Kein Regen.
Irgendwie hätte es gepasst.
Es wäre wie im Kino gewesen, wenn der Held sich schlecht fühlte.
Dann hatte es einfach zu regnen.
Aber nicht jetzt.
Nicht hier.
Denn er war kein Held. Er würde niemals zum Helden taugen.
Wohl nicht einmal zum Antihelden.
Er war einfach nur da.
Und dann, eines Tages, einfach wieder weg.
Nichts weiter.
Und nun?
Nun wendete er seinen Blick vom Fenster ab und verließ seine kleine, überteuerte Mietwohnung.
Ein leises Klicken als er die Tür hinter sich zuzog, noch eines als er den Schlüssel umdrehte. Einmal, zweimal.
Klick, Klick.
Warum schloss er überhaupt ab?
Gewohnheit.
Egal.
Langsam ging er das Treppenhaus nach unten bis in den modrig riechenden Keller. Die Beleuchtung war nur spärlich, aber sie reichte.
Klick.
Er schloss die kleine Kammer auf die ihm gehörte und holte sein Fahrrad heraus.
Diesmal schloss er nicht ab, warum auch?
Draußen regnete es immer noch nicht. Der dunkle Nachthimmel war sternenklar, von fast höhnischer Romantik.
Langsam fuhr er los, weg von diesem Plattenbau, weg von dieser Straße, diesem Ort, dieser Welt.
Das Bild der Umgebung wandelte sich während er durch die kalte Luft schnitt, raus aus dem Städtchen, über eine Landstraße immer weiter und weiter, vorbei an den weiten Feldern, die nichts mehr anderes waren als karge Flächen bis zum Horizont.
Später Herbst. Das Leben versiegte. Sogar die Bäume sahen aus als wollten sie sterben.
Wie Knochenkrieger zogen sie an ihm vorbei und führten ihr bizarres Schattenspiel auf.
Er fuhr durch ein kleines Dorf, von dem er nicht einmal wusste wie es hieß.
Kein Licht war zu sehen, nicht ein einziges. Als wäre er ganz allein. Als wäre tatsächlich alles gestorben.
Und immer noch fuhr er weiter, seine Beine längst taub von der Monotonie ihres Handelns und der Kälte die sie umfing.
Langsam rückte der Wald am Horizont näher bis er schließlich leise ihn ihn hineinglitt, verschluckt wurde. Verschluckt von den Skelettbäumen, das lauteste Geräusch der Dynamo der viel zu wenig Strom für das viel zu kleine Lämpchen spendete.
Sein Herzschlag. Der Rhythmus des Verfalls.
Irgendwo bog er rechts ab auf eine kleinere Straße, direkt auf eine große Lichtung zu.
Ein Soldatenfriedhof.
Hunderte, tausende von kleinen, weißen Kreuzen. Absolut symetrisch nebeneinander aufgestellt.
Formation sogar im Tod.
Und wie in der Schlacht auch hier viele namenlos.
Irgendwo in der Mitte hielt er an.
Finsternis die ihn umschloss als das Fahrradlicht gänzlich erlosch.
Er legte das Rad auf den Boden und blickte sich um, bekam einen Tunnelblick von diesen schier endlosen Reihen, bis er sich schließlich hinlegte und gen Himmel starrte.
Am Horizont waren dunkle Wolkenmassen zu sehen, nur vage zu erahnen durch das wenige Licht der kleinen Mondsichel.
Zu- oder abnehmender Mond?
Er wusste es nicht.
Nach einiger Zeit stand er wieder auf, seine zitternden Finger wühlten in der Jackentasche und holten ein Feuerzeug und ein einzelnes Teelicht hervor. Er drehte den Kopf ein wenig hin zum nächsten Grab, hob den Arm und ließ das Feuerzeug klicken.
Beim dritten Versuch blieb die Flamme an und er kniff die Augen zusammen.
Auch dieses Grab war namenlos.
Er ließ den Arm wieder sinken, blickte wieder hinauf zu den Sternen.
So weit weg.
Einige längst tot.
Es wusste nur noch niemand, weil ihr letztes Licht noch immer seinen verzweifelten Weg durch die Weiten des Weltraumes antrat.
Zitternd richtete er sich auf, bewegte sich ein wenig auf das Grab zu und stellte das Teelicht auf die Spitze des Kreuzes.
„Eigentlich war es ja für mich gedacht, denn es wird wohl nie jemanden geben, der kommen wird um mir eines anzuzünden...“
Ein Flüstern, untermalt vom leichten Klappern seiner Zähne.
„Doch ich denke ihr alle braucht es mehr.“
Inzwischen spürte er das Feuerzeug in seiner Hand kaum noch, so taubgefroren war sein Körper nun schon.
Die Wolkenfront zog noch immer näher, langsam aber stetig, groteske, dunkle Berge im Himmel.
„Dieses Licht ist für euch alle...“
Ein letztes Flüstern bevor er sich wieder hinlegte und noch einmal die Sterne betrachtete bevor er die Augen schloss.
Die eisige Kälte die ihm jegliche Kraft aus dem Körper sog, sogar die zum zittern.
Die Zeit verstrich und als der erste Tropfen aus den finsteren Wolkenbergen fiel und das Teelicht mit einem erlösenden Seufzer löschte, da schien es als würden die schwarzen Knochenkrieger am Rande des Friedhofes ihren Kameraden die letzte Ehre erweisen, mit der letzten Kraft der Sterbenden auf ihn herabblicken und mit ihm in einen eisigen Schlaf verfallen.


© Lorenz H. P.


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