Wieder einmal war das Weihnachtsfest gekommen. Meine Eltern hatten am Heiligen Abend die ganze Familie zum Festtagsschmaus eingeladen, und so kamen sie alle: Willi, mein Bruder, der vor kurzem in eine andere Stadt gezogen war, um dort eine Stelle als Computerfachmann anzutreten, Gabi, meine Schwester, die in Süddeutschland studierte und sich nur alle Jubeljahre sehen ließ, Onkel Gustav, der sich in den Weihnachtsbräuchen auskannte wie Karl May im Wilden Westen und schließlich Tante Helene, die eine Vor-liebe für alte Lieder und Gedichte hegte. Von ihr stammte übrigens auch das Räucher-männchen, das im Jahr zuvor unglücklicherweise den Flammen zum Opfer gefallen war. Mein Opa, dessen Altersverwirrtheit in den vergangenen Monaten stark zugenommen hat-te, war vor drei Wochen verstorben. Zum Schluss erkannte er kaum noch jemanden, was mitunter zu großer Aufregung Anlaß gab.

Mein Vater war wie in jedem Jahr den ganzen Nachmittag über damit beschäftigt gewe-sen, den Christbaum mit reichlich Kugeln und Lametta zu schmücken, während meine Mutter bereits seit dem frühen Morgen in der Küche die Vorbereitungen für den großen Weihnachtsschmaus traf. Es sollte Pute geben, und das ganze Haus duftete schon verheißungsvoll nach dem braungebratenen Federvieh.

Als schließlich alle Gäste eingetroffen waren und mein Vater jedem einzelnen voller Stolz und mit dem gewissen Glanz in seinen Augen „seinen“ Christbaum gezeigt hatte, bat mei-ne Mutter uns schon einmal vorsorglich an die festlich geschmückte Tafel. Da noch etwas Zeit bis zur Vorsuppe blieb, zündete ich schon einmal die Kerzen auf dem Tisch an, um ein wenig weihnachtliche Stimmung zu verbreiten. Tante Helene nahm dies zum Anlass, ein Gedicht von Eichendorff vorzutragen, das sie noch von ihrer Schulzeit her kannte. Willi und Gabi verdrehten beinahe gleichzeitig ihre Augen, während das Gedicht kein Ende nehmen wollte. Meine Mutter, die für derartige künstlerische Vorträge nichts übrig hatte, rief schon nach kurzer Zeit aus der Küche, daß das Essen gleich fertig sei.

Nach sechzehn Strophen wußte Tante Helene nicht mehr weiter, auch wenn sie noch eine Weile in ihrem Gedächtnis kramte. Wir lobten sie alle überschwenglich, und sie bedankte sich mit einem alten Weihnachtslied aus dem 16. Jahrhundert, das offensichtlich jemand verfasst hatte, den die Langeweile plagte. Meine Mutter stand mittlerweile mit dem damp-fenden Suppentopf in der Küchentür, wagte es aber nicht aufzutischen, bevor Tante Helene zu Ende gesungen hatte. Es dauerte zwölf lange Strophen.

Schließlich kam die Suppe auf den Tisch, und ich hatte den Eindruck, daß sie bereits ein wenig erkaltet war. Mein Bruder erzählte lebhaft von seiner neuen Arbeitsstelle und daß es in seiner Firma ganz bestimmte Rituale gäbe, an die sich jeder Mitarbeiter zu halten habe. Onkel Gustav ließ sich das Stichwort nicht entgehen und begann von seinem Steckenpferd zu sprechen. Er bedauerte nachdrücklich, daß die heutige Jugend ja nichts mehr vom Ursprung des Weihnachtsfestes wisse, was meine Schwester allerdings weit von sich wies. Sie versuchte auch gleich, in knappen Sätzen die Weihnachtsgeschichte zu umreißen, während meine Mutter die Suppenteller zusammenstellte und sich um die Pute kümmerte. Onkel Gustav lächelte gütig über Gabis Bemühungen und unterbrach sie schließlich an der Stelle, wo die Soldaten Jesus verhafteten. Großmütig bot er an, uns Unwissen-den die Geschichte von Anfang an richtig zu erzählen, wobei er sich auf seine zahlreichen und fundierten Kenntnisse stützen wollte.

