Der alte Esel und der gute Zauberer

Diese Kurzgeschichte schrieb der Autor Heinz-Walter Hoetter (Heiwahoe)



Es war einmal ein alter Esel, der stand mit tief gesenktem Kopf und traurigem Blick am Rande eines kleinen Dorfes in der heißen Sonne. Er döste schon die ganze Zeit wie benommen vor sich hin. Und weil er wegen seines hohen Alters meistens schwach und müde war, konnte er die ihm aufgebürdeten Lasten nur noch unter großen Anstrengungen mühevoll und schleppend tragen.

Er blieb deshalb oft stehen und trottete manchmal mit letzter Kraft und matten Beinen qualvoll dahin. Und weil das so war, schimpfte sein böser Besitzer auch jedes Mal ganz schlimm über ihn, schlug dann mit einem harten Stock auf sein zerfetztes Fell ein und drohte ihm ständig damit, dass er ihn eines Tages in die Abdeckerei bringen werde, wo man ihn einschläfern und schlachten würde. Außerdem sei er zu einem nutzlosen Esser geworden, weil er zu nichts mehr richtig taugte. Der Esel bekam es jedes Mal mit der Angst zu tun, wenn er von seinem Besitzer wieder mal gepeinigt wurde. Also riss er sich so gut er konnte zusammen, tat ohne Murren seine schwere Arbeit, auch wenn es ihm nicht immer so recht gelingen wollte. Was sollte er sonst tun?

Da kam eines Tages ein guter Zauberer des Weges und fragte den alten Esel danach, wie es ihm denn so gehe. Der Esel wunderte sich darüber, dass ein Mensch mit ihm plötzlich reden konnte und ihn sogar obendrein noch verstand.

„Wer bist du, dass du mit einem Esel sprechen kannst?“ fragte er den Mann mit dem langen schwarzen Mantel, der direkt vor ihm stand und einen weiten Schlapphut auf den Kopf trug, den er tief in seine faltige Stirn gezogen hatte. Zudem trug er noch einen langen Wanderstab in der rechten Hand, der knorrig und verbogen aussah.

„Ich bin ein guter Zauberer und kann mit allen Tieren sprechen. Ich gehe schon seit undenklichen Zeiten durch die Welt des Menschen und beobachte ihr Tun und Lassen. Wenn ich irgendwo ein Übel sehe, schreite ich ein und helfe gerne, um es zu beseitigen. Ich habe deinen bösen Besitzer eine Zeit lang beobachtet, wie er dich immerfort so niederträchtig und abscheulich behandelte. Er hat dich oft übel beschimpft und geschlagen, obwohl du schon so viele Jahre für ihn treu und hart gearbeitet hast. Jetzt bist du alt und schwach geworden und kannst nicht mehr. Er droht dir damit, dich schlachten zu lassen, obwohl du für ihn immer gute Dienste erbracht hast. Noch nicht einmal das Gnadenbrot gesteht er dir zu. Deshalb frage ich dich, ob ich dir irgendwie helfen kann. Ich kann dir jeden Wunsch erfüllen, den du mir gegenüber äußerst. Meine Zaubermacht ist groß und unbegrenzt.“

Der alte Esel blickte den Zauberer verwundert an und dachte eine Weile nach. Dann sagte er plötzlich: „Ich wünsche mir, dass du meinen Besitzer in einen alten Esel verwandelst und mich zu seinem Besitzer machst. Das soll so lange gehen, bist du hier an diesen Ort wiederkehrst. Dann möchte ich, dass alles wieder so wird, wie zuvor.“

„Das ist für mich überhaupt kein Problem“, sagte der gute Zauberer und schlug kurz danach dreimal heftig mit seinem krummen Zauberstab auf den staubigen Boden, aus dem plötzlich ein greller Blitz schoss, der die Umgebung in ein gleißend helles Licht tauchte. Im Nu hatte sich der Wunsch des alten Esels erfüllt. Die Rollen hatten sich ins Gegenteil verkehrt. Der alte Esel war jetzt der Besitzer und der Besitzer der alte Esel. Kurz darauf verschwand der gute Zauberer, als hätte es ihn nie gegeben.

