Der Nekromant

von Benjamin Bächle

Jedes Mal, wenn ich die Augen schließen will, sehe ich sie vor mir, blutüberströmt in meinen zitternden Armen haltend, ihr Gesicht eine derart grotesk entstellte Fratze, dass kein noch so fehlgeleiteter Maskenschnitzer sich so etwas auch nur ausdenken könnte. Sie versucht zu sprechen, doch nicht einmal einen Schmerzens- oder Schreckenschrei kann sie ausstoßen - wie auch wenn sie kaum mehr atmen kann. Ihre letzten Worte sind ein unverständliches Keuchen und ich glaube meine letzten und bei weitem nicht genügend angemessenen Worte an sie, kann sie nicht verstehen. Unter lautlosen Schmerzen und Qualen erliegt sie in meinen Armen einem Tod, wie er sinnloser kaum sein könnte. Dabei stand sie in der Blüte ihrer Jahre. All unsere Hoffnungen und Träume, unsere großen Pläne für die Zukunft, sind zunichte. Da ihre Mörder allesamt tot sind, kann ich sie nicht mehr rächen - doch was brächte es mir auch? Durch Rache wird sie nicht wieder lebendig. Durch nichts auf dieser Welt wird sie wieder lebendig - oder etwa doch? Der Tod, der größte Feind aller Lebenden, ist bekanntlich unabwendbar unbesiegbar und vor allen Dingen für uns Sterbliche unbegreiflich - dies jedenfalls habe ich, wie wohl alle Menschen, in meinem Leben gelernt. Doch was, wenn das Unabwendbare manipuliert, das Unbesiegbare doch besiegt und das Unbegreifliche verstanden werden kann, wenn ich die Mysterien des Todes erkunden kann? Auf meinen langen trostlosen Reisen, habe ich allerhand gesehen und gehört, von dem Manches sich als wahr und Manches als falsch herausgestellt hat. Und nun bin ich auf dem Weg etwas zu suchen, dass sich möglicherweise als falsch herausstellen könnte. Doch wenn an den vielen Gerüchten und Berichten, an den unheimlichen Lagerfeuergeschichten und dem Geschwätz alter Weiber auch nur ein Funken Wahrheit steckt, dann wird alles anders. Wenn ich ihn finde, falls es ihn wahrhaft gibt und er über die dunklen Kräfte verfügt, die man ihm zuspricht, dann kann er mir vielleicht helfen meine Frau zurück zu den Lebenden zu holen - nichts wünsche ich mir mehr und nichts anders in meinem Leben macht mehr einen Sinn. Es wird noch eine weite Reise werden, bis ich ihn finden - Nefastus, den dunklen Magier, den Totenbeschwörer, den Nekromanten.

„Was ist das nur für eine furchtbare Nacht“, sagte Duncan, der gerade beim Abendbrot sitzend aus dem Fenster schaute, zu sich selbst. Nicht nur, dass es Neumond und damit absolut Dunkel war und außerdem in Strömen regnete, nein, der Wind pfiff und heulte so unerträglich, das einem Hören und Sehen verging. Das Heulen des Windes hörte sich schon beinahe wie ein gequälter Ruf an. „Ein wirklich grauenhaftes Wetter. Man könnte fast meinen, hier sei irgendeine unheimliche, dunkle Magie am Werke.“ Während er noch diesen Satz sprach, drehte sich Duncan zum östlichen Fenster um, dort wo nicht allzu weit entfernt der alte Friedhof lag - und der Eremit! „Ach, ich bin wohl einfach nur zu alt und schreckhaft,“ sagte sich Duncan und wollte sich wieder seinem Essen zuwenden, als es plötzlich laut an die Tür klopfte. Duncan fuhr zu Tode erschrocken auf, blieb dann aber regungslos stehen. Es klopfte ein zweites Mal, diesmal lauter. Wer konnte das sein, mitten in der Nacht? Wer trieb sich überhaupt bei solch einem Wetter draußen herum? Das dritte Klopfen, löste Duncan aus seinem Nachdenklichkeit und veranlasste ihn zu handeln. Schnell ging er in den Nebenraum, wo er neben allerlei nützlichen Gerätschaften seine alte, inzwischen rostige Axt verwahrte. Mit der Axt in der Hand ging er an die Tür, hielt noch einmal kurz inne und öffnete. Es war niemand zu sehen! Obwohl Duncans Unruhe wuchs, wagte er sich ein paar Schritte hinaus in die stürmende Dunkelheit - und erblickte jemanden. „Was wollt ihr hier?