Der Frühling war über das Land gekommen und auf der großen Wiese, die dem alten Bauernhof genau gegenüber lag, blühten tausende von weißen Blumen. Die Kamillen, die Gänseblümchen, der Weißklee, das Wiesenschaumkraut, Narzissen, Graslilien und natürlich die kleinen Schneeglöckchen, die vor allen anderen die Köpfchen aus dem Boden gestreckt hatten.
Es war eine weiße Pracht, die den Schaumkronen auf den sich aufbäumenden Wogen des Ozeans ähnelte.
Die Blumen waren sehr stolz auf ihre makellosen weißen Blüten und reckten sich stolz empor, damit auch jeder, der zufällig vorbeikam, sie sehen konnte.

Doch dann geschah etwas, was zunächst keine der weißen Wiesenblumen beachtet hatte; ein Windstoß hatte im Jahr zuvor ein kleines Samenkorn mitten auf die große Wiese geweht. Und dieses Samenkorn fand den saftigen, nährstoffreichen Wiesenboden so lecker, dass es nun im Frühling seine seine Würzelchen ausstreckte und nach kurzer Zeit zu einer Blume emporwuchs.
Doch die anderen Blumen staunten, ja, sie hätte sich sogar die Augen vor Verblüffung gerieben, wenn sie Hände gehabt hätten. Denn diese neue Blume, die ihnen da zugeflogen war, sah sehr ungewöhnlich aus, sie war nämlich braun. Ihre Blütenblätter waren mittel- bis dunkelbraun, was die Blume selbst als gar nichts besonderes empfand, denn da, wo sie herkam, waren alle Blumen braun.

Eine braune Blume, die inmitten ihrer weißen Prächtigkeit wuchs, das konnten die weißen Blumen nicht schweigend hinnehmen, sie begannen über die braune Blume zu spotten, die ihnen eigentlich gar nichts antun wollte. Sie plante weder, die Herrschaft über die Wiese zu übernehmen, noch wollte sie, dass auf der Wiese nur noch braune Blumen wuchsen, sie wollte nur friedlich und unbehelligt da stehen, und vielleicht ab und zu von einer Biene besucht werden; denn der Nektar, den sie zu bieten hatte, war süß wie die schönsten und leckersten Pralinen, die es in den Feinkostläden der Stadt zu kaufen gab.
„He Brownie!“, ätzte die Narzisse, „hat man dich in Kakao getaucht?“
Die Kamille setzte noch eins drauf : „Wie wär’s denn, wenn wir bei Kakao das „o“ am Ende wegließen, mit „Kaka“ kommen wir der Wahrheit sicher noch ein Stück näher!“ „Kakabraun! Kakabraun!“ schrien die weißen Blumen im Chor.
Die Gänseblümchen kicherten hämisch, das Wiesenschaumkraut lachte mit seinem bekannt nervigen überschäumenden „Hohoho!“ und der Weißklee meinte, dass nicht nur er weiß sei, sondern dass sogar seine Ur-ur-ur-großeltern alle weiß gewesen seien. Und dass diese Farbe die einzige wäre, die auf dieser Wiese geduldet würde. Man hätte sogar schon mal gemeinsam eine Mohnblume und eine blaue sibirische Schwertlilie vertrieben. Sibirien, das ginge ja gar nicht und wer schon das Wort „Schwert“im Namen führte, hatte bestimmt vor, ein Verbrechen zu begehen.

„Ich tu keinem was und will nur meine Ruhe“, sagte die braune Blume leise.
„Jetzt murmelt sie auch noch, bestimmt plant sie was ganz Gemeines gegen uns“, sagten die Graslilien, „damals war das genau so, mit dem Namen Lilien wollten die Blauen sich bei uns einschleimen, aber zwischen einer weißen, deutschen Graslilie wie mir und einer blauen sibirischen Schwertlilie gibt es eben doch beträchtliche Unterschie­de“.
Inzwischen hatten die Bienen des nahegelegenen Bienenstocks die neue Blume entdeckt, die ihnen zwar unbekannt war, die aber den herrlichsten und leckersten Nektar bereithielt, den sie je gekostet hatten. Sie besuchten die neue Blume in Scharen.
Das machte die weißen Blumen noch wütender. „Hier!“, „Hierher!“,“Hier könnt ihr am besten tanken!“ riefen sie den Bienen zu, aber diese kamen zwar mal ab und zu bei ihnen vorbei, aber eben nur gelegentlich.
„Schmeckt euch unser Nektar nicht?“ fragte ein Schneeglöckchen.
„Geht so!“ antwortete die Biene, „aber ich flieg lieber zu der Neuen, die ist einfach netter und nicht so eingebildet wie ihr“.

An diesem Tag schärfte der Bauer seine Sense, um die Wiese abzumähen. Er wollte das Gras und die Blumen seinen Kühen zu fressen geben, weil die solche frische Kost am meisten schätzten. Als die weißen Blumen und natürlich auch die braune im Futtertrog lagen, kam die Kuh Erna, schnüffelte ein wenig im Trog herum und fischte sich den Weißklee heraus. „Hmmmm“ brummte sie „eine herrliche Vorspeise, ein köstliches A-muuuhhh-se gueule!“ und schnalzte mit der Zunge.
Das gab den weißen Blumen den Rest. Sie schrien: „Erna friss lieber die Braune da, die ist ohnehin ein Eindringling, mit der wollen wir nichts zu tun haben! Eine Fremde! Eine Zugewanderte!“. Erna antwortete: „Nein, ihr seid mir ehrlich gesagt lieber“. Und dann fraß sie alle weißen Blumen ratzeputz auf. Die braune Blume aber steckte sie sich in das Haarbüschel, das zwischen ihren Hörnern wuchs, und fühlte sich schöner als jemals vorher.


© Peter Heinrichs


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Beschreibung des Autors zu "Die braune Blume"

Ein kleines Märchen gegen Rassismus

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