***

Die ganz Nacht hindurch war Regen gefallen. Der alte Esel stand da mit trübe geneigtem Kopf. Sein Besitzer hatte ihn einfach draußen stehen lassen und sich nicht weiter um ihn gekümmert. Sein graues Fell war völlig durchnässt und mit Matsch verdreckt, weil er irgendwann nicht mehr stehen konnte und sich einfach auf den durchweichten Lehmboden gelegt hatte. Erst kurz vor Morgen war er dann wieder aufgestanden, denn sein Besitzer sah es nicht gern, wenn er faul herum lag. Jetzt aber knurrte sein Magen vor lauter Hunger. Doch sein Futter bekam er auch diesmal wieder nicht. Also fraß er das, was er in seiner unmittelbaren Umgebung so an Essbarem fand.

Als die ersten Sonnenstrahlen schließlich ihren Weg durch die abziehenden Regenwolken brachen, erschien plötzlich sein Besitzer. Ängstlich hob der alte Esel seinen Kopf und erschrak, als er den großen, harten Stock in der rechten Hand des Mannes sah. Kaum stand er vor ihm, schlug er auch schon auf das wehrlos da stehende Tier ein. Dann schrie er mit zornesrotem Gesicht: „Was für ein fauler Esel. Steht hier die ganze Zeit nur herum, obwohl es genug Arbeit gibt. Ich werde dir gleich Beine machen! Heute müssen wir Kartoffel in die Stadt karren. Wenn du schlapp machst, bringe ich dich sofort in die Abdeckerei und kaufe mir von dem Geld einen neuen Esel. Los, los, hoffentlich wird’s bald!“

Der Besitzer hob drohend den Stock und machte Anstalten, als wolle er wieder zuschlagen. Dann riss er den alten Esel fort und zerrte ihn zum bereitstehenden, zweirädrigen Holzkarren, belud diesen randvoll mit dicken Kartoffeln und trieb den alten Esel mit dem schweren Gespann zum Dorf hinaus.

Es war schon fast Mittag, die heiße Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel herab und man konnte am fernen Horizont bereits die ersten rot leuchtenden Dächer der großen Stadt sehen.




Doch plötzlich bockte der alte Esel und wollte partout keinen Schritt mehr weitergehen. Er hatte einfach keine Kraft mehr und konnte sich kaum noch auf den zitternden Beinen halten. Sein Besitzer war darüber so erbost, dass er mit dem harten Stock jetzt gnadenlos und ohne Unterlass auf ihn einschlug. Er wollte unbedingt, dass sich der störrische Esel endlich wieder in Bewegung setzt. Aber es half nichts. Im Gegenteil. Das geschundene Tier stieß plötzlich einen lauten, jämmerlichen Schrei aus, brach schlagartig zusammen und streckte schließlich alle vier Läufe von sich. Der alte Esel war tot. Kurz darauf stürzte die Holzkarre um, und die gesamte Kartoffelladung verteilte sich über den holprigen Weg.

Fassungslos stand der Besitzer da und konnte einfach nicht begreifen, was soeben geschehen war. Überall lagen seine schönen Kartoffeln herum. Er machte sich zwar große Vorwürfe, weil er es offenbar mit der Strafe an seinem Esel zu weit getrieben hatte, doch Mitleid empfand er nicht.

Schließlich riss er sich zusammen, marschierte allein des Weges weiter und erreichte schon bald die große Stadt, wo er sich sogleich einen neuen Esel kaufte und mit ihm zusammen schleunigst an den Ort des Unglücks zurückkehrte. Dort angekommen, spannte er das neue Tier sofort vor den aufgerichteten Holzkarren, lud die herumliegenden Kartoffeln auf den Wagen und fuhr damit in Stadt, wo er die Erdäpfel alsbald mit gutem Gewinn auf dem Markt verkaufte. Am nächsten Tag holte er den toten Esel ab, der immer noch leblos am Wegesrand lag, warf ihn auf den Holzkarren und brachte ihn in eine Abdeckerei, die sich mit der Beseitigung und Verwertung von Tierkadavern beschäftigte. Auch dafür bekam er noch einmal einen kleinen Batzen Geld. Zufrieden kehrte er später in sein Dorf zurück und tat so, als sei gar nichts geschehen.

