Im Cafe sitzen nur ein junges Pärchen und eine Gruppe Jungen.
Es ist Mittag und um diese Zeit nicht verwunderlich.
Der Mann, der durch die große Glastür hereinkommt hat ein ernstes Gesicht.
Er schüttelt den Kopf, um sich des noch ungetauten Schnees auf seinen Haaren zu entledigen und klopft seinen dunklen Mantel ab, auf dem das Winterwetter ebenfalls Spuren hinterlassen hat. Etwa Fünfzig scheint er zu sein und seine müden Augen schauen suchend nach einem Platz.
Die Seite auf der die fünf, offensichtlich Schüler einer nahen Schule, sitzen, meidet er. Sie sind sehr laut und die Kellnerin ermahnt sie schon zum zweiten Mal bitte etwas leiser zu sein. Für die nächsten fünf Minuten wird es Wirkung zeigen.
Der neue Gast entledigt sich seines Mantels und nimmt an dem noch einzig freien Tisch auf der Seite des jungen Paares Platz.
Nur einem kurzen Augenblick später ist die Kellnerin bei ihm und fragt nach seinen Wünschen.
„Guten Tag. Was darf ich Ihnen zu Trinken bringen? Möchten Sie auch etwas essen?“
„Ebenfalls einen Guten Tag,“ erwidert der Mann ihre Begrüßung und lächelt sie an. „Bringen Sie mir bitte ein Kännchen Kaffee und ein Stück von der lecker aussehenden Sahnetorte auf der rechten Seite der Kühltheke.“
„Kommt sofort.“ sagt das junge Mädchen mit dem langen schwarzen Rock und der weißen Bluse, an der ein kleines Schildchen mit ihrem Namen, Jaqueline und darunter Auszubildende zu sehen ist. Sie notiert die Bestellung auf einen Zettel und schenkt ihm, bevor sie zum Tresen zurückgeht ein freundliches Lächeln. Bemerken kann der Mann es nicht, denn er ist bereits damit beschäftigt, einen Briefumschlag zu öffnen, dem er zwei Baltt Papier entnimmt und vor sich ausbreitet.
Den Inhalt kennt er und doch liest er immer wieder die wenigen Sätze, als könnte er zwischen den Zeilen doch noch etwas finden, was ihm den Inhalt etwas erträglicher machte.
Es wird vergebens sein. Alles was dort steht, lässt keine Hoffnung mehr zu.

Das Gespräch des jungen Paares am Nachbartisch wird lauter.
Sie scheinen zu streiten.
Er vermeidet es zuzuhören. Viel zu gut kennt er selbst solche Auseinandersetzungen, die meist mit langen Zeiten der Sprachlosigkeit endeten.
Warum müssen Menschen, die sich doch eigentlich lieben, so oft miteinander streiten? Haben wir es wirklich verlernt behutsam miteinander umzugehen, andere Ansichten zu akzeptieren, auch wenn man es nicht gleich versteht?
Wie oft hat er sich diese Frage schon in den letzten Wochen gestellt? In den Wochen des Rückblicks auf das eigene Leben. Was hat er wirklich erreicht, warum es anderen und sich selbst manchmal so schwer gemacht?
Es ist zu spät, um etwas zu korrigieren. Einmal gesagte und geschriebene Worte gehören uns nicht mehr. Sie sind für andere bestimmt und die werden sie benutzen. Im schlimmsten Falle auch gegen uns selbst.

