Günther der Rebell

Günther war sich sicher, dass er eines Tages in der Großstadt leben wird. Peine, oder so. Und er mochte Hiltrud. Seine Eltern sagten immer, dass er sich doch ein anständiges Mädchen aus dem Dorf nehmen solle, die Gerda wäre aus einem anständigen Hause, schließlich war ihr Vater zweimal Schützenkönig.
Günther, der Rebell, aber blieb bei Hiltrud aus dem Nachbardorf, auch, weil sie wie er diese schreckliche Musik, so nannten die Eltern das, hörte. Günther mochte Hintrud, und Hiltrud mochte Rock `n` Roll. Also waren sie zusammen, poussieren, so nannten die Eltern das.

Günther ging aufs Gymnasium, machte Abitur, studierte. Gerdas Eltern aus gutem Hause wären stolz gewesen. Hiltrud machte nach der Schule eine Lehre beim örtlichen Kaufmann. Günthers Eltern fanden, er hätte besser Gerda … aber Günther sei eben ein Rebell und sie, seine Eltern, verzweifelten fast.
Günther heiratete Hiltrud, und seine Eltern fanden immer noch, dass Gerda … .

Günther beendete das Studium, wurde Lehrer. Das hätte den Eltern von Gerda gefallen, aber Günther, der Rebell, war ja mit dieser Verkäuferin zusammen. Hiltrud arbeitete halbtags beim örtlichen Kaufmann an der Kasse.

Irgendwann zogen Günther und Hiltrup um. In Peine wurde eine Reihenhaussiedlung neu gebaut und Günther und Hiltrup fanden, dass ein Reihenhaus etwas tolles sei. Seine Eltern dachten da immer noch, dass Gerda … obwohl Gerda mittlerweile verheiratet war.
In das Nachbarhaus zog Mehmet mit seiner Ayce und Günther, der Rebell, begrüßte seine neuen Nachbarn wie alte Freunde. Er schlug Mehmet vor, den obligatorischen 80cm Jägerzaun einfach wegzulassen; ein großer gemeinsamer Garten sei doch schöner als zwei kleine. Mehmet war sofort seiner Meinung und so hatten die beiden Freunde als einzige in der gesamten Reihenhaussiedlung keinen 80cm Jägerzaun, noch nicht einmal eine Koniferenhecke. Seine Eltern meinten, dass das Gerda überhaupt nicht gefallen hätte … .

Auch in der Schule war Günther, der Rebell, ein merkwürdiger Kauz. Während die anderen Lehrer zuerst mit dem Kadett, später mit dem Astra, oder mit dem Käfer, später mit dem Golf, zur Schule kamen, kaufte sich Günther einen Mercedes. Und parkte damit direkt neben dem Taunus vom Direktor.

Günther und Mehmet wurden beste Freunde. Mehmet erzählte von seinem Geburtsort und Günther erzählte von seinen Eltern, und von Gerda aus gutem Hause, die er aus gutem Grunde nicht wollte. Auch Ayce und Hiltrup wurde beste Freundinnen. Hiltrup erzählte von den wilden Rock ´n´ Roll Zeiten mit Günther, Ayce von ihren Eltern, die es besser gefunden hätten, wenn Ayce den Muhammed aus dem Nachbardorf genommen hätte. Alle vier lachten viel, lachten laut, saßen zusammen in ihrem großen gemeinsamen Garten ohne Zaun und ohne Koniferen, und genossen gemeinsam das Leben.

Günther, der Rebell, entschied, dass es Zeit sei, dass die Familie Zuwachs bekam. Eine Katze sollte es sein. Günther ließ die Katze früh sterilisieren und nannte sie dann „Kater“. Und Günther war fest davon überzeugt, dass dieser modische Unfug, dass Halter ihren Autos Namen wie MonChiChi (das war die Ente der Französischkollegin) oder Muckelchen (die Deutschlehrerin) gaben, wirklich absurd sei und Autos nun wirklich keinen Namen haben sollten. Deshalb nannte Günther, der Rebell, seinen Mercedes „Namenlos“.

