Zwei Tage liege ich nun schon hier.
Kalt und feucht fühlt sich der Boden am Bahnsteig Gleis 2 an. Eigentlich kommen viele Leute an der übervollen Bahnstrecke an mir vorbei. Pendler von wer weiß wo her auf dem Weg nach München. Ich wünschte, irgendjemand würde mich bemerken, aber niemand beachtet mich. Einsam und verlassen liege ich da - doch dann passiert es. Eine ältere grauhaarige Dame bückt sich. Schade, … sie hat nur die ihr aus den Fingern geglittene Fahrkarte aufgehoben. Wieder heißt es warten und hoffen. Als ich schon nicht mehr daran glaube, hebt mich ein sympathisch aussehender junger Mann vom Boden auf. Neugierig betrachtet er mich von allen Seiten und packt mich, ehe ich mich versehe, in seinen mokkabraunen Aktenkoffer. Hier drin ist es zwar einerseits warm und gemütlich, andererseits aber auch dunkel und stickig. Und der dicke Stapel an Dokumenten, der mich von allen Seiten einengt, macht mir das Atmen auch nicht leichter. Ich versuche mich zu beruhigen, zähle langsam und konzentriert bis zehn, um mich abzulenken. Plötzlich höre ich die schrille Pfeife des Schaffners. Es scheint, mein neuer Besitzer hat ein Zugabteil betreten.

Da bin ich nun und die Reise geht - ja wenn ich das wüsste???

Nach einer mir endlos erscheinenden Ewigkeit erreichen wir unser Ziel. Der junge Mann öffnet die silbernen Schnappverschlüsse seines Aktenkoffers, hebt den Deckel an und entnimmt ihm eine Mappe mit sauber geordneten Unterlagen. Neugierig, wo ich denn nach der langen Fahrerei gelandet bin, strecke ich meinen Kopf hinaus und traue meinen Augen nicht.

Wir befinden uns mitten auf dem Gelände der Bavaria-Film-Studios in München Grünwald. Wie der Zufall es will, dreht man gerade (T)Raumschiff Surprise – Periode 3.

Wir schreiben das Jahr 2023. Das (T)Raumschiff Surprise ist auf dem Weg fremde Galaxien zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen. Viele Lichtjahre von der Erde entfernt dringt die Surprise mit ihrer spärlichen Besatzung in Galaxien vor, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat.

Eile ist geboten. Die Uhr zeigt schon fünf vor Zwölf und wir schaffen es gerade noch rechtzeitig bis zum Raumschiff. Vor Staunen gelingt es mir kaum, meinen Waschlappen Mund zu schließen. Immer noch in einem tranceähnlichen Zustand, setzt mein neuer Besitzer sich hastig mit mir in Bewegung und gemeinsam sprinten wir an Bord der Surprise. Keine Sekunde später passiert das Unfassbare. Leibhaftig stehen sie mir gegenüber: Mr. Spuck, die Vulkanette Vulgaris, die bis zu 444 Jahre alt wird und zur Gattung der Galapagos-Schildkröten gehört, der Steuermann Popowitsch und natürlich Schrotty, der erste Chefingenieur.

Aus dem Lautsprecher über uns ertönt eine kraftvolle Stimme:
„Hier spricht der Captain. Wie Sie alle wissen, ist das Ziel der Sternenflotte, fremde Planeten und Galaxien zu erkunden, diplomatische Missionen durchzuführen und unbekannte Lebensformen kennenzulernen. Heute führt uns unser Auftrag zum Leuchtstern »Frohe Weihnachten«, der im 4,34 Lichtjahre von der Erde entfernt liegenden Doppelsternsystem Alpha Centauri liegt, um eine Express-Lieferung an den Weihnachtsmann zuzustellen … ein Hard-Top der Marke »Schlitten-Komfort«.
Ende der Durchsage.“

Als wir mit dem Fahrstuhl, der uns flugs nach oben bringt, auf der Brücke eintreffen, bestellt Captain Jürgen Thorsten Kork gerade für alle eine Runde Käsesahnetorte – um der Crew den Flug mit Warp 11 so angenehm wie möglich zu machen und uns den Abschied von der Erde zu versüßen.

