Wenn die Tage kürzer werden und abends schon sehr früh die Lichter brennen, dann weiß man: es wird wohl bald wieder Weihnachten sein. Meistens ist dieser Gedanke mit Erinnerungen an frühere Feste verbunden, zu denen der Duft von Weihnachtsplätzchen, Zimt und Kardamom ebenso gehörte wie die heimelige Stimmung, wenn Oma bei Kerzenlicht Geschichten erzählte. Groß waren dann die Augen der Kinder, und wie gebannt verfolgten sie die Erlebnisse erfundener Gestalten in tief verschneiten Landschaften und weihnachtlich geschmückten Häusern. Doch wenn das Glöckchen zur Bescherung rief, gab es kein Halten mehr, und Oma musste sich beeilen, um vom Weihnachtsmann noch ein bisschen mehr als die Nasenspitze zu sehen.

Auch bei uns zu Hause gab es in früheren Zeiten Weihnachtsfeste, an die ich mich gerne erinnere. Schon in der Adventszeit sorgte meine Mutter bei meinen Geschwistern und mir für eine ganz besondere, von gespannter Erwartung geprägte Stimmung. Liebevoll schmückte sie die Fenster mit Kerzen und Tannengrün und allerlei weihnachtlichem Zierrat, den wir Kinder immer wieder von Neuem bestaunten. Und auch an der Weihnachtsbäckerei mit ihren unnachahmlichen Düften nahmen wir regen Anteil, der uns zuweilen auch auf den Magen schlug.

Wenn schließlich die Zimtsterne, Vanillekipferl und das Spritzgebäck fertig in Dosen verstaut war, konnte das Weihnachtsfest kommen. Kurz vor Heiligabend besorgte mein Vater einen stattlichen Tannenbaum und stellte ihn im Wohnzimmer auf. Danach durften wir das dunkle Grün mit Kugeln und Lametta schmücken, und ich weiß noch, so als wäre es gerade gestern gewesen, wie stolz wir hinterher auf "unseren" Baum waren. Meine Mutter nahm uns anschließend an die Hand und führte uns in den Vorgarten, wo wir gemeinsam Teelichter aufstellten und anzündeten, damit der Weihnachtsmann auch den Weg zu unserer Haustüre fand. Dann verteilten wir noch kleine Äpfel und ein wenig Getreide auf dem Hof, damit sich das Rentier des Weihnachtmannes satt essen konnte, wie meine Mutter immer sagte. So weit ich mich erinnere, haben wir uns damals nie gefragt, wie sich denn der Schlitten des Weihnachtsmannes von der Stelle bewegte, wenn es keinen Schnee gab. Jedenfalls waren wir tüchtig damit beschäftigt, für das Wohl unseres Gastes zu sorgen. Wir waren natürlich neugierig, ob die Äpfel und das Getreide am nächsten Morgen wirklich verschwunden waren. Und der Weihnachtsmann hat uns tatsächlich nie enttäuscht. Manchmal fanden wir sogar noch angebissenes Obst, das uns restlos davon überzeugte, dass bei uns ein Rentier zu Besuch gewesen war.

Die Geschichte, die ich nun erzähle, hat sich tatsächlich so zugetragen. Die Ereignisse liegen schon eine ganze Weile zurück, aber ich habe sie noch sehr genau im Gedächtnis. Es war wieder einmal Weihnachtszeit. Das Fest stand vor der Tür, und wir Kinder waren wie benommen von der Stimmung, die sich im ganzen Haus über die Adventszeit hin verbreitet hatte. Mein Vater war bereits auf dem Markt gewesen und hatte einen besonders schönen Tannenbaum erworben, den er nun wie in jedem Jahr im Wohnzimmer aufstellte. Er hatte dabei einige Mühe, denn der dicke Stamm wollte nicht so recht in den Ständer passen, sodass er ihn mit der Säge noch zurechtstutzen musste. Doch dann war es soweit. Mit großem Eifer stürzten wir uns auf die glänzenden Kugeln und das Lametta und schmückten "unseren" Baum. Mit leuchtenden Augen verfolgten wir, wie mein Vater vorsichtig die Kerzen an den Zweigen befestigte und sorgsam darauf achtete, dass sie nicht herunterfallen konnten. Anschließend ging es in den Vorgarten, den wir wie in den Jahren zuvor gemeinsam mit meiner Mutter für unseren Gast, den Weihnachtsmann, vorbereiteten.

