Es war am Heiligen Abend. Der Christbaum stand bereits wie in jedem Jahr in der Ecke unseres Wohnzimmers, und draußen vor dem Fenster lag sogar ein wenig Schnee. Mein Vater war den ganzen Nachmittag über damit beschäftigt gewesen, den Baum mit Kugeln und Lametta zu schmücken, während meine Mutter in der Küche die Vorbereitungen für das weihnachtliche Abendessen traf. Opa saß zufrieden lächelnd in seinem Ohrensessel und fragte jeden, der ihm vor die Füße kam, ganz unbekümmert nach der genauen Uhrzeit. Seit einiger Zeit hatten wir bei ihm erste Anzeichen einer leichten Verwirrtheit bemerkt, doch er selbst schien damit gut zurechtzukommen. Manchmal meinte ich eine leichte Ähnlichkeit zwischen ihm und den beiden Goldfischen zu erkennen, die in ihrem Glas herumschwammen, ohne sich um die Außenwelt zu kümmern.

Als mein Vater schließlich die leeren Schachteln und Kartons wieder in den Keller geräumt hatte und sich voller Stolz mit einem gewissen Glanz in den Augen unseren Christbaum besah, fiel mir das Räuchermännchen ein, das mir meine Tante Helene im letzten Jahr aus dem Erzgebirge mitgebracht hatte. Es war ein kleines handgeschnitztes Männchen aus edlem Kiefernholz, buntbemalt und mit vielen liebevoll herausgearbeiteten Einzelheiten und stellte einen fahrenden Händler dar. Auf dem Rücken trug es eine mit Waren beladene Kiepe, und in seinem Mund steckte eine Pfeife. Das Oberteil des Männchens ließ sich abnehmen, um auf einer kleinen Blechschale im Innern einen Räucherkegel aufzustellen. Brachte man den Kegel in Glut und setzte das Oberteil wieder auf, so strömte aus dem Mund Rauch, und es sah so aus, als rauchte das Männchen. Ich war jedesmal von Neuem fasziniert und konnte stundenlang immer neue Räucherkegel anzünden, um dem Männchen beim Rauchen zuzusehen. Meist war der ganze Raum dann so vernebelt, dass man die eigene Hand vor Augen nicht mehr sah.

Ich holte also das kleine Räuchermännchen aus einer Schachtel, die ich in meinem Zimmer aufbewahrte, und stellte es unter dem Tannenbaum ins dichte Grün, das mein Vater dort ausgelegt hatte. Mein Opa fragte mich nach der genauen Uhrzeit, und mein Vater wandte sich beim Anblick des hölzernen Männchens naserümpfend ab. Da noch Zeit bis zur Bescherung blieb, zündete ich schon einmal den ersten Räucherkegel an und beobachtete den aufströmenden weißen Rauch, Marke “Tannenduft”. Meine Mutter, die mit einer guten Nase ausgestattet ist, rief schon nach kurzer Zeit aus der Küche, ob ich ihr das nicht in diesem Jahr ersparen könnte. Mich kümmerte es nicht. Ich schaltete das Radiogerät ein, und sofort erfüllten weihnachtliche Gesänge unser stilles Wohnzimmer. Opa schaute wieder einmal auf seine Armbanduhr und fragte mich nach der Zeit, bevor er mit geschürzten Lippen und weitausholenden Armbewegungen eine Posaune nachahmte, die jetzt im Radio zu hören war. Dass er dabei ganz und gar neben der Melodie und dem Takt lag, schien ihn nicht zu stören. Mich um so mehr. Deshalb schaltete ich das Gerät wieder aus und machte mich daran, einen zweiten Räucherkegel zu entzünden. Dann ließ ich mich Opa gegenüber in den Sessel fallen und genoss in aller Ruhe den aufsteigenden Tannenduft.

Auf diese Weise verging einige Zeit, die ich meinem Opa auf seine Bitte hin in einigen Abständen auf die Sekunde genau ansagte, bis schließlich der große Augenblick gekommen war. Vater betrat das Wohnzimmer, und ihm folgte meine Mutter. Beide waren in dem mittlerweile recht dicht gewordenen Nebel nur schwerlich zu erkennen, doch mühten sie sich redlich, ihre Plätze zu finden. Ich zündete das siebte Räucherkegelchen an, um die weihnachtliche Stimmung zu unterstützen, die nun aufkommen sollte. Zuerst sangen wir “Lasst uns froh und munter sein”, ein Lied, das Opa fälschlicherweise als Marsch auffasste und mit Pauken und Trompeten begleitete. Dann hielt mein Vater eine kleine Ansprache über Weihnachten und das Drumherum, während Opa zwischendurch unbedingt die genaue Uhrzeit wissen wollte. Unterdessen rauchte das kleine Räuchermännchen vor sich hin und nebelte uns beinahe unbemerkt ein. Mutter wollte vor der Bescherung noch ein Lied singen und stimmte “Oh du fröhliche” an, was meinen Opa veranlasste, aus nicht ganz ersichtlichen Gründen aufzustehen und den Raum zu verlassen. Mein Vater konnte ihn gerade noch beschwichtigen und dazu bewegen, wieder in seinem geliebten Ohrensessel Platz zu nehmen. Das Lied wurde abgebrochen. Währenddessen hatte das Räuchermännchen begonnen, immer dichter werdenden Rauch aus seinem kleinen Mund auszustoßen, und ging urplötzlich in Flammen auf.

Dann geschah alles sehr schnell. Meine Mutter stieß einen spitzen Schrei aus, als sie sah, wie der unterste Zweig des Christbaumes Feuer fing. Mein Vater handelte instinktiv. Er griff sich das Goldfischglas und löschte mit seinem Inhalt das Feuer. Opa fragte nach der Zeit, und im dichten Grün des Weihnachtsbaumes zappelten aufgeregt zwei Goldfische. Ich versuchte zu retten, was zu retten war, doch von meinem Räuchermännchen waren nur noch die Beine übrig, das Oberteil war vollständig abgebrannt. Die Goldfische schnappten unterdessen hilflos nach Luft und fühlten sich im Tannengrün etwas befremdlich. Ich besorgte schnell ein altes Einmachglas und schenkte ihnen heldenhaft ein neues Leben. Opa fragte mich ganz nebenbei nach der genauen Uhrzeit, und während ich die schwarz-verkohlten Reste meines Räuchermännchens betrachtete, antwortete ich: “Zu spät!”


© Ulrich Kusenberg


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Beschreibung des Autors zu "Das Räuchermännchen"

Eine Weihnachtsgeschichte, die ich in einer Schreibwerkstatt geschrieben habe.

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Kommentare zu "Das Räuchermännchen"

Re: Das Räuchermännchen

Autor: Normen   Datum: 28.01.2015 12:39 Uhr

Kommentar: Nachtrag: (Leider kann man Kommentare nicht bearbeiten)
Die richtige URL ist http://www.xn--ruchermnnchen-bfbg.eu

Re: Das Räuchermännchen

Autor: Normen   Datum: 28.01.2015 12:39 Uhr

Kommentar: Sehr schön geschriebener Text, mit einem nicht ganz so schönem Ende (das arme Räuchermännchen).

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