Und dann geht die Reise auch schon los! Leicht nervös sitze ich neben Spucky. In diesem Moment betritt Fräulein Bora-Bora, das langbeinige, rattenscharfe Barbie blonde Weltraum-Model mit den heißen Marilyn Monroe-Kurven, den Raum. Sie macht gerade Werbung für Pralinen, die mit dem Rosetto-Mohr ... versteht sich. Sinnlich lächelnd schwebt sie mit einladend schwingenden Hüften auf mich zu und hebt mir die kleine quadratische Schachtel unter die Nase.
„Na, mein Süßer. Auch mal kosten?“

In der Verführung des Augenblicks gefangen, heftet sich mein Blick auf ihr pralles Dekolleté und mal ehrlich, wer könnte bei so einem appetitlichen Anblick schon ernsthaft »Nein« sagen. Schließlich liebe ich Schokolade über alles … mhm.

Nachdem ich mir ein mit süßer zartcremiger Vollmilchschokolade überzogenes Praliné gegriffen und es genüsslich verdrückt habe, riskiere ich einen Blick auf den Schirm und sehe hinaus ins Weltall.
Unendliche Weiten … Der reinste »Dark Room«!

Bevor ich mir ernsthaft den Kopf darüber zerbrechen kann, wie es da draußen wohl ist, hebt Schrotty mich hoch und zusammen mit Captain Kork und Mr. Spuck üben wir für die anstehende Miss Waikiki-Wahl. Vom Captain zu mehr Disziplin ermahnt, stellen wir uns konzentriert in einer Reihe auf und trällern einstimmig im Chor: „Weil wir so schön sind, so schlau sind, so schlank und rank, wer ma Miss Waikiki – A shower to the left, A shower to the right, and don`t forget the »Willi« … zwei … drei … vier …

Die Zeit jagt dahin und noch während wir ausgelassen singen und uns im Hula-Hula üben, macht Steuermann Popowitsch den Captain darauf aufmerksam, dass die Surprise den Leuchtstern »Frohe Weihnachten« erreicht hat.

Schade eigentlich, denn schwuppdiwupp ist es vorbei mit der ungezügelten Heiterkeit. Eine ernste Miene an den Tag legend, gebietet der Captain uns Einhalt. Im Gänsemarsch verlassen wir hintereinander die Brücke Richtung Maschinenraum. Hier werden wir schon von Pulle erwartet, dem kompakt gebauten Albino Batman, der allzeit bereit seine Arzttasche unter den Arm geklemmt hat. Gemeinsam betreten wir die Beamplattform und dann heißt es auch schon: „Energie!“

Captain Kork, Mr. Spuck, Schrotty, Pulle und ich haben das Raumschiff kaum hinter uns gelassen und den Boden des Leuchtsterns »Frohe Weihnachten« betreten, da stürzt auch schon Santa Claus, ein rundlicher, freundlicher alter Mann mit langem weißen Rauschebart und einem mit rotem und weißem Pelz verbrämten Gewand mit ausgebreiteten Armen auf uns zu. Er strahlt wie ein Honigkuchenpferd und mit tiefer rauchiger Stimme, die einen an die alte schwere Glocke, die im Kloster zur Gebetsstunde ruft, erinnerte, begrüßt er uns mit den Worten: "SERVUS!"

Übertrieben freudig streckt Captain Kork ihm die Hand entgegen und redselig wie er von Natur aus nun einmal ist, verwickelt er Santa Claus in Windeseile in ein Gespräch. Noch während Santa Claus geduldig den nicht enden wollenden Redeschwall mit sichtlich gequälter Miene über sich ergehen lässt, gehen Spucky und Schrotty dazu über, das Hard-Top der Marke »Schlitten-Komfort«, eine Sonderanfertigung in kardinalrot-metallic mit seitlich verschraubten Reflektor-Streifen, aus dem Frachtraum zu hieven. Im Schweiße ihres Angesichts schleppen sie ächzend und stöhnend die imposante Konstruktion mit vereinten Kräften zu dem in unmittelbarer Nähe stehenden Schlitten, setzen es auf das mit zwei breiten Kufen ausgestattete Fahrgestell auf und beginnen mit der Montage.

Währenddessen mache ich mich mit Pulle, dem Weißkittel mit dem treuen Blick, auf den Weg, den Leuchtstern zu erkunden.