“, fragte Duncan, dessen Stimme sich bei weiten nicht so bedrohlich anhörte, wie sie es seiner Meinung nach sollte. Die Gestalt drehte sich um und kam einen Schritt näher, so das der seine Axt zitternd haltende alte Duncan sie sehen konnte - und einen verwahrlosten, eher schwächlichen Mann erblickte. „Seid gegrüßt,“ begann dieser zu sprechen, „ich dachte schon, das Haus wäre leer. Verzeiht bitte, dass ich euch zu so später Stunde und bei diesem schrecklichen Unwetter belästige, aber ich bin erschöpft, völlig durchnässt und hundemüde. Könntet Ihr euch meiner erbarmen und mir ein Nachtquartier zur Verfügung stellen?“ Duncan sah den Fremden äußerst misstrauisch an, obwohl er doch erleichtert war, dass es nur ein Mensch und keine bösartige Kreatur oder sonst etwas war. „Ich werde euch selbstverständlich auch bezahlen“, sagte der Fremde. „Ich hoffe für euch, dass Ihr wirklich ein Notleidender und kein Mörder, Straßenräuber oder sonst was seid“, entgegnete Duncan. „Ich schwöre euch, dass ihr kein Leid von mir fürchten müsst, alter Mann. Mein Name ist Ignor und ich bin schlicht und einfach ein Reisender.“ „Dann kommt hinein, bevor wir uns beide noch eine Erkältung oder sonst was holen“. Die beiden traten in Duncans Haus ein. Der alte Man bot Ignor an, dessen durchnässte Kleidung an seinem kleinen Kamin trocknen zu lassen und holte ihm als Ersatz eine dicke Schafsdecke. Da Duncan an diesem Abend sowieso keinen großen Appetit hatte, bot er Ignor etwas von seinem Essen an. Dieser lehnte zunächst höflich ab, langte dann jedoch nach erneuter Aufforderung ordentlich zu. „Mein Name ist Duncan,“ stellte sich der alte Mann vor, froh in dieser unheimlichen Nacht einen Gesprächspartner zu haben, der ihn etwas ablenkte, auch wenn er noch immer etwas misstrauisch gegenüber dem Fremden war. „Ich schnitze und verkaufe Holzfiguren.“ „Lebt Ihr alleine hier?“ fragte Ignor, welchem das Essen außerordentlich gut zu schmecken schien. „Ja, seit meine Frau vor zehn Jahren gestorben ist. Früher hatte ich einen großen Hof in der Nähe des Dorfes, doch da weder meine Kinder noch meine Frau noch am Leben sind, habe ich ihn vor einiger Zeit verkauft und mich etwas zurückgezogen.“ Ignor schaute von seinem Teller auf und unterbrach seine Mahlzeit. „Dann teilen wir beide das gleiche bittere Los“, sagte er traurig, „denn auch meine Geliebte wurde mit vor drei Jahren genommen.“ Die zwei Männer schwiegen und der unheimlich lärmende Wind machte sich wieder bemerkbar. Da Duncan weder Lust hatte über Tote und vergangenes Leid zu sprechen noch sich dieses Unwetter anzuhören, begann er von etwas anderem zu sprechen. „Ihr habt gesagt ihr seid ein Reisender. Wohin reist ihr und aus welchem Grund?“ „Ach, ich wandere hier und dort etwas durch die Gegend“, antwortete Ignor. „Was ihr nicht sagt! Und dass mitten in der Nacht, bei einem Unwetter!“ „Nun, das Unwetter kam ziemlich unerwartet.“ „Die Nacht ebenfalls?