Mit Blick auf die knusprige Pute, die meine Mutter gerade samt zugehörigem Gemüse auf den Tisch stellte, baten wir ihn freundlichst, doch damit bis nach dem Essen zu warten, was ihn allerdings nicht davon abhielt, trotzdem zu erzählen. Mit weitausholenden Beschreibungen schaffte es Onkel Gustav, uns die Vorgeschichte zur eigentlichen weihnachtlichen Begebenheit in dem kleinen Stall in Betlehem deutlich zu machen. Tante Helene hatte vor Rührung bereits Tränen in den Augen, während Onkel Gustav gerade zum Kern der Geschichte vordrang. Die Pute dampfte vor sich hin und verströmte einen unwiderstehlichen Bratenduft, doch wagte es niemand, Onkel Gustav mit einer solch schnöden Tätigkeit wie dem Anschneiden und Verteilen des Geflügels in seinem Vortrag zu unterbrechen.

Mein Bruder bohrte in der Nase, was er schon früher oft getan hatte, wenn die Langeweile ihn überkam, meine Schwester starrte ausdruckslos an die Decke und mein Vater sah aus, als verhungerte er in den nächsten fünf Minuten. Sein Blick hatte sich an das gebratene Putenfleisch geheftet, während er ungeduldig auf die Geburt des kleinen Jesuskindes wartete. Onkel Gustav ließ sich Zeit und schmückte seine Erzählung mit viel Beiwerk aus. Doch schließlich kam er zum Ende und blickte voller Stolz und um Anerkennung hei-schend in die Runde. In diesem Augenblick galt unsere ungeteilte Aufmerksamkeit jedoch allein dem knusprigen Federvieh, das in der Mitte des Tisches gleichmütig und nur noch schwach dampfend darauf harrte, verzehrt zu werden. Mein Vater hatte bereits eine Gabel und die Geflügelschere zur Hand genommen und wollte gerade zum ersten Schnitt anset-zen, als Tante Helene vorschlug, noch gemeinsam ein Weihnachtslied zu singen. Da wir keinen der zahlreichen Texte beherrschten, setzte sie unvermittelt zum Solo an.

Dreizehn lange Strophen ließen wir über uns ergehen, bevor das Lied zu Ende war. Mein Vater hatte zwischendurch immer wieder die Geflügelschere zur Hand genommen, weil er nach jeder Strophe den Schluß des Liedes herbeisehnte. Schließlich behielt er sie in der Faust und stürzte sich unvermittelt auf die Pute, als Tante Helene den letzten Ton von sich gegeben hatte. Auf Grund seiner Ungeduld und der damit einhergehenden Unachtsamkeit schaffte er es aber nicht, das gebratene und nunmehr beinahe gänzlich erkaltete Federvieh zu zähmen. Unglücklicherweise rutschte die Gabel ab und stieß mit ziemlicher Heftigkeit auf den Rand der darunter befindlichen Platte. Die Pute machte trotz ihres Ablebens noch einmal einen Satz und rutschte - fettig wie sie war - über den festlich gedeckten Tisch. Dabei riß sie eine Kerze mit sich, die sogleich das gute Tischtuch in Brand setzte, das meine Mutter zur Feier des Tages aufgelegt hatte. Willi fand sich witzig, als er die Situation mit „dumme Pute“ kommentierte, doch Tante Helene bekam die Äußerung in den fal-schen Hals. Gekränkt warf sie ihre Serviette auf den Tisch und verließ den Raum. Onkel Gustav schaute Willi böse an und folgte ihr, während sich das Feuer auf dem Tisch ganz langsam zu einem kleinen Brand entwickelte.

Ich reagierte sofort und schüttete ohne zu zögern den Inhalt meines Weinglases über die Flammen. Zischend erlosch das Feuer und hinterließ einen kleinen Brand- und einen großen Rotweinfleck. Das Tischtuch war hin, und nun fing auch noch meine Mutter an zu weinen. Mein Vater, dem inzwischen alles egal war, angelte unterdessen nach der Pute, die so gar nicht zum übrigen Tischschmuck passen wollte. In diesem Moment stieß Hasso, unser allseits beliebter Bernhardiner die Tür zum Eßzimmer auf, erfaßte mit einem Blick die Situation und schnappte sich das knusprige Federvieh, um sich damit unter den Tisch zu verziehen.


© Ulrich Kusenberg


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Kommentare zu "Weihnachtsschmaus"

Re: Weihnachtsschmaus

Autor: Blue   Datum: 05.12.2011 16:18 Uhr

Kommentar: Sehr lebendig geschrieben... Ist Weihnachten überflüssig?

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