Unsere Entdeckungstour führt uns auf geradem Weg zur Wohnstätte von Santa Claus, ein im Landhaus-Stil errichtetes Holzhaus, vorbei an einer endlos scheinenden Reihe mehrstöckiger Spielzeug-Werkstätten bis hin zu den langen, ausladenden Ställen. Und siehe da, da stehen sie auch schon … die Rentiere des Weihnachtsmannes. In vorderster Reihe »Rudolph, the Red-Nosed Reindeer«.

Vorsichtig nähern wir uns. Behutsam, um Rudolph nicht zu erschrecken, streichle ich über seine rote Nase und drücke ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Gerne wäre ich noch länger so bei den Rentieren verweilt, aber plötzlich frischt ein eisiger Wind auf. Mich fröstelt und Pulle meint, es wäre nicht gut, wenn ich mir irgendwo im Nirgendwo einen Schnupfen hole.

Ein paar schnelle Handgriffe genügen und ich verschwinde in seiner warm gefütterten Daunenjacke. Schweren Herzens trete ich mit ihm den Rückweg an. Als wir an unserem Ausgangspunkt ankommen, ist das Hard-Top schon fest montiert. Pulle zieht mich hervor und ich bekomme gerade noch mit, wie Santa Claus mit ausladenden Schritten zu den Ställen stapft. Fürsorglich führt er seine Rentiere an der Leine zur Startbahn und spannt sie einen nach dem anderen vor den Schlitten.

Obwohl der Wind immer stürmischer bläst, lässt Santa Claus sich nicht von einem Probeflug abbringen. Mit einem Vertrauen erweckenden Lächeln auf den Lippen streckt er die Hand aus, hebt mich zu sich hoch, setzt mich neben sich auf den Beifahrersitz und klappt das Verdeck nach unten. Nachdem jeder angegurtet ist und die Heizung auf Volldampf läuft, bedient er sich des Mikrophones.
Laut dröhnt seine Stimme durch die unendliche Weite der Galaxis: „Dasher … Dancer … Prancer … Vixen … Comet … Cupid … Dunder … Blixem … Rudolph … auf geht`s! “

Auf Kommando setzen sich die Rentiere gleichmäßig schnell in Bewegung, fegen über die Startbahn und heben wie durch Zauberhand mit dem Schlitten vom Boden ab.

Was dann geschieht, übersteigt dann aber doch meine kühnsten Erwartungen. Denn Santa Claus entpuppt sich als richtiger Haudegen. Bravourös lenkt er das schnittige Gefährt durch Eis und Wind durch die nachtschwarze Unendlichkeit, fliegt Loopings und Doppel-Loopings.

WOW … WOW …. WOW … Also man muss schon sagen, der hat ganz schön PS unter`m Pony - der Ferrari des Weihnachtsmannes!

Rasant kurven wir ziellos durch die Galaxis. Zu meinem Bedauern findet unser gemeinsamer Probeflug nach einer Weile schneller ein Ende als mir lieb ist. Ginge es nach mir, ich könnte mich noch ewig so in die Lüfte erheben und mir den Orion-Nebel, den Andromeda-Nebel, die wunderschöne und einzigartige Weite des Universums ansehen.

Ich lasse den Kopf hängen und verstohlen kämpfe ich mit einer Träne, die von Santa Claus natürlich nicht unbemerkt bleibt. Aufmunternd klopft er mir auf die Schulter. „Nicht weinen, Kleiner. Bestimmt sehen wir uns eines Tages wieder. Doch bis es soweit ist, heißt es für mich: Hurtig, hurtig hinab zur Erden, denn es soll wieder Weihnachten werden!“

Traurig nicke ich, gebe dann aber doch mein Bestes, nicht zu enttäuscht zu wirken. Denn ich weiß, es naht die Nacht der Nächte und die Kinder auf der Erde warten schon ungeduldig auf ihre Geschenke.

Und so kommt es, wie es kommen muss. Die Crew tritt wieder die Heimreise an.

Doch wie so oft im Leben, steckt der Teufel im Detail. Nicht zum ersten Mal hat die Surprise wiederholt Schwierigkeiten mit dem Antrieb. Ein unerwartet auftretender Marderschaden macht Schrotty das Leben schwer.

Da kommt Mr. Spuck die rettende Idee – Ein Weltraum-Taxi!

Ohne auf grünes Licht vom Captain zu warten, ordert er kurzerhand über die Funkzentrale eine Kraftdroschke.