Irgendwann verschwand der Kaufmannsladen und der Supermarkt entstand. Zuerst Otto Mess, dann Kaiser´s, zuletzt EDEKA. Hiltrup saß halbtags an Kasse drei, ihrer Kasse. Aber als auch der Supermarkt verschwand und ein Einkaufszentrum entstand, gab es keine Kasse drei mehr.

Mehmet arbeitete in Salzgitter, Kali. Harte Arbeit, guter Lohn. Mehmet war zufrieden. Er hatte Ayce, er hatte ein Reihenhaus, und er hatte seinen besten Freund Günther, mehr braucht ein Mann nicht um glücklich zu sein. Aber plötzlich wurde Mehmet leise, lachte weniger. Die Diagnose. Ayce war krank, sehr krank.
Günther und Hiltrup halfen wo sie konnten, aber die Krankheit konnten sie nicht aufhalten. Mehmet war plötzlich allein. Er saß im Garten, auf seiner Seite, und weinte. Günther und Hiltrup waren bei ihm, Ayce nicht mehr.

Nur einmal die Woche, Dienstags, gingen die Freunde gemeinsam los. Das taten sie seit Jahren. Dienstags war Skat Abend. Der Club traf sich in der „Dorfschänke“, so hieß die Kneipe in der Reihenhaussiedlung, und Günther und Mehmet nahmen es mit stoischer Ruhe seit Jahren hin, dass es Tradition im Skat Club war, dass wenn ein Grand Hand von einem der beiden verloren wurde, sie von ihren Skatbrüdern und Reihenhausnachbarn als Trost für das missglückte Spiel einen Katalog des örtlichen Gartencenters mit den neuesten Koniferen-Hecken und 80cm Jägerzaun Angeboten bekamen.
Eines Tages passierte es, dass Mehmet erzählte, demnächst in den Urlaub zu fliegen. Ein Skatbruder fragte ihn, ob er in die Heimat führe. Mehmet sprang wütend auf, warf den unverlierbaren Herz Hand in hohem Bogen auf den Tisch und sagte, dass Peine seine Heimat sei, und Karamlis nur sein Geburtsort. Alle Entschuldigungen halfen nicht; Mehmet blieb drei Wochen dienstags zu Hause, sogar am zweiten Dienstag im Monat, dem monatlichen Preisskat. Günther blieb auch zu Hause. Dann spielen wir eben Bauernskat, sagte Günther.

Auch Hiltrup ging es eines Tages nicht mehr so gut. Der Supermarkt war weg, Ayce war weg und weder Günther noch Mehmet waren mehr in der Lage, Hiltrup zum Lachen zu bringen. Sie wurde traurig und trauriger. Bald verfiel sie in eine tiefe Depression. Günther, der Rebell, versuchte sie mit alten Rock ´n Roll Platten aufzumuntern, aber Hiltrup mochte nicht mehr. Eines Tages hörte Günther auf der Heimfahrt von der Schule im Autoradio von dem schrecklichen Unfall an der Bahnschranke. Als er nach Hause kam, standen zwei Polizisten vor seinem Haus und in diesem Augenblick wusste er was passiert war. Er ersparte den Polizisten es ihm erklären zu müssen.

Mehmet war seine Stütze, so wie er es bei Ayce war. Die beiden Freunde beschlossen, mit „Namenlos“ und „Kater“ eine große Reise zu machen. Und Günther, der Rebell, fand, dass es Zeit war, der Schule Adieu zu sagen und statt Erdkunde zu unterrichten die Erde zu erkunden. Von Kiruna nach Kapstadt, so war der Plan, sofern man von einem Plan reden kann, wenn alles, was man hat, zwei Koffer, eine Katze und ein ADAC Shell Atlas sind. Aber Zeit war ja jetzt genug da.