Als wir fertig waren, mussten wir im Kinderzimmer warten, bis uns das Glöckchen zur Bescherung rief. Dann rannten wir so schnell wir nur konnten die Treppe hinunter und beeilten uns, ins Wohnzimmer zu kommen, wo uns normalerweise meine Eltern bereits freudig erwarteten. Aber in diesem Jahr stand nur meine Mutter dort und stimmte, kaum dass wir bei ihr waren, "Oh Tannenbaum" an. Wir sangen inbrünstig mit, denn die Strophen dieses Liedes kannten wir auswendig. Nach dem letzten Ton klingelte es an der Haustür. Die Spannung wuchs ins Unermessliche, als meine Mütter öffnete und den Weihnachtsmann einließ, der mir in diesem Jahr irgendwie verändert vorkam gegenüber den vergangenen Jahren. Er trug denselben roten Mantel wie in jedem Jahr und dieselbe rote Mütze und denselben langen weißen Bart, der sein ganzes Gesicht zu überwuchern schien, aber irgendwie hatte er abgenommen und wirkte insgesamt etwas weniger füllig. Natürlich interessierten uns als Allererstes die Geschenke, die er für uns mitgebracht hatte, und der Weihnachtsmann freute sich auch sehr, dass nun der große Sack, den er mit sich herumschleppte, Gegenstand des allgemeinen Interesses wurde. Die Bescherung verlief kurz und knapp, und nach unserem höflichen "Dankeschön" und einem weiteren Lied verabschiedete sich unser Gast.

Ich erinnere mich noch sehr genau, dass ich damals zwei Spielzeugautos geschenkt bekam, ein rotes und ein blaues, und dass ich mich sehr darüber gefreut habe. Eins davon besitze ich heute noch und hüte es wie meinen Augapfel. An diesem Heiligen Abend spielten wir Kinder noch eine Weile auf dem dicken Wohnzimmerteppich, während meine Eltern - mein Vater war mittlerweile, so als sei er gar nicht fort gewesen, zu uns gestoßen - auf dem Sofa saßen und mit freudestrahlenden Gesichtern unsere selbst gemalten und gebastelten Geschenke betrachteten. Anschließend erzählte uns meine Mutter noch die Geschichte von Maria und Josef, der wir nur noch mit schläfrigen Augen folgen konnten. Es wurde spät, und schließlich gingen wir alle schlafen.

Ich weiß heute nicht mehr, was mich in dieser Nacht aus dem Bett trieb. Warum steht ein Kind, das normalerweise einen Schlaf hat wie ein toter Esel, mitten in der Nacht auf und irrt durch die Wohnung? Jedenfalls war es so, und das ist auch der Grund, warum ich diese Geschichte erzähle. Hätte ich damals durchgeschlafen, gäbe es diese Geschichte gar nicht. Ich stand also auf, stiefelte auf nackten Füßen die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und sah dort den Tannenbaum stehen, der jetzt im Dunkeln noch viel mächtiger aussah als bei Licht. Irgendetwas trieb mich in die Küche, vielleicht der verführerische Duft der Weihnachtskekse, die sich dort in einem der oberen Schränke befanden, damit wir Kinder nicht so leicht an sie herankamen. Ich erinnere mich nicht mehr daran. Doch ich weiß noch sehr genau, wie erschrocken ich war, als ich dort plötzlich den roten Mantel des Weihnachtsmannes sah, der schön ordentlich über der Lehne eines der Küchenstühle hing.

Nun könnte man viele Spekulationen darüber anstellen, was damals in mir vorging. Für mich stand allerdings eines fest: Der Weihnachtsmann übernachtete bei uns im Haus, davon war ich fest überzeugt. Es gab für mich einfach keine andere Erklärung. Ganz vorsichtig berührte ich den Mantel mit meinen Fingerspitzen, so als wäre es verboten. Für mich war er etwas ganz Besonderes, und ich überlegte, in welchem Zimmer in unserem Haus sein Besitzer wohl schlief. So viele Möglichkeiten gab es da ja nicht. Doch jetzt in der Nacht konnte ich unmöglich die Türen öffnen und nachsehen. Ich beschloss also, bis zum Frühstück zu warten, und legte ich mich wieder schlafen.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich natürlich gespannt wie ein Flitzebogen, ob ich den Weihnachtsmann noch antreffen würde. Aber meine Hoffnungen wurden herbe enttäuscht. Außer meinen Eltern und meinen Geschwistern war niemand zu sehen, und der rote Mantel war auch nicht mehr da.

Ich behielt mein nächtliches Erlebnis für mich und wähnte mich lange Zeit als Teil eines großen Geheimnisses, bis sich für mich ein paar Jahre später alles auflösen sollte. Mein Onkel, der in der Nachbarschaft wohnte, hatte bis zu diesem Jahr immer den Weihnachtsmann gespielt, aber er war krank geworden, und so musste mein Vater persönlich einspringen. Ich glaube das ja alles heute noch immer nicht so richtig. Warum sollte der Weihnachtsmann nicht auch mal müde gewesen sein und einfach bei uns zu Hause übernachtet haben?


© Ulrich Kusenberg


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