Seine Gedanken werden von der Kellnerin unterbrochen, die den bestellten Kaffee und den Kuchen bringt.
„Lassen sie es sich gut schmecken. Der Kuchen ist ganz frisch.“
Der Mann bedankt sich, gießt eine erste Tasse Kaffee ein, mischt Zucker und Sahne darunter.
Das Pärchen am Nachbartisch ist für einen Moment leise geworden. Beendet ist der Streit offensichtlich noch nicht, denn beide vermeiden es, sich anzuschauen und in ihren Gesichtern spiegelt sich die Verärgerung wieder.
Keiner scheint seine Meinung korrigieren zu wollen.
Die Schüler auf der gegenüberliegenden Seite des Gastraumes rüsten zum lautstarken Aufbruch.
Einer kickt mit dem Fuß den Rucksack eines anderen ein Stück von Tisch weg. Der revanchiert sich mit einem Schubser, der den Rucksacktreter in die Mitte des Raumes befördert. Lautes Gelächter der anderen begleitet ihn.
„Eh, du spinnst wohl, du Nazi!“ kommentiert der Gestoßene die Attacke. „Kommunistensau!“ lässt darauf der andere lautstark vernehmen. Die anderen gröhlen vor Lachen und keiner von ihnen hat wahrscheinlich die Bemerkung des Cafebetreibers wirklich vernommen, der ihnen ein „Los, raus hier“! und „Ich will euch hier nicht mehr sehen!“ hinterher ruft.

Im Raum ist es still geworden.
An den einzelnen Mann und das Pärchen gerichtet, versucht der Wirt eine Entschuldigung des Vorfalls.
„Tut mir leid, aber das passiert sonst nicht.
Doch an beiden Tischen sitzen Menschen, deren Probleme andere sind, als die des Cafebetreibers, auch wenn die Ereignisse der letzten Minuten ein wenig davon abgelenkt haben.

Der Mann hat inzwischen seine Schriftstücke wieder zusammengefaltet und begonnen den Kuchen zu essen, langsam und mit Genuss. Als er damit fertig ist, trinkt er den restlichen Kaffee aus der ersten Tasse und füllt sich eine zweite ein.
Wieder gibt er Zucker und Milch dazu und rührt länger als notwendig darin. Es scheint, als wüsste er nichts rechtes mit sich anzufangen.
Gedankenverloren blickt er durch die große verglaste Wand nach draußen auf die Straße.
Es ist Dezember.
Vier Tage verbleiben noch bis Weihnachten.
Vier Tage, die ausgefüllt sind mit den Vorbereitungen für ein Fest, von dem er weiß, dass es sein letztes sein wird.

Das Gespräch des Paares am Nachbartisch wird wieder lauter.
Es scheint um Erziehungsfragen zu gehen und um die Einmischung von Großeltern.
Die Meinungen der beiden sind starr. Keiner ist bereit einen Vorschlag zu machen. Sie argumentieren nur gegeneinander.
Dabei wäre es doch so einfach. Geht einen Schritt aufeinander zu, möchte der Mann den beiden sagen. Macht euch Gedanken wie es gehen könnte, nicht nur Vorhaltungen, was nicht möglich ist.
Sie sind noch so jung. Sie haben doch alle Zeit der Welt, füreinander. Warum alles im Streit zerreden?

Die Kellnerin kommt und fragt ihn, nach weiteren Wünschen.
„Ich würde gern zahlen,“ entgegnet er ihr.
„Einen Moment bitte.“
Nach einer Minute kommt sie mit einer Rechnung zurück und legt sie vor ihm auf den Tisch.
„Vier Euro und Vierzig bekomme ich.“
Der Mann reicht ihr einen 20 Euro-Schein mit der Bemerkung, dass das so okay sei und nickt ihr freundlich zu.
Das junge Mädchen ist sichtlich verwirrt. Hat sie das jetzt falsch verstanden oder vielleicht der Gast etwas verwechselt.
Sie wiederholt den Rechnungsbetrag und schaut den Mann fragend an. Der bemerkt ihre Unsicherheit.
„Das geht wirklich in Ordnung. Nehmens sie es. Danke für ihre Freundlichkeit und ihr bezauberndes Lächeln. Der Kuchen war übrigens ganz lecker.“
„Vielen Dank und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und ein schönes Fest,“ verabschiedet sich das Mädchen. Immer noch hält sie den großen Geldschein in der Hand, als glaubte sie nicht, was gerade passiert ist.