„Kater“ vertrug das Autofahren nicht so gut, hielt sich aber tapfer. Auch „Namenlos“ vertrug die oftmals schlechten Straßen nicht so gut, aber auch er hielt sich tapfer. Und Mehmet und Günther vertrugen die häufigen Gedanken an Ayce und Hiltrup nicht so gut, und hielten sich ebenfalls tapfer. Von Kiruna nach Kapstadt, das war der Plan.
Irgendwo im Nirgendwo fiel Mehmet auf, dass „Kater“ ungewöhnlich ruhig sei, heute. Günther hielt an, schaute nach „Kater“, der Katze, und wusste, dass neun nur eine Zahl ist. Mehmet half Günther beim Graben.

Bis Kapstadt kamen die beiden Freunde nicht. Kurz hinter Kairo machte ein vollbeladener LKW einen unkontrollierten Schlenker nach links und rammte „Namenlos“ kurz hinter der hinteren Beifahrertür. Mehmet und Günther passierte nichts, aber „Namenlos“ war nicht zu retten. Der W123, das vielleicht beste Auto was Mercedes je baute, hatte keine Chance gegen die 28 Tonnen, bewahrte aber mit allerletzter Kraft die beiden Freunde davor, dass auch sie Schaden nahmen.

Zurück in Peine, zurück im großen, jetzt viel zu großen, Garten, saßen die Freunde und redeten. Günther, der Rebell, redete über Hiltrup, über Rock ´n´Roll, über seine Eltern … und über Gerda …. was wohl aus der geworden ist …? Und sein Freund Mehmet hörte zu.
Und Mehmet redete über Ayce, über ihre Freundschaft und über seine Geburtsstadt. Und sein Freund Günther hörte zu.
Beide kannten die Geschichten des jeweils anderen schon zur Genüge, aber sie hörten trotzdem zu, so wie beste Freunde das eben machen.

Der zweite Dienstag im Monat. Preisskatabend. Günther wollte unbedingt, dass Mehmet mitmachen kann. Aber die Stationsschwester erlaubte partout nicht, dass 16 Männer an vier Tischen im Besucherraum den ganzen Abend Skat kloppten, obwohl alle 16 bei allem was ihnen heilig sei versprachen, weder zu rauchen noch zu fluchen oder Bier zu trinken. Half alles nichts. Die Stationsschwester war unerbittlich.
Also rief Günther, der Rebell, seinen ehemaligen Schüler Marcel aus der Reihenhaussiedlung an. Und Marcel, der Arzt, machte der Stationsschwester klar, dass es aus medizinischer Sicht keine Einwände gegen den Preisskat gebe und dass sich ein wenig Spaß durchaus positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken kann. Die Jungs spielten also den ganzen Abend Skat im Besucherraum, wenn auch nicht am zweiten Dienstag im Monat sondern am Donnerstag der nächsten Woche, aber es war trotzdem ein toller Abend.
Mehmet fand echt doof, dass die Skatbrüder mit den besten Karten trotzdem „weg“ sagten, dass sie, wenn es sich nicht vermeiden ließ, sich verwarfen oder falsch drückten, aber er genoss es, dass er den Preisskat gewann. Denn gegen die Krankheit konnte er nicht gewinnen.

Viele Abende später sitzt Günther, der Rebell, allein im Garten, schaut auf die von den neuen Nachbarn gepflanzte Koniferen-Hecke, denkt an Hiltrup, denkt an Mehmet und an Ayce, denkt an „Kater“ und an „Namenlos“ … und schläft ein …


© Rafael Nuncatiempo


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Kommentare zu "Günther der Rebell"

Re: Günther der Rebell

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 22.07.2023 20:19 Uhr

Kommentar: Hallo Rafael,
herzlich willkommen in unserem Forum.
Eine unterhaltsame Geschichte aus dem Alltag. Etwas geschrumpfter würde sie noch mehr Leser finden (du musst wissen, die meisten von uns sind lesefaul).
Liebe Grüße und wir lesen voneinander
Wolfgang

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