sie saß bei deinem Opa auf dem Schoß und hatte einen Brief in der Hand. Es war passiert, wovor sie immer Angst gehabt hatte …“


Ich schnäuze mir die Nase und nehme den Brief wieder zur Hand. Mein Herz klopft zum ersten Mal aus purem Mitgefühl. Meine Großmutter weinte. Diese harte Person schluchzte!! Und mir ist dieser einzige Moment, in dem sie ihre Härte aufgeben musste, in Papierform in die Hände gefallen. Dieser Brief, den ich im Nachlass meiner Mutter fand. Als meine Mutter gestorben war, hatte ich mir innigst gewünscht, irgendetwas von meiner Großmutter zu finden, von diesem mir unbekannten Menschen. Ein Schmuckstück vielleicht, ein Tüchlein, eine Brille … irgendwas, was mich mit ihr verbinden könnte … doch dass es etwas sein sollte, was mir meine Großmutter auf so herzerschütternde Weise nahe bringen würde, hatte ich mir nicht träumen lassen.

Es hat einen Grund, warum ich diesen, ja, genau diesen Brief aus vielen anderen herausgefischt habe, obwohl ich mir eigentlich vorgenommen habe, alle Briefe chronologisch zu lesen. Dieses Papier tut weh. Es tut so sehr weh, dass ich es kaum in Worte fassen kann.

Diesen Brief hat nicht meine Großmutter geschrieben. Dieser Brief wurde an sie adressiert. Was ihn aus allen anderen herausstechen lässt, sind die braunen Flecken. Sie sitzen in allen vier Ecken.
Mir fällt ein Spruch aus meinem Poesiealbum ein: „In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken.“

Wie viele Tränen braucht die Liebe, um sich Raum und Ausdruck zu verschaffen?

Die braunen Flecken verflüssigen sich zu Tränen, die sich beim Lesen in meinem Herzen zu einem riesigen Meer ausweiten. Dem Meer der unermesslichen Trauer meiner Großmutter. Dem Meer meines Mitgefühls mit dem Menschen, der sich mir in den bisherigen Erzählungen meiner Mutter so hartherzig gezeigt hatte. Dem einen Meer der Empathie!

Ich lese:

„Geehrte Frau P.!

Ihrem Wunsche, Ihnen Bericht über die letzten Stunden Ihres Sohnes zu geben, will ich gern nachkommen. Obwohl es für mich nicht leicht ist, mich aller Einzelheiten genau zu erinnern, da ich ja inzwischen wieder manchen schwerverwundeten Kameraden in Pflege hatte, so weiß ich mich Ihres Sohnes doch sehr gut zu entsinnen. Er ist mir in Erinnerung als besonders tapferer und geduldiger Patient.

Am 29.8.1944 übernahm ich die Pflege Ihres Sohnes und war bis zu seinem Tode immer in seiner Nähe. Er war bis zum 30., den Verhältnissen entsprechend, sehr munter und aufgeräumt, verlangte zu trinken und bat mich einige Male, Arme oder Beine, da er es ja nicht selbst konnte, in eine andere Lage zu bringen.“

An dieser Stelle begreife ich … ich fühle … ich erlebe es mit! Mein Herz spürt einen eisernen Ring, der fast zu zerbrechen droht … es schmerzt. Es schmerzt so sehr! Mein Onkel. Der Bruder meiner Mutter. Der Sohn meiner Großmutter … dieses Zeitzeugnis! Ich empfinde diesen Augenblick der endgültigen Gewissheit mit. Es schüttelt mich …

„Bei dem kurzen Besuch des Herrn Major R. war Ihr Sohn sehr aufgeschlossen, und man sah ihm an, daß ihm dieser Besuch Freude bereitet hatte. Ihr Sohn war bis zuletzt sehr zuversichtlich, und einmal fragte er, wann er wohl mit einem Weitertransport rechnen könne. Zu einem schwerverwundeten Kameraden, welcher im Bett neben ihm lag und mit seinem Schicksal haderte, sagte er: „Nur ruhig und tapfer sein und Mut haben, Kamerad, dann wird schon alles gut werden.“ So war er, obwohl doch selbst schwer verwundet, seinen verwundeten Kameraden noch Vorbild. Nur so habe ich ihn diese zwei Tage, die ich ihn pflegte, gekannt. Eine längere Unterhaltung habe ich, da ihn diese zu sehr angestrengt hätte, nicht mit ihm anknüpfen können. Daran, daß er sterben müsste, hat Ihr Sohn, wie wohl fast alle jungen Menschen, nicht gedacht, an einer Wiedergesundung hat er wohl nie gezweifelt.

Am Abend des 30.8. gegen 21.00 Uhr bat mich dann Ihr Sohn um die vom Arzt verordnete Injektion, um schlafen zu können, und schlief auch etwa ¾ Stunde später danach ein. Sein Allgemeinzustand hatte sich aber doch im Laufe des Tages verschlechtert, und auch vom Arzt verordnete Kreislaufmittel konnten seinen Zustand nicht bessern.

Ich gab ihm dann kurz vor dem Einschlafen noch einmal zu trinken. Auf meinen Gute-Nacht-Wunsch hin sagte Ihr Sohn „Gute Nacht“ und das waren seine letzten Worte.

Um 4.30 Uhr ist Ihr Sohn dann, wie Ihnen mein Kompanie-Chef schon mitteilte, sanft entschlafen und ich habe ihm darauf die Augen zugedrückt und auf die Bahre gebettet.

Ich hoffe nun, Ihnen alles über die letzten Tage Ihres Sohnes mitgeteilt zu haben.

In tiefem Mitgefühl,
P. B., Sanitäts-Obergefreiter“

Es war wohl das einzige Mal, dass meine Mutter ihre Mutter so bitterlich hat weinen sehen. Und ich halte nun diese getrockneten Tränen in der Hand. Die Tränen meiner Großmutter. Das Einzige, was sie mir Braun auf Weiß hinterlassen hat. Durch diese Tränen erst wird sie für mich ganz.


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Beschreibung des Autors zu "Die Tränen meiner Großmutter"

Mit diesem Text bewerbe ich mich an der Ausschreibung eines Literaturmagazins, dessen Heftthema sein wird: Empathie und Aggression.




Kommentare zu "Die Tränen meiner Großmutter"

Re: Die Tränen meiner Großmutter

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 02.03.2024 15:33 Uhr

Kommentar: Liebe Ulrike,
ergreifende Geschichte. Das Leben kann zeitweise recht hart sein.
Liebe Grüße Wolfgang

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