Riesengroß, leuchtend pink und mit der modernsten Aerospace-Technologie ausgestattet, werden wir abgeholt … von »Rock Fertig-Aus«, dem wohl coolsten Hengst unter den Taxi-Drivern. Er ist der Robin Hood des Universums, der Beschützer der Witwen und Waisen.

Wissbegierig wie ich nun einmal bin, will ich sofort genaueres in Erfahrung bringen.
„Wie jetzt?“ … »Rock Fertig-Aus«?“

Rock wirft mir einen genervten Blick zu und mir ist klar, ich bin ich nicht der Erste, der ihm diese Frage stellt. Aber mal so ganz unter uns … bei einem so crazy Namen hätte ich mir lieber die Zunge herausgerissen, als ihm nicht auf den Zahn zu fühlen.

Seine Stimme mit dem warmen Bariton-Timbre klingt leicht träge, als er sich zu einer Antwort herablässt: „Meine Exfrau heißt Fertig, ich heiße Aus, also Rock Fertig-Aus.“

Nachdem alle Klarheiten zur Zufriedenheit aller beseitigt sind, nehmen Captain Kork, Spucky, Schrotty, Pulle und ich auf der hinteren Sitzbank Platz und ab geht die wilde Fahrt. Damit der Trip zurück zur Erde für alle nicht zu langweilig wird, stimmen wir zum Zeitvertreib ein Liedchen an: „High, high, high to tigh, Space taxi to the sky! High, high, high to tigh, Space taxi to the sky … Come on … Feuersalamander. Macht Beine auseinander. Macht Beine wieder zu und raus bist du! – OH“

Rock wirft uns über den Rückspiegel einen seltsamen Blick zu, wirkt dabei irritiert, schweigt aber und setzt damit für uns das Zeichen, nach Herzenslust weiterzugrölen.

Als das Space-Taxi sich nach einer halben Ewigkeit endlich der Erde nähert, kreisen feindliche Kampfkeksgeschwader des Regulators um den blauen Planeten. Dem Universum sei Dank ist unser Driver ein erfahrener Kampfpilot und mit Mopsgeschwindigkeit durchbrechen wir die feindlichen Linien.

Unbeschadet setzen wir auf der Landebahn auf.

Der Magen knurrt, der Rachen fühlt sich nach dem schwulstigen Singsang an, als hätte er die nächste Dürreperiode nicht überlebt, schleppen wir uns mit letzter Kraft durch den Terminal zum Ausgang.

Freudig winkend werden wir dort von Schrottys jüngerer Schwester Lily-Rose begrüßt, die gekommen ist, um uns abzuholen. Liebevoll nimmt sie mich auf den Arm, drückt mich an sich und streichelt sanft über meinen Rücken.

Ach, wie ist das schön! Endlich wieder ein paar warme, weiche Hände auf meiner knubbeligen Haut.

In ihrem alten klapprigen VW Käfer bringt sie uns zu Schrotty nach Hause.
Wir essen, trinken und fallen am Ende müde und zu Tode erschöpft in die Federn. Tags darauf packt Lily-Rose mich kurzerhand in ihre quietschbunte Reisetasche und nimmt mich mit zu sich in ihr Appartement.

Jetzt lebe ich hier … frisch, duftend, zufrieden, rundum glücklich, mit einem ganzen Sack voller schräger Erinnerungen an mein Weltraumabenteuer mit der Crew der Surprise auf Leuchtstern »Frohe Weihnachten«.

Merry Christmas


© 2023 Joanna Bantry - Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, sowie des öffentlichen Vortrags. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren reproduziert werden.


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Kommentare zu "Waschi Waschlappen - und sein Abenteuer auf Leuchtstern »Frohe Weihnachten«"

Re: Waschi Waschlappen - und sein Abenteuer auf Leuchtstern »Frohe Weihnachten«

Autor: Alf Glocker   Datum: 04.08.2023 8:11 Uhr

Kommentar: Viel Spaß bei Lily-Rose!

Originelle Geschichte!
Kompliment!

Viele Grüße
Alf

Re: Waschi Waschlappen - und sein Abenteuer auf Leuchtstern »Frohe Weihnachten«

Autor: Angélique Duvier   Datum: 04.08.2023 15:25 Uhr

Kommentar: Super Geschichte!

Liebe Grüße,

Angélique

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