“ Duncans Misstrauen wuchs wieder. „Ich kenne mich nicht aus in dieser Gegend. Laut der Aussage eines Händlers, den ich getroffen habe, sollte sich hier ein Dorf auf der westlichen Seite des Berges befinden.“ Duncan lächelte. „Dieser Händler scheint ein Dumkopf gewesen zu sein. Das Dorf liegt auf der östlichen Seite, nicht auf der westlichen. Wenn ihr morgen dorthin wollt, müsst ihr den Pfad, der zu meinem Haus führt zurückkehren und die andere Wegbiegung nehmen. Aber natürlich könntet Ihr auch den kürzeren Pfad nehmen, der von der anderen Seite ins Dorf führt, doch kämt ihr dann am alten Friedhof vorbei.“ „Der alte Friedhof,“ sagte Ignor nachdenklich, „darüber hat mir der Händler auch erzählt. Sagt mir, ist es wahr das dort ein dunkler Zauberkundiger leben soll, oder hat mich der Händler in dieser Sache ebenfalls falsch informiert?“ „Hmpf!“ Duncan machte eine abweisende Geste. „Über den Eremiten, der schon seit Jahrzehnten beim Friedhof wohnt, gibt es unzählige Geschichten. Er soll verbotene schwarze Künste studieren und Umgang mit den Toten haben. Er soll mit ihnen sprechen und sie sogar seinem Willen unterwerfen. Doch was davon wahr ist und was nicht, das kann ich euch nicht sagen. Ich meide den alten Friedhof und die Bewohner des Dorfes machen dies für gewöhnlich auch.“ Ignor, der inzwischen seine Mahlzeit beendet hatte, schien sehr interessiert an dem, was Duncan erzählte. „Sagt mir“, fragte er, „ist es wahr, dass dieser dunkle Zauberkundige schon einmal jemanden von den Toten zurückgeholt hat?“ Duncan schnaubte: „Was fragt Ihr mich, fragt ihn doch selbst. Wer tot ist, ist tot, daran lässt sich nun mal nichts ändern, so sehr wir dies auch begehren. Wir sollten versuchen, die Toten in guter Erinnerung zu behalten und ihr Andenken zu wahren und nicht die grundlegenden Gesetzte der Welt mit dunkler Magie zu brechen! Entschuldigt bitte, dass ich so aufbrausend bin. Lasst uns von etwas anderem sprechen!“. „Wisst Ihr“, sprach Duncan nach einer Weile, seinen Gast direkt in die Augen sehend, „folgendes solltet Ihr bedenken: Wer sich mit dem Tod einlässt, wird nichts anderes als den Tod selbst ernten.“ Eine Weile schwiegen Beide. Der schreckliche Wind hatte aufgehört zu heulen und auch der Regen schien nachzulassen. Schließlich brach Ignor das Schweigen und die etwas bedrückte Stimmung. „Duncan, Ihr sagtet, dass Ihr Holzfiguren schnitztet. Möchtet Ihr mir einige davon zeigen?“. Der alte Mann freute sich über Ignors Interesse und zeigte ihm einige seiner Figuren. Wehrendessen begannen sie über alles mögliche zu reden und waren bald tief ins Gespräch verwickelt – ein Gespräch über wesentlich fröhlichere Dinge als den Tod. Es war sehr spät, als sich die beiden zur Ruhe legten. Duncan konnte Ignor zwar kein Bett, sondern nur einige alte Felle anbieten, die er für ihn auf dem Boden ausbreitete, doch Ignor beklagte sich nicht. Obwohl Duncan dem Fremden noch immer nicht ganz traute und sich fragte, wohin und warum er wirklich reisen wollte, hatte ihn die Gesellschaft des Fremden gefreut. Als Duncan am nächsten Morgen erwachte, war der Fremde weg. Auf dem Tisch lagen einige Kupfermünzen - mehr als genug für die spärliche Unterkunft, fand Duncan. Als er zum östlichen Fenster blickte, glaubte er jemand in der Ferne zu sehen der auf den alten Friedhof zulief. Duncan schüttelte den Kopf. „Du wirst nur den Tod finden, junger Narr!“, sagte er.