***

Es war noch kein Jahr vergangen, da erschien der gute Zauberer wieder bei ihm.

„Hier bin ich wieder, mein Freund. Du hast es dir so gewünscht. Es wird Zeit, dass ich dich nunmehr in den alten Esel zurück verwandle, der du vorher gewesen warst. Mein Zauber kann aus gewissen Gründen nicht ewig währen. Alle Dinge müssen früher oder später wieder an ihren richtigen Ort zurück.“

Der verzauberte Esel in der Gestalt des Besitzers bekam es auf einmal mit der Angst zu tun, weil er um sein Leben fürchtete. Deshalb berichtete er dem Magier davon, welch schreckliches Unglück ihm mit dem alten Lasttier unterwegs auf dem Weg in die Stadt zugestoßen war. Von den brutalen Schlägen sagte er ihm nichts, weil er sich vor dem Magier selbst in kein schlechtes Licht stellen wollte.

„Ich weiß, ich weiß“, sagte der gute Zauberer und fuhr mit rollender Stimme fort: „Nun, ich war der alte Esel, den du zu Tode geschunden hast. Ich stellte mich aber nur tot und konnte mich aus der Abdeckerei durch die Macht meiner Zauberkünste sehr schnell wieder befreien. Trotzdem war es auch für mich eine schmerzhafte Erkenntnis. Leider musste ich aber feststellen, dass du auch kein Deut besser warst, als dein Besitzer, der dich dein ganzes Leben hindurch so schlecht und niederträchtig behandelt hat. Du wolltest ihm aber nur mit gleicher Münze heimzahlen, anstatt es besser zu machen. Wer das Böse mit Bösem vergelten will, der schafft nur neues Böse. So überlasse ich dich jetzt wieder deinem Schicksal und du wirst es nun bald sein, der auf dem Weg in Stadt am Wegesrand sein Ende finden wird. Ich wollte dich durch meine gute Zaubermacht vor deinem leidvollen Schicksal bewahren, aber du hast deine letzte Chance vertan, weil du es nicht verstanden hast, sie für dich zum Guten zu wenden.“

Der Magier hob den Stab und schlug ihn dreimal mit voller Wucht auf den Boden. Abermals zuckte ein heller Blitz daraus hervor und im nächsten Moment wurde aus dem Besitzer wieder der alte Esel und umgekehrt.


***


Die Zeit verschob sich auf geheimnisvolle Weise in die Vergangenheit zurück und draußen wurde es dunkel. In der Nacht fing es an zu regnen und am nächsten Morgen stand der Esel hungrig und voller Matsch bis auf die Poren durchnässt immer noch am gleichen Ort, wo ihn der Magier hin gezaubert hatte.

Als die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch die abziehenden Regenwolken brachen, erschien plötzlich sein Besitzer. Ängstlich hob der alte Esel seinen Kopf und erschrak, als er den großen Stock in der rechten Hand des Mannes sah. Da wusste er genau, was ihm der heutige Tag bringen würde. Noch bevor die schmerzhaften Schläge auf ihn niederprasselten, trottete er langsam zum schweren Holzkarren mit der Kartoffelladung hinüber, nahm die mühsame Arbeit auf sich und ergab sich still und schweigend seinem bevorstehenden Schicksal.


Er wusste genau, dass er diesen Tag nicht mehr überleben würde.

ENDE

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Kommentare zu "Der alte Esel und der gute Zauberer"

Re: Der alte Esel und der gute Zauberer

Autor: Michael Dierl   Datum: 09.04.2024 21:43 Uhr

Kommentar: Hallo, hast Du sehr gut geschrieben. Auch der Ausgang ist für alle sehr lehrreich. Wie heißt es so schön: Was du nicht willst, was man dir tut, das füg auch keinem andern zu! In diesem Sinne!

lg Michael

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