Mich zog es von der heimatlichen Nordseeküste zum Studium an die Westfälische-Wilhelms-Universität zu Münster/NRW – nicht wegen Germanistik, sondern weil ich durch einschlägige Informationen erfahren hatte, dass das dortige IfL, das Institut für Leibesübungen, die Hochburg des deutschen Universitätensports sei. Und ich studierte auch Sport.

Aber das Germanistik-Studium...!
Wahrlich passend zu meinem Studium prangte schon fast prophetisch seit dessen Beginn folgender Spruch von Kurt Tucholsky über dem Schreibtischchen meiner Studentenbude:
„Nichts ist schwieriger im Leben,
und nichts erfordert mehr Charakter,
als im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu stehen
und laut zu sagen: 'NEIN!'“

Naiv und blauäugig wie ich war, hatte ich angenommen, u.a. in die unerschöpflichen Geheimnisse deutscher Literatur und deren Vermittlung Schülern gegenüber – schließlich studierte ich „auf Lehramt“ - eingewiesen zu werden. Pustekuchen!

Hier wurde ich mit der Schief-, nein: Notlage des deutschen Bildungssystems erstmals knallhart konfrontiert.
Vermittlung von Ursachen, Begleiterscheinungen und Folgen bestimmter Literaturepochen?
Vermittlung von politischen, geisteswissenschaftlichen, philosophischen, religiösen Strömungen innerhalb einer Epoche? Nichts! Zumindest nichts, das über das in der Schule bereits Erlernte hinausging.
Vermittlung von Ursachen und Folgen bestimmter Werke?
Einblicke in Biografien von Autoren und deren Umfeld?
Vermittlung von Analyse-, von Interpretations-Ansätzen oder gar -Methoden?
Vermittlung von Vermittlung all dessen Schülern gegenüber? Nichts!
Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte von Lyrik, Epik und Dramatik und deren facettenreichen Verbindungen?
Vermittlung von korrekter Orthografie, Grammatik, Interpunktion, Syntax? (Haha! Kleiner Scherz am Rande!)
Epochenübergreifende Werke – möglicherweise in Verbindung mit historischen Bezügen, Ereignissen, Fakten? Ach, woher denn?
Kritische (!) Auseinandersetzung mit dem Heiligenschein unserer „Dichter und Denker“? Deutsche Klassik im Vergleich zu englischer, französischer, italienischer, spanischer Klassik?
Einflüsse anderer Kulturen auf unsere Sprache und Literatur?
Affinität zwischen Literatur und Politik? OK: Bei der Behandlung des „Hessischen Landboten“ wurden – hört! hört! - politische Unruhen in Hessen genannt. Wer hätte das gedacht?!
Im Deutschunterricht - mein Deutschlehrer war und bleibt das größtes Idol meines Lebens neben meinem Vater !!- war mein Interesse an der bewegenden und bewegten deutschen Literaturgeschichte geweckt worden. An der Uni erhoffte ich mir tiefere Einblicke und Überblicke, nein, war ich überzeugt, sie zu erhalten. Was aber lernte ich? Banales, oberflächliches, plattes lexikalisches Wissen.
Propädeutische Einführung beispielsweise in Vergleichende Sprachwissenschaft? Ebenfalls nichts.
Semester für Semester quälte ich mich durch langweiligste Vorlesungen, Pro- und Hauptseminare, deren Dozenten jahrein, jahraus mit null Kenntnis von Rhetorik, geschweige denn irgendwelchem Gefühl dafür, dass sie Zuhörer haben, ungestraft vor sich hinbrabbeln durften.

Leute, Profs ! Habt Ihr schon mal etwas von Körpersprache oder gar einem Kommunikationsmodell gehört? Das ganze Versagen deutscher Bildungspolitik offenbarte sich mir mit einem Schlage hier.
Warum? Das, was vor uns von stereotypen, roboterhaften, selbstgerechten, selbstgefälligen Doktoren und Professoren über Jahre und Jahre wiedergekäut wurde, hätte ich zu Hause in kompakter, gestraffter Form in zwei Jahren gelernt!
'Profs!', hätte ich nach zwei Semestern fordern müssen, 'gebt mir eine Liste mit dem zu lernenden Stoff! In zwei Jahren werde ich per Checkliste das Pensum abgearbeitet haben und gut vorbereitet zur Prüfung gehen!'
Stattdessen saß man in stickigen, großen, auch schon damals überfüllten Hörsälen, in denen die Hochgelehrten das Füllhorn ihrer zweifelhaften Weisheiten über uns ausschütteten.
'Leute, Profs! Hier sitzen Studenten, die Euch zuhören wollen oder müssen!', war ich oft genug geneigt zu schreien. 'Ändert einmal Euren Tonfall! Nehmt einmal Blickkontakt mit Euren Rezipienten auf!' Nix da! Schläfrig wie ihre Zuhörerschaft dozierten die Allgewaltigen apathisch-lethargisch vor sich hin.