Dichter, undurchdringlicher Nebel überdeckte den alten Friedhof. Obwohl es schon Tag und die Sonne schon längst aufgegangen war, war es schier unmöglich, auf eine Entfernung von mehr als zwei Metern irgendwas zu erkennen. Dieser uralte Ruheort der Toten war mehr als nur ein gewöhnlicher Friedhof. Obwohl ich damals noch kein Gespür für die magischen, dunklen Energien der Totenwelt hatte, bemerkte ich doch, dass dieser Ort irgendetwas Unnatürliches an sich hatte. Obwohl mich diese Tatsache auf der einen Seite verständlicherweise beunruhigte, war ich doch erfreut darüber, dass sich die Gerüchte über den sogenannten Nekromanten als wahr erweisen könnten. Ohne zu wissen, wohin ich eigentlich ging, schienen mich meine Füße auf einem verschlungenen Pfad durch den ganzen Friedhof zu tragen. Je weiter ich kam, desto dichter und feuchter wurde der Nebel, bis ich bald kaum mehr meine eigenen Hände erkenne konnte. Schattenhafte Umrisse der vielen halb verfallenen Grabmäler waren überall undeutlich zu erkennen. Dann kamen die Stimmen. Zuerst nur einzeln und flüsternd, dann immer mehr und immer eindringlicher aus allen Richtungen. Obwohl ich ihre Sprachen nicht verstand, glaubte ich, entsetzliches Jammern und Wehklagen zu vernehmen. Ehe ich mich versah, war ich mitten in einem Albtraum gefangen: Die Stimmen wurden bald zu entsetzlichen, kaum ertragbaren Schreien, bald zu höhnischem, boshaftem Gelächter. Als ob dies nicht schon schrecklich genug wäre, beschlich mich eine merkwürdige Kälte. Unruhig vor Angst zitternd, kämpfte ich dagegen an, nicht einfach davonzurennen oder in Panik zu verfallen. Doch der Schrecken nahm nicht ab. Ein seltsames, beklemmendes Gefühl schien mich beinahe zu übermannen und ich bildete mir ein, vom Tod selbst verfolgt zu werden. Als ich plötzlich etwas wie eine nasse Hand auf meiner Schulter spürte, drehte ich mich erschrocken um, doch erblickte ich nichts weiter als den undurchdringlichen Nebel. „Ich fürchte die Toten nicht“, sagte ich zu mir selbst. Das Geschreie und Gelächter der peinigenden Stimmen nahm zu. Gestalten näherten sich. „Ich fürchte die Toten nicht!“, rief ich etwas lauter und mit fester Stimme, obwohl ich am ganzen Körper zitterte und mich so schrecklich fühlte, wie noch niemals zuvor in meinem Leben – mit Ausnahme beim Tod meiner Geliebten vielleicht. Der Gedanke an sie, die Tatsache, dass ich dies alles einzig und allein für sie auf mich nahm, der kleine Hoffnungsschimmer, das mir dieser Nekromant bei meinen Zielen helfen könnte, verliehen mir frischen Mut. Als ich schließlich erkannte, dass die Stimmen nicht abklangen und die Gestalten, welche mit unerträglich langsamer Geschwindigkeit und einem penetranten, fauligen Geruch auf mich zu marschierten, vergammelte, eigentlich leblose Körper waren, nahm ich die letzten Reste meines Mutes zusammen und rief laut und gebieterisch: „hinfort mit euch, Gesindel! Ich fürchte die Toten nicht! Ich fürchte die Toten nicht!