Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Diagonal- und Überkreuzdenkens,

wir erinnern uns alle an die analogen Zeiten, als es zwischen 1 und 0 noch eine große Anzahl von Zwischenwerten gab, die nicht etwa zu Ungenauigkeiten in der Meinungsbildung führten, sondern viel eher zu einer differenzierteren Darstellung, die das Gemeinte deutlich genauer traf, als eine Reduktion auf die Ganzzahligkeit oder – wenn wir metaphorisch über Farbwerte reden – auf eine Welt, in der es nur Schwarz oder Weiß gibt.

Wir können das anschaulich mit einem Fußballtor vergleichen, wenn wir den einen Torpfosten mit 1 und den anderen mit 0 bezeichnen. Ein Treffer, also das, was dem Spiel und damit der Torkonstruktion die eigentliche Daseinsberechtigung verleiht, erzielt man nicht, indem man dafür sorgt, dass der Ball an Pfosten 1 oder Pfosten 0 landet, sondern nur dadurch, dass man einen beliebigen Punkt zwischen beiden Pfosten trifft. Möglichst einen, an dem sich der Torwart zu diesem Zeitpunkt nicht aufhält.

Nun, mit der Digitalisierung des Alltags hat diese Präzisierung durch Zwischenwerte ihr Ende gefunden. In der Maschinensprache des Computers gibt es nur eine 1 oder eine 0, ein Entweder-Oder, oder – wie es vielleicht der Philosoph Hegel ausgedrückt hätte – eine These, ihr gegenüber eine Antithese; aber ärgerlicherweise keine Synthese. So etwa wie eine Sonate, die am Schluss auf die Rückkehr zur Tonika, also zur Grundtonart verzichtet und den Zuhörer damit quasi in der Luft hängen lässt.

Wir finden das Prinzip der Unversöhnlichkeit zwischen 1 und 0 auch in der sozialen Kommunikation. Zwei Parteien, zwei Meinungen, wobei jede der beiden Parteien den geringsten Abstrich von der eigenen Meinung zugunsten eines Kompromisses, der an irgendeinem Punkt zwischen 1 und 0 liegt, als Verrat an der eigenen Ideologie betrachtet. Die Diskussion beginnt also bereits mit einer Konstellation, die am Ende niemals zu Kompromissen führen kann.

Diese Situation bezeichnen wir mit dem aus dem Schachspiel bekannten Begriff „Patt“. Was aber bedeutet ein Patt in Wirklichkeit? Beim Schach zeigt es die Sinnlosigkeit eines Weiterspielens an und somit eigentlich einen zwangsläufigen Verzicht beider Spieler auf weiteres Handeln.

Ich will durchaus nicht behaupten, dass diese sehr unbefriedigende Form der Diskussion für immer so bleiben muss. Wie Sie sicher wissen, arbeitet die digitale Wissenschaft ja bereits an der Entwicklung des Quantencomputers. Dieser baut auf der Quantenmechanik auf, bei der die Dinge mal so oder mal anders sein können, je nachdem ob wir sie beobachten oder nicht.

Wir denken dabei an Schrödingers Katze, von der ja bis heute keiner weiß, ob sie lebt oder nicht. Dies ließe sich lediglich indirekt an der Minderung oder dem Wachstum der Mäusepopulation feststellen, die sich natürlich wie die Katze ebenfalls in der geschlossenen Kiste aufhalten müsste. Leider ist auch die Gesamtzahl der Mäuse in der Quantenwelt nicht eindeutig, sie kann unendlich groß sein, aber auch aus nur einem einzigen Mäuschen bestehen. Oder die Mäuse sind vielleicht gar keine Mäuse, sondern Straßenlaternen, zumindest, wenn wir gerade nicht hinschauen.

Wenn in Zukunft also ein Quantencomputer vor uns auf dem Schreibtisch steht, wird sich ein in Google-Maps ermittelter Ort, wie beispielsweise das etwa 40 Kilometer von München entfernte Erding, vielleicht an der Nordseeküste befinden, wenn wir nicht hinsehen. Dann heißt es vorübergehend vielleicht sogar auch nicht mehr Erding sondern St. Peter-Ording. Ähnliche Probleme könnten sich bei Bayreuth und Beirut einstellen, aber dieses Beispiel ist schon zu oft in Kabarettpointen benutzt worden, als dass wir uns näher damit befassen sollten.

Mal abgesehen davon, inwieweit ein Computer von Nutzen sein kann, bei dem man nicht hinsehen darf, erhebt sich die Frage; wird mit dem Quantencomputer mehr Präzision einkehren oder mehr Vieldeutigkeit? Oder – anders ausgedrückt – bringt uns diese Zukunftstechnologie die feine Differenziertheit der analogen Grauwerte zurück oder stürzt sie uns in die Dunkelheit eines Nichtwissens, das die heutige Orientierungslosigkeit um viele Potenzen übertrifft?

Und da wir nun ja schon einmal bei Thema 1 und 0 sind, könnten Sie sich bis zum nächsten Mal über folgendes Phänomen Gedanken machen. Bei einer Hochzahl, beispielsweise x hoch 3, bedeutet dies, dass x dreimal mit sich selbst multipliziert wird. Das trifft auch auf 1 hoch 0 zu. 1, null mal, also keinmal mit sich malgenommen, bleibt 1. Klar! Man hat der 1 ja keinen Multiplikationsprozess angedeihen lassen.

Aber jetzt kommt etwas Seltsames. 0 hoch 0 ist ebenfalls 1. Wenn man Nichts also keinmal mit sich selbst malnimmt, ergibt sich trotzdem der Wert 1. Eigentlich absurd. Oder eine Metapher für die Erschaffung von etwas Existierendem aus dem Nichts.

Ich gehe davon aus, dass höchstens einer von 500 Menschen dieses Phänomen versteht. Dieser Hörsaal fasst genau 500 Studenten und Studentinnen. Und eben hat einer der Studierenden den Saal verlassen, wie ich an dem einzigen leeren Platz sehen kann. Vielleicht war es genau der eine, der uns das Rätsel hätte erklären können, aber offensichtlich keine Lust dazu hatte. Vielleicht fällt ja einem der noch verbliebenen Studierenden bis zum nächsten Mal eine Beweisführung für dieses Absurdum ein. Aber bitte, lassen Sie Gott aus dem Spiel!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


© Peter Heinrichs


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