Ein kleiner Kieselstein lag schon sehr, sehr lange am Ufer eines breiten Flusses, dessen Wasser träge an ihm vorbei zog und döste auf einem hohen Sandhügel Tag für Tag so vor sich hin.


Die letzte große Überschwemmung hatte ihn zufällig hier hin gespült, wofür er eigentlich recht dankbar war, denn vorbeiziehende Vögel, die sich hin und wieder für kurze Zeit bei ihm niederließen, hatten ihm davon erzählt, dass sich weiter unten flussabwärts ein furchterregender Wasserfall befand, der so hoch war, dass jeder Stein, den er mit sich riss, in tausend Stücke zerbrechen würde, stürzte er von dort oben hinab in die tosende Tiefe der Schlucht.


Eines Tages regnete es stark und das gemächlich dahin fließende Wasser des Flusses schwoll wieder einmal zu einer gefährlichen Flut an. Das machte dem kleinen Kieselstein allerdings nichts aus, da er ja geschützt auf einem hohen Sandhügel lag, wo er sich sicher fühlen konnte.


Auf einmal kam ein großer runder Kieselstein im vorbei rauschenden Wasser daher gerollt, der spontan stoppte, als er den kleinen Kieselstein dort oben in Ufernähe auf dem sicheren Sandhügel liegen sah.


Er sprach ihn an und lästerte sogleich über ihn.


„Feigling, Feigling!" rief er dem kleinen Kieselstein zu, der ihn erschrocken ansah und nicht wusste, was er von ihm wollte.


Der große Kieselstein fing jetzt höhnisch an zu lachen und machte sich weiter lustig über seinen kleinen Freund.


„Du bist ja nur ein Feigling, der sich nicht traut, auf Reisen zu gehen, um die weite Welt kennen zu lernen. Dafür liegt er lieber faul und bequem am sicheren Ufer herum, lässt es sich gut gehen und von der warmen Sonne verwöhnen. Pfui Teufel! So etwas würde mir nie einfallen. Komm lieber mit, wenn du keine Angst hast! Zusammen lässt es sich außerdem besser reisen. – Na, was ist? Willst du immer noch ein Feigling sein, mein kleiner Kieselbruder?"


„Ich bin aber kein Feigling! Der Fluss ist gefährlich und weiter unten kommt ein großer Wasserfall, der jeden von uns in die tiefe Schlucht reißt, wo wir auf dem felsigen Untergrund in tausend Stücke zerschmettert werden. Ich bleibe lieber hier, wo ich gerade bin. Der Fluss hat es damals gut mit mir gemeint. Ich fühle mich auf dem großen Sandhügel sicher. Außerdem kommen jeden Tag viele Vögel zu mir, mit denen ich mich über alles und jedes unterhalten kann. Mir wird es deshalb nicht langweilig. Zieh’ also ohne mich weiter!" gab der kleine Kieselstein seinem mürrisch dreinblickendem Gegenüber selbstsicher zur Antwort.


Der ärgerte sich aber jetzt fürchterlich und wurde richtig zornig.


„Ach was! Was bist du bloß für ein Dummkopf. Die Vögel erzählen viel, wenn der Tag lang ist. Du bist und bleibst eben nur ein richtiger Feigling. Und wenn du nicht mitkommen willst, dann rolle ich eben alleine weiter. Mir wird schon nichts passieren. Ich bin nämlich ein großer Kieselstein und fest wie Eisen. Pah, selbst ein Wasserfall macht mir da keine Angst. Ich stürze mich mit Vergnügen in die Tiefe!", schrie er jetzt mit lauter Stimme, bevor er in den vorbei flutenden Wassermassen verschwand.


Bald aber hörte es wieder auf zu regnen. Die dunklen Wolken zogen sich zurück und die liebe Sonne warf ihre wärmenden Strahlen über das weite Land.


Etwas später kehrten auch die Vögel nach und nach zurück, die sich in großer Zahl auf dem großen Sandhügel niederließen.


"Was gibt es Neues zu berichten?" fragte der kleine Kieselstein die Vögel neugierig und war ganz Ohr.


„Ach, nichts Gutes", sagte plötzlich eine buntgefiederte Ente zu ihm, „es spielten sich am tosenden Wasserfall grausame Szenen ab. Deine mutigen Kieselbrüder ließen sich nacheinander von der hohen Flut mit in die Tiefe reißen. Es war einfach schrecklich. Sie hatten sich wohl alle überschätzt, denn jeder von ihnen wurde dort unten auf dem harten Felsengrund in tausend Stücke zerschmettert. Nichts ist von ihrer ehemaligen Schönheit übrig geblieben."


Als der kleine Kieselstein das hörte, musste er unwillkürlich an seinen großen Kieselsteinbruder denken, der ihn so arrogant einen Feigling genannt hatte und jetzt wohl zertrümmert in viele kleine Stücke tief unten auf dem dunklen Flussboden verteilt herumlag.

„Bestimmt wäre es mir nicht anders ergangen. Zum Glück habe ich mich aber anders entschieden. Auf dem großen Sandhügel bin ich in Sicherheit. Nun, ich habe meinen großen Kieselsteinbruder rechtzeitig vor der Gefahr gewarnt, doch er wollte partout nicht auf mich hören", murmelte der kleine Kieselstein mit leiser Stimme so vor sich hin, machte es sich so richtig gemütlich im weichen Sand und döste in der warmen Mittagssonne zufrieden weiter.



ENDE



©Heiwahoe


© (c)Heiwahoe


1 Lesern gefällt dieser Text.

Unregistrierter Besucher

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Die kurze Geschichte vom kleinen und großen Kieselstein"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Die kurze Geschichte vom kleinen und großen Kieselstein"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.