“. Und da erstarben, völlig unerwartet, die schrecklichen Stimmen und der Nebel verschwand wie von Zauberhand. Einzig die untoten Gestalten waren noch da, doch blieben diese nun regungslos stehen, als ob sie auf etwas warteten. „Ihr habt wahrhaft Mut, Fremder“, hörte ich eine Stimme hinter mir. Als ich mich umblickte, glaubte ich, einen weiteren Toten zu sehe. Doch der Sprechende war ein in eine schwarze Kutte gekleideter Mann, wenn auch mit einem Gesicht, dass so voller Falten war, dass man auf mindestens einhundert Jahre schätzen konnte. Langsam, doch schneller, als man es bei einem solchen Greis vermuten würde, ging er auf mich zu und sprach: „Dass ihr die Toten nicht fürchtet, das glaube ich nicht. Fast wahnsinnig vor Furcht und Schrecken müsst ihr geworden sein, als ich die Toten selbst gegen euch aufbrachte. Doch habt Ihr bewiesen, dass Ihr diesem Schrecken die Stirn bieten könnt. Dies ist gut.“ „Seid Ihr der Nekromant?“, fragte ich. „So nennt man mich,“ antwortete er, „ich bin Nefastus, derjenige den Ihr gesucht habt. Er sagte mir, dass jemand kommen würde, welcher von mir die dunklen Künste erlernen wolle.“ Dies war wahrlich überraschend für mich. „Wer ist er?“ „Das werdet Ihr womöglich bald erfahren. Er hat mir erzählt, dass ein Fremder kommen würde, der einen Weg sucht, seine Geliebte aus dem Reich der Toten zurückzuholen. Eure Bitte kann erfüllt werden, doch nur wenn Ihr euch mit den Kräften des Todes selbst einlässt, was euch auf einen dunklen Pfad führen kann.“ Die Frage, wer dieser „er“ wohl sein konnte, interessierte mich nun mehr den je. Die Tatsache jedoch, dass es eine Möglichkeit gab, meinen Wunsch zu erfüllen machte mich neugierig. „Sobald ich weiß wer „er“ ist,“ sagte ich zu dem uralten Mann, „hält mich nichts mehr davon ab, alles zu tun was ihr verlangt, wenn Ihr mir helfen könnt, meine Geliebte zu den Lebenden, zu denen sie gehören sollte, zurückzubringen.“ „Wir werden bald zu ihm gehen. Doch zuerst muss ich euch noch eine entscheidende Frage stellen. Sagt mir, Fremder, seid Ihr dazu bereit, jemanden zu töten, wenn es euch von ihm befohlen wird, ganz gleich wer dieses Opfer auch sein mag.“ „Ich bin bereit“, sprach ich nach einem kurzen Zögern, während ich mich selbst fragte, ob ich dies wirklich wäre, wenn es darauf ankäme. Getötet hatte ich schon öfters, schließlich hatte ich viele Jahre im Krieg gekämpft. Doch jemanden außerhalb einer Schlacht zu töten, jemanden, der womöglich nicht einmal etwas Verwerfliches getan hatte, das war etwas anderes. Ein Mörder zu sein, war eine Vorstellung, die mir nicht gerade behagte. Doch in diesem Moment hätte ich wohl alles versprochen und geschworen, um mit ihm über meinen Wunsch sprechen zu können. Ich glaube, der alte Nekromant bemerkte meine Zweifel, denn er sah mich auf eine sehr skeptische Weise an. Schließlich sagte er zu mir: „So folgt mir denn, Fremder!“

Nefastus Stimme hallte laut und machtvoll in der großen Halle der alten, verfallenen und mit Blut verunreinigten Kathedrale wieder, die er sich vor vielen Jahren als Zuflucht gewählt hatte. Dieses Gebäude mochte - genau wie der Friedhof - einst eine geheiligte und geweihte Stätte gewesen sein. Nun war sie ein Ort, an welchem dunkle Rituale durchgeführt wurden. Obwohl sich Nefastus auf die in einer verbotenen, dunklen Sprache verfassten Beschwörungsformeln konzentrierte, hatte er doch einen Seitenblick für den Fremden übrig, der auf den Namen