Der Mann steht auf, geht zum Tisch des jungen Paares hinüber und spricht die beiden an.
„Entschuldigen sie bitte meine Einmischung. Ich bin ungewollt Zeuge ihrer Auseinandersetzung geworden. Darf ich mich einen Moment setzen?“
Beide nicken überrascht.
„Es ist nicht meine Art, mich in fremde Angelegenheiten einzumischen. Ich habe heute etwas erfahren, was mein Leben sehr verändern wird. Das hat mich auch darüber nachdenken lassen, wie sorglos wir manchmal mit der wenigen Zeit umgehen, die wir füreinander haben. Stellen sie sich doch einfach mal vor, sie wüssten, dass in ein paar Wochen einer von ihnen beiden nicht mehr da sein wird. Würden sie diese verbleibende Zeit auch dann noch im Streit verbringen wollen?“
„Was meinen sie mit - Nicht mehr da sein?“
„Das es den anderen nicht mehr gibt. Ein Unfall oder eine schlimme Krankheit könnte einen ihnen sehr nahe stehenden Menschen für immer aus ihrem Leben reißen.“
„Nein natürlich würden wir dann nicht streiten, aber …!“ erwidert der junge Mann, doch er kann den Satz nicht beenden, weil der ältere ihn unterbricht.

„Kein aber! Woher wissen sie so genau, dass ihnen nicht doch nur noch diese wenige gemeinsame Zeit bleibt? Es gibt nichts Wichtigeres als sie selbst und den Menschen neben sich. Machen sie es beiden nicht so schwer.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest.“
„Danke! Ihnen auch.“ lassen beide etwas überrascht vernehmen und sehen dem Mann hinterher, der aufgestanden, seinen Mantel vom Haken genommen und inzwischen schon nach draußen gegangen ist.
Als er an der großen Fensterscheibe des Cafes vorbeigeht, sieht er die beiden sitzen. Sie schauen ihm durch die große Scheibe nach.
Flüchtig nimmt er noch wahr, dass die junge Frau ihre Hände über den Tisch zu ihrem Partner hin ausstreckt.
Er lächelt.
Auf dem Weg zur Tram wird er darüber nachdenken, was man in ein paar Wochen verbleibenden Lebens noch tun kann.
Seiner Familie wird er nichts von dem Befund sagen.

***

An Heiligabend nimmt in einer neu eingerichtete Küche eines kleinen Einfamilienhauses ein Mann seine Frau unvermittelt in den Arm.
„Ich liebe Dich Schatz und danke Dir für alles!“ sagt er leise.
Erstaunt blickt sie zu ihm auf.
„Ist das jetzt weil Weihnachten ist oder hast Du was angestellt? Das hast Du ja schon ewig nicht mehr zu mir gesagt.“ entgegnet sie lächelnd.
„Nein, ich hab wirklich nichts angestellt!“
„Dann lass mich mal das Abendessen weiter vorbereiten. Vor lauter Sentimentalität müssen wir ja nicht gleich verhungern. Es ist nicht mehr viel Zeit.“
„Ja, leider.“ murmelt er.
Seine Frau hört es nicht mehr, denn sie hat sich bereits aus seinen Armen gelöst und geschäftig Teller und Schüsseln bereitgestellt für ein gemeinsames Abendsessen mit ihrem Sohn, dessen Frau und dem zehnjährigen Enkel.
Ihre Tochter fehlt.
400 Kilometer Entfernung sind unter widrigen winterlichen Bedingungen für eine noch unerfahrene Alleinfahrerein mit dem Auto zu riskant. Das hatte sie ihre Eltern wissen lassen, sich für das Fernbleiben entschuldigt, um Verständnis gebeten und versprochen alles bei einem Osterbesuch nachzuholen.


© B. Bless


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Beschreibung des Autors zu "Der Brief"

Eine Geschichte über den Umgang mit der wenigen Zeit, die wir eigentlich im Leben haben, über Miteinander und Rücksicht.

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