Viele Leser (ja, ja, auch Leserinnen!) mögen den Sketch von Mr. Bean / Rowan Atkinson kennen, in dem dieser während der montonen Singsang-Predigt eines Pfarrers auf der vordersten Kirchenbank verzweifelt gegen seine sprunghaft zunehmende Müdigkeit kämpft, mal zu dieser, mal zu jener Seite sich neigt, mal nach vorn, man hinten zu kippen droht, in Ermangelung von Streichhölzern jeweils mit Daumen und Zeigefinger seine Augen weit offen hält, um letztendlich doch, vom Schlaf übermannt, nach vorn zu fallen und auf den Knien zu landen. Auch der Oberkörper neigt sich schließlich so weit nach vorn, dass die Stirn den Boden berührt und in dieser Haltung der Arme schlafend vorerst verharrt.
Alles klar?!

Nein, es ist nicht nur die Unkenntnis von Körpersprache, die ich verurteile! Vielmehr ist es der seit Jahrhunderten gut funktionierende „Nürnberger Trichter“: Irgendwelches von den Profs selbst einst angelesene, theoretische Halbwissen von inhaltlich fragwürdiger Relevanz wird den Studenten ins Hirn gehämmert. Friss oder stirb!
Forschung und Lehre? Nein! Allenfalls Forschung und Leere!
Seine Herrlichkeit, der Prof, ist von der gedanklichen Tiefe seiner Wichiwaschi-Reflexionen überzeugt. Ein Sakrileg, seine Thesen, seine Überlegungen in Frage zu stellen.
Und warum nun brabbelt der Gelehrte jahrein, jahraus triviales Zeug vor sich hin? Genau! Weil ihn wie den Lehrer an der Schule niemand kritisiert, geschweige denn kontrolliert!
Er befindet sich in einem Vakuum der Narrenfreiheit.
Sein Prof tat es auch schon so und dessen Vorgänger natürlich ebenfalls! Eben! Weil es schon immer so war. Aus exakt dem Grunde werden heute und weiterhin Hausaufgaben aufgegeben (die nachweislich - belegt durch jahrelange Studien - sinnlos sind, weil sie weder der Vor- noch der Nachbereitung dienen !!), erteilen die Lehrer bedenkenlos (!) Noten, wohl wissend, dass diese keinerlei Aussage-, geschweige denn prognostischen Wert haben!! Es war halt schon immer so!! Die da oben werden's schon wissen und richten!

Aktualitätenbezug mit dynamischen Power-Profs, kurz: mit Leben?!

Hallo, Kultusminister: Wann endlich reagiert Ihr auf Jahrzehnte langes Wehklagen aus allen Richtungen – ohne die üblichen hilflosen Aktionismus-Reförmchen?
Das Germanistikstudium hätte ich mir sparen können, wie erwähnt, durch viel Lesen im stillen Kämmerlein, mir das weitgehend nutzlose Wissen binnen kurzer Zeit angeeignet und mit Glanz und Gloria das Examen bestanden.
So aber musste ich mich von „Schein“ zu „Schein“ hangeln, in Klausuren und sonstigen Arbeiten das zum Besten geben, von dem ich hoffte, dass es des prüfenden Profs Herz erfreue.
Ja, natürlich! Goethes „Werther“ ist spitze, unerreicht, nicht kopierbar! Zufrieden?
Wann endlich wacht Ihr auf und füllt das Universitätsstudium mit realitätsnahem Inhalt ? Selbstverständlich gibt es im theoretischen Bereich kaum Wichtigeres als den legendären Theaterstreit zwischen Gottsched und Lessing! Klar!
Oh ja, Eure Hoheit! Nichts ist in der westlichen Hemisphäre relevanter als Kants Kategorischer Imperativ!
Ay, ay, Sir! Nichts Größeres existiert in der deutschen Dichtung als der Minnesang des Hohen Mittelalters!
Aber natürlich wird die Rolle von Martin Opitz auch heute noch permanent verkannt! Da gebe ich Ihnen völlig Recht!
Ja ja, die Arkadische Dichtung im Barock ist auf jeden Fall ebenso bedeutend wie die Funktion des Alexandriner-Sonetts. (A propos Arkadische Dichtung: Wie wurde sie nochmal von meinem Deutschlehrer abgekanzelt: „Selbst das Blöken der Schafe wird personifiziert!“)

Wie bitte? Was in der Welt passiert? Ach, Herr Dozent, Herr Professor, was interessieren mich die Studenten-Unruhen, die Hippie-Bewegung, der Vietnamkrieg, solange Sie mir verklickern, welches nicht zu unterschätzende Gewicht die mittelhochdeutsche Lautverschiebung hat!!
Ja, draußen passiert wirklich Schreckliches: Minirock, Anti-Baby-Pille, Robert Kennedy, Martin Luther King erschossen. Die Welt ist verwahrlost: Hören Sie sich nur die Beatles und die Stones an. Und dann auch noch: „Let's go to San Francisco“? Nein, let's go to Herrn Professor.
Kommune Eins, Walter Langhans, Fitz Teufel, Uschi Obermeier, Hannes Wader, Insterburg & Co., Reinhard Mey, Franz Josef Degenhardt...was interessieren uns Rudi Dutschke, Benno Ohnesorg, Mao Tse-Tung, Ho Tshi-Minh (zugegeben: auch ich marschierte in den Zwölferreihen mit und skandierte „Ho – Ho – Ho Tshi-Minh!“), solange wir an Ihren Lippen hängen dürfen, um von Ihnen zu erfahren, dass Ihr Verständnis von Brentanos Gedichten das einzig richtige sei.
Ja, selbstverständlich, mein Gebieter, mein Wegweiser in die Zukunft, es gibt, sei's drum, kaum Größeres als Sebastian Brants „Narrenschiff“, und wenn draußen binnen dreier Wochen nebensächliche Ereignisse wie Mondlandung und Woodstock die Welt bewegen, so haben diese Events vor den Universitätstüren gefälligst Halt zu machen! Jawoll, ja!
(Indessen: In der Schule bekamen wir sogar einen Tag frei, um dem „Wunder von Lengede“ live beiwohnen zu können.)


Das Leben an und in der Universität wäre kalt und steril geblieben, saft- und kraftlos, wenn wir nicht gewesen wären, wir, die Studenten, die 68er-Generation, vor der unsere Eltern uns immer gewarnt hatten.
Nichts konnte der Lehr-, der Vorgehensweise der Profs etwas anhaben: Sie zogen unreflektiert ihren tradierten, althergebrachten, zur Leblosigkeit erstarrten Stoff durch, hinterfragten nie die Qualität ihrer Vorlesungen – und das, obwohl ihr sträflicherweise verbreitetes Wissen auf die geisteswissenschaftliche Müllhalde längst vergangener Jahrhunderte gehörte:
„UNTER DEN TALAREN DER MUFF VON 1000 JAHREN!“
Nochmals – und es kann nicht oft genug betont werden: Ohne uns Studenten hätten die Profs weiterhin bis zur gesegneten Pensionierung Triviales unkontrolliert vor sich hinbrabbeln können. Durch unser Aufbegehren jedoch geriet ihr Status, ihr Nimbus des Unantastbaren ins Wanken: In tumultartigen Szenen sahen sich die Lehrgötter plötzlich kritischen, jungen Menschen gegenüber, die nicht nur das ihnen vermittelte tote Wissen hinterfragten, es nicht mehr tolerierten, sondern darüber hinaus die gnadenlose Bombardierung vietnamesischer Dörfer in den Hörsälen thematisieren, reflektieren, problematisieren wollten: GIs raus aus Vietnam!
(Nicht in unseren schlimmsten Befürchtungen hätten wir damals erahnen können, dass wir 40 Jahre später fordern würden: Deutsche raus aus Afghanistan!)

Meine Neigung, mein ständiger Drang, Frustration und Demotivation durch das Deutsch-Studium in recht dauerhaften Joints im wahren Wortsinn zu ersticken, war grenzwertig. Doch zum Abbau der durch die Germanistik-Studien hervorgerufenen Aggressionen hatte ich ja glücklicherweise noch meinen mir viel Physis abverlangenden Sport, respektive das entsprechende Studium.
Dennoch: Den Freuden des Studentenlebens zu huldigen, war nicht nur Recht, sondern geradezu Pflicht: „Blow Up“, „Tanz der Vampire“, „Spiel mir das Lied vom Tod“ und „Vier Fäuste für ein Halleluja“ waren ebenso Muss-Programm wie durchzechte Nächte in den einschlägigen Studentenkneipen und sit-ins in kommunenähnlichen WGs – Ventilfunktion für die graue Theorie des Studiums!

„Komm, schieb' mal noch n Joint rüber !“



PS: veröffentlicht in diversen Fach-Zeitschriften, aber auch im Programm-Heft des damaligen (und wieder neu inszenierten) Musicals "Hair"

PPS: Ich bedanke mich beim hiesigen Support und bei mycrissy für ihre unendliche Hilfe und Geduld bei der für mich technisch höchst anspruchsvollen Herausforderung, überhaupt in dieses Schreiber Netzwerk zu gelangen - ganz zu schweigen von dem weiteren Problem, wo Texte zu verfassen seien.

Kleist-Fan, Techno-Phobiker


© Kleist-Fan


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