Ignor hörte. Er war doch etwas überrascht gewesen, als ihm mitgeteilt wurde, dass er einen Schüler erhalten sollte. War dies denn nötig? Erfüllte er nicht alle Befehle, die sein dunkler Meister ihm auftrug zu dessen völliger Zufriedenheit? Warum sollte er sein Wissen an jemand anderen weitergeben? Und wenn er schon einen Schüler haben sollte, war dieser Fremde dann der Richtige? Immerhin hatte er sowohl seinen Spukzaubern als auch den Toten, welche Nefastus herbei beschworen hatte, mutig getrotzt. Doch es gehörte noch mehr dazu um ein Nekromant zu werden, als den Toten Angesicht in Angesicht gegenüberzustehen – auch wenn dies der erste Schritt war. Während seinem Nachsinnen achtete Nefastus nur wenig auf die Flammen der rund um den verfluchten Altar aufgestellten pechschwarzen Kerzen, welche sich zu einer unwirklichen Größe aufzubäumen schienen. Genau sowenig kümmerten ihn die dunklen Energien, welche sich von seinem Körper aus durch die Ganze Halle ausbreiteten. Er hatte diese Beschwörung schon unzählige Male vollführt. Ignor jedoch, obwohl er sich sichtlich bemühte, sich nichts anmerken zu lassen, schien zumindest unruhig zu werden. Als sich zunächst langsam, dann jedoch schneller die schattenhafte, kaum von der Dunkelheit zu unterscheidende aber dennoch unendlich bedrohlich wirkende Gestalt seines dunklen Meisters vor ihm manifestierte, wich Ignor schließlich einen Schritt zurück. Kaum hatte der Fremde sich wieder gefasst, begann eine Nefastus nur allzu bekannte Stimme, die sich wie das Stechen tausender Nadeln anhörte, zu erklingen. „Wieder hast du mich gerufen, Nefastus, und wie stets erscheine ich um dir Rat zu geben. Was ist dein Begehr, Nekromant?“ Auch wenn Nefastus sich inzwischen schon lange an die Stimme seines Herrn gewöhnt hatte, verursachte sie doch jedes mal eine gewaltige Ehrfurcht, die beinahe zu Angst wurde, in ihm. „Ich grüße euch, großer Meister der Toten“, sprach Nefastus, „der Fremde, von dem Ihr gesprochen habt, ist hier!“. „Ich spüre seine Anwesenheit. Ihr habt ihn also wie befohlen zu mir gebracht! Sagt mir, Fremder, was wünscht Ihr von einem Meister der Toten?“ Als der alte Nekromant sich Ignor zu wandte bemerkte er, dass dieser völlig bleich geworden war und ihm kalter Angstschweiß auf der Stirn stand. Trotzdem lies seine Stimme nicht viel über seinen Schrecken erraten. „Ich grüße euch … , Meister der Toten. Mein Name ist Ignor und vor drei Jahren habe ich meine Geliebte bei einem brutalen Überfall von Raubrittern verloren. Ihr Tod war sinnlos und schmerzte mich seither sehr. Viele Gerüchte besagen, dass hier auf dem alten Friedhof ein Nekromant leben sollte, der Umgang mit den Toten habe. Er wiederum sprach, dass Ihr mich wohl schon erwarten würdet.“ Die dunkle Gestalt antwortete: „So ist es. Wisse, dass die Toten meine Diener sind und mir vieles von den Lebenden kund tun. In vielen Orten hast du nach Nefastus, dem dunklen Nekromanten, gefragt. Auch von deinem Wunsch weiß ich: Du möchtest diejenige wieder ins Leben zurückrufen, die du einst geliebt hast.“ „Ist es denn möglich?“, fragte Ignor deutlich angespannt, was Nefastus sogleich bemerkte. Erneut erklang die schreckhafte Stimme des dunklen Herrn, die nicht von dieser Welt zu sein schien: „Einer der wenigen Herren der Toten bin ich und so manchen Sterblichen unter dem Namen Orcus bekannt. Auch wenn ich selbst nicht oberster Herr über alle Lebenden und Toten bin, so vermag ich doch Einiges. Alle einhundert Jahre ist es mir erlaubt einen der Toten zu den Lebenden zurückzuschicken. Dafür jedoch müssen andere geopfert werden. Eine Seele für jedes Jahr, dass der Betreffende schon tot ist, so lautet die Bedingung!“ Nefastus schluckte. „Drei Opfer für drei Jahre also? Wenn ich euch drei Opfer bringe, erfüllt Ihr meinen Wunsch?“. „Dies ist der einzige Weg, dem auch ich mich fügen muss. Doch werde ich mit Freuden deinen Wunsch erfüllen, wenn du mir dafür einen bescheidenen meiner Wünsche erfüllst. Einer meiner treuen Diener sollst du werden, ein Schüler von mir und von Nefastus. Alles Macht, welche die Sterblichen über die Toten auszuüben vermögen, sollst du von Nefastus erhalten - er wird dich gründlichst unterweisen. Dienen sollst du mir, bis ich dich entlasse.“ Ignor schwieg. Nefastus, welcher ihn nachdenklich anblickte ergriff nun das Wort: „Ich werde dich unterweisen so gut ich kann. Wie immer erfülle ich die Wünsche von Orcus, meinem großen Meister.“ Wie so oft, wenn Nefastus sich mit seinem Herrn unterhielt, war seine Stimme schmeichelhaft und unterwürfig. „Es liegt an dir, Ignor, ob du deine Frau wieder unter den Lebenden sehen willst“, sprach Orcus nun weiter, „denn ich erzwinge niemandem gewaltsam meinen Willen auf. Wenn du bereit bist ein Nekromant zu werde, musst du mir bis in sieben Tagen einen Dienst zum Zeichen deiner Treue erweisen. Bringe mir das erste der drei Opfer. Töte Oswald, den Vater des Dorfschmiedes!“

Sechs Tage sind verstrichen, seit mir dieses dunkle, unheimliche Wesen den Handel angeboten hat. Heute muss ich mich entscheiden! Wenn ich nur wüsste, auf was ich mich dabei einlasse! Doch weder diese schwarze Gestalt noch der alte Nefastus wollen mir mehr über den Dienst eines Nekromanten verraten, bis ich dieses erste Opfer erbracht habe. Bin ich in der Lage, jemanden zu ermorden? Im Krieg habe ich viele getötet, doch ist es eine Unterschied, ob man jemanden aus Not oder im Eifer des Gefechts tötet um sein Leben und das seiner Kameraden zu retten oder ob man einfach einen Menschen ermordet! Oder etwa nicht? Tot ist tot, soviel steht fest. Ich frage mich, wer die anderen zwei Opfer sein mögen, die danach noch erbracht werden müssen? Ist Oswald jemand, der den Tod verdient? Ich beobachte ihn schon, seit ich mich nach der Begegnung mit dem Nekromanten im Dorf niedergelassen habe. Er ist ein Einzelgänger, der jeden Abend allein ein paar Bier in der Kneipe trinkt und sich ansonsten kaum im Dorf sehen lässt. Er redet nur wenig.. Früher war er ein Schmied doch er hat sich auf Grund seines Alters schon lange in ein kleines Haus am Rand des Dorfes zurückgezogen. Sein Sohn, ein recht gesprächiger und eigentlich ganz lustiger Geselle, hat die Schmiede schon lange übernommen. Dies ist alles was ich über Oswald herausfinden konnte. Ich bin nicht in der Lage, ein Urteil über ihn zu fällen. Ich kenne ihn nicht. Das sollte es eigentlich einfacher machen! Jemanden umzubringen, den man kennt, oder vielleicht sogar schätzt wäre weitaus schwieriger. Außerdem ist er schon alt. Sein Leben würde ohnehin nicht mehr allzu lange dauern. Und was fängt er schon an mit seinen Tagen? Alleine in der Kneipe herumhängen kann kaum ein befriedigender Lebensinhalt sein. Würde ihn überhaupt jemand vermissen? Nun, sein Sohn vielleicht ... Ist es überhaupt richtig, jemandem das Leben zu nehmen? Dürfen wir das als Sterbliche eigentlich wagen? Kann ich mir das Recht herausnehmen, einfach den Henker zu spielen? Meine Gedanken kreisen unaufhörlich in meinem Kopf herum ohne mich zu einem Ergebnis zu führen. Anstatt mir einen klaren Weg zu offenbaren, drehen sich meine Gedanken hin und her, beschäftigen sich mit Leben und Tod, Recht und Unrecht, richtig und falsch. Es gelingt mir, mich selbst für das für und wieder beider Möglichkeiten zu überreden. Letztendlich jedoch landen meine Gedanken immer am selben Punkt: Bei meiner Geliebten!

Müde schlenderte Oswald von der Kneipe nach Hause zurück. Er hatte es nicht besonders eilig. Er hatte es nie besonders eilig. Er war schon alt und hatte all seine Arbeit an seinem Sohn abgegeben, welcher ihn gut versorgte und sich um ihn kümmerte, soweit es seine Zeit zuließ. Sein Sohn arbeitete hart, so wie er einst hart und lange gearbeitet hatte. Doch nun war er in einem Alter, in dem er genug gearbeitet hatte und sich ausruhen konnte. Von seinen alten Freunden lebten nicht mehr viele und von den ganzen Jungspunden kannte er im Dorf nur wenige. Doch es war in Ordnung so. Er hatte nun Zeit, Zeit um nachzudenken und Zeit um seine Gedanken niederzuschreiben. Oswald gehörte zu einem der Wenigen im Dorf, die Lesen und Schreiben konnten. Jeden Tag ging er in die Kneipe um gemütlich das eine oder andere Bier zu trinken und den anderen Gästen zuzuhören. Jeden Abend hatte irgendjemand etwas Interessantes zu erzählen. Etwas, aus dem er zu Hause manchmal eine Geschichte schrieb. Seit dieser Woche hatte er einen Fremden bemerkt, der öfter in die Kneipe kam. Manchmal stellte er den Leuten Fragen über alles mögliche. Er wirkte dabei immer zurückhaltend und freundlich, doch Oswald glaubte, dass er hier war, um irgendetwas herauszufinden. Der Fremde beobachtet ihn. Dies machte er natürlich nicht allzu offensichtlich, doch offensichtlich genug für Oswald, um es zu bemerken. Beobachtete er ihn schlicht aus reiner Neugier? Wer mochte er wohl sein? Ob es über ihn wohl auch eine Geschichte zu erzählen gab? Oswald beobachtet den Fremden seinerseits, jedoch ohne dass dieser es bemerkte. Er schien die ganze Zeit über irgend etwas zu grübeln, mit irgendeinem Schicksal zu hadern oder über eine Entscheidung nachzudenken. Ob er wohl über irgendetwas Kummer verspürte? Mit diesem letzten Gedanken wollte Oswald eben die Tür zu seinem Haus öffnen, als eine Gestalt mit großer Schnelligkeit aus dem Schatten trat und sich mit einem Dolch auf ihn stürzte.

Meine Mühen machen sich bezahlt. Als Lohn für meine Arbeit werde ich mehr erhalten, als ich mir je erhofft hätte, ja mehr noch als ich auch nur gedacht hätte. Ich muss Orcus dienen, solange er es wünscht, doch erhalte ich dafür nichts geringeres als die Unsterