Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

ich habe in meinem Freundeskreis einen Journalisten, der vor Kurzem an einer Recherche über Obdachlosigkeit gearbeitet hat. Von ihm habe ich viel über dieses Thema erfahren, was mir bisher gar nicht so recht bewusst war.

Ich möchte nicht im Einzelnen auf das Leid und die oft unmenschliche Situation dieser armen, ihrer menschlichen Würde beraubten Menschen eingehen. Sie könnten es sich am einfachsten vorstellen, wenn Sie sich einmal selbst für eine Nacht bei 10 Grad unter Null unter eine Brücke legen, nachdem Sie schon zwei Tage nichts in den Magen bekommen haben als ein Schluck klares Wasser aus einem öffentlichen Brunnen. Für Ihre sonstigen Bedürfnisse haben Sie sich nachts in den Wald oder heimlich in das zufällig offene Dixieklo einer Baustelle geschlichen.

Dieser Journalist hat mir berichtet, dass die Anzahl der Obdachlosen beispielsweise in der nicht unbedingt bitterarmen bayerischen Stadt München ca. 9000 beträgt. Wer nicht völlig empathielos ist, muss zwangsläufig zumindest hin und wieder darüber nachdenken, wie diesen armen Menschen wirksamer geholfen werden kann. Freiwillige Helfer, ehrenamtliche Mitarbeiter bei der „Tafel“ oder anderen sozial tätigen Vereinen tun das ja bereits täglich, doch deren Bemühungen reichen natürlich bei weitem nicht aus. Auch die Kirche predigt es von den Kanzeln, dass der Herr am Ende den Armen, Mühseligen und Beladenen weiterhilft, sie auffängt in seinen warmen, göttlichen, behütenden Armen.

Pfarrer wissen in ihren Predigten durchaus, wie herrlich der Herr ist, wo und wie genau dieser jedoch seine Arme ausstreckt, ist ihnen in der Regel unbekannt. Wie den vielen Obdachlosen zu helfen ist, können sie klar und präzise auch nicht sagen. Dass eine Predigt keinen Magen füllen kann oder die nächtliche Außentemperatur senken, ist natürlich dem einen oder anderen Mitglied dieses klerikalen Bodenpersonals durchaus bewusst. Aber das mündet trotz der Herrlichkeit der von der Kanzel gesendeten Botschaft selten in konkrete Maßnahmen.

Ich habe lange darüber nachgedacht, welchen Rat man diesen gutwilligen Hirten geben kann. Und wie so oft lag die Lösung in unmittelbar greifbarer Nähe.

Warum öffnet die Kirche ihre Gebäude nicht nachts für die Obdachlosen? Nehmen wir wieder München als Beispiel. Auf die 9000 Obdachlosen in dieser Stadt kommen 277 Kirchen. Pro Kirche wären das ca. 32 Personen. Es könnten also nicht nur die coronabedingten Abstände eingehalten werden, sondern es würde auch ein einziger Ordner ausreichen, um nach seinem Dienst als Türsteher vor einer Disco schon durch seine bloße Anwesenheit zu verhindern, dass die Obdachlosen nicht etwa heimlich vom Messwein naschen, zwischen den unbequemen Sitzreihen ihr großes Geschäft erledigen oder gar eine der dekorativen Heiligenfiguren entwenden. Etwas anderes trauen die Pfarrer in der Regel den Angehörigen dieser Unterschicht ja ohnehin nicht zu.

Ich bin sicher, dass mein Vorschlag bei sämtlichen Pfarrern in ihrer unendlichen Empathie und ihrem warmherzigen Verständnis für die Armut dieser Welt auf offene Ohren und spontane Begeisterung stoßen wird.

Liebe Studierende, wenn Sie also demnächst an einem obdachlosen Bettler vorbeikommen, seien Sie sparsam mit Ihren Münzen und Ihrem Mitleid. Für sein Wohl und seine Würde ist vonseiten der Kirchen bestens gesorgt.

Ich danke ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Über Hilfe für Obdachlose (Episode 33)"

Ein neuer Vortrag des (möglicherweise mit Recht) kritischen Querkopfes Professor Anatol Schwurbelzwirn

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Kommentare zu "Über Hilfe für Obdachlose (Episode 33)"

Re: Über Hilfe für Obdachlose (Episode 33)

Autor: possum   Datum: 13.07.2020 2:00 Uhr

Kommentar: Ja es ist zum Kotzen, wieviele Menschen ohne Unterkunft sind und es werden immer mehr, auch in den sogenannten ... reichen Ländern ....
Toll ist dein Werk lieber Peter,
lieben Gruß!

Re: Über Hilfe für Obdachlose (Episode 33)

Autor: Kleist-Fan   Datum: 23.09.2020 17:28 Uhr

Kommentar: Ich danke meinem Namensvetter für seinen berührenden, bewegenden und gleichermaßen erschütternden Beitrag.

Herzlichen Gruß - Kleist-Fan

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