Wie erleichtert sie doch gewesen sei, seufzt Frau Kerner, als die Crème Brûlée endlich verzehrt gewesen sei. Wie sie aufgeatmet habe, als der Wein getrunken war. Obgleich es selbstredend verschwenderisch gewesen sei, den guten Rosé anzubieten. Und überhaupt sei er ja erst zwölfjährig gewesen, der kleine Junge, doch nun müsse man ja auch mal ein Auge zudrücken können; der Junge sei wohl mehr gewohnt als alle Kopfschmerzen der Welt, komme er doch aus diesem grauenhaften Krieg, diesem schrecklichen, diktatorischen Land.
Welches Land sie denn meine, fragt Herr Kerner.
Rums, und die Spülmaschine ist zu.
Sie wisse ja doch auch nicht jede Kleinigkeit dieses Burschen, verteidigt sich Frau Kerner. Wohl ein Land, in dem man keinen Batíso kenne, so wie er ihn sich einverleibt habe. Doch angesichts seiner Herkunft könne er ja nichts dazu, setzt sie ein wenig zu forsch dahinter.
Rums, auf ist die Spülmaschine. Und plong!, der nächste Teller. Wenn das mal keine Kratzer gibt, schimpft Frau Kerner. Wie er auch geschnitten und gegabelt habe. Und diese Haltung!
Naja, aber im Kanonengehalle sei es ja nun verständlich , dass er nicht an Haltung denke.
Ob sie wirklich glaube, dass es so schlimm gewesen sei, fragt Herr Kerner.
Nun, so bestialisch wie er das Poulet á la broche zerlegt habe, könne es ja kaum gewesen sein.
Nun werde sie aber auch gemein, ruft Herr Kerner sie zur Ruhe.
Den Ofen, den Ofen solle er noch putzen.
Ein Rascheln. Das Backpapier zerknüllt in seinen Händen.
Wie Tom auch nur immer an diese Freunde komme, sagt Frau Kerner. Sonderbar. Fremd. Und anders. Doch das sagt sie nicht.
Beim Spielen am Bolzplatze hätten sie sich getroffen, wirft Herr Kerner ein. Er wohne ja nur auf der anderen Seite der Straße.
Eine Schande sei es, redet sich Frau Kerner in Rage, dass die ganze Schiller-Schule pausiert sein müsse. Obgleich es natürlich wichtig sei, den Asylanten eine Übergangslösung zu bieten. Aber diese Lösung sei ja nun wirklich suboptimal.
Sie solle sich nicht so aufregen. Der Unterricht finde ja nun in der Konstanzius-Schule statt, nur die Straße hinauf, kein großer Weg, kein großer Unterschied.
Es sei nicht gut für Tom, entgegnet Frau Kerner. Der Junge brauche nun mal seinen gewohnten Lebensraum, Altbekanntes, an dem er sich festhalten könne. Und das ist nicht dieser fremde neue Freund. Doch das sagt sie nicht, sie denkt es nur mit einem leichten Anflug von Beschämung.
Dieser Junge, der seit Wochen in dieser alten Schule lebe. Schlafend mit zwölf anderen in einem Raume. Sowas könne einem doch nicht geheuer sein. So könne doch kein normaler Junge gedeihen.
Denkt sie. Sagt sie aber nicht.
Tom aber, ihr Sohn, versteckt im Halbdunkel des Treppenabsatzes, denkt sich seinen Teil und tappt betrübt und gebrochener Heiterkeit gesunkenen Kopfes in sein Zimmer. Der auf einmal kalte Teppich scheint ihn nicht mehr weich und warm aufzunehmen; er stößt ihn ab, hart und unnachgiebig. Vom Bette aus sieht Tom direkt auf seine alte Schule. Groß, dunkel, einschüchternd wird sie plötzlich, kein Platz mehr, an dem man sich wohl fühlen kann. Im zweiten Stocke brennt noch Licht, er kann es genau sehen, und von hier aus sieht er direkt auf das Fenster seines jungen Freundes. Ein letztes Mal noch gleitet Tom vom Bett. Schleicht zum Fenster, leise, damit die Mutter es nicht bemerke. Stützt sich am Fensterbrett nach oben. Und da sitzt er auch, der Junge, der Fremde, am Fenster, gegenüber von Tom, wie jeden Abend. Tom sehend, erhellt sich sein Gesicht, lächelnd, strahlend.
Dieses Mal zieht Tom den Vorhang zu. Sprintet zurück ins Bett, die Decke über dem Haupt, schwer atmend.
Und der Junge saß die ganze Nacht am Fenster. Doch am nächsten Morgen war er weg.


© Verena Elbeshausen


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Kommentare zu "Auf der anderen Seite der Straße"

Re: Auf der anderen Seite der Straße

Autor: noé   Datum: 17.12.2013 16:56 Uhr

Kommentar: Fesselnd!
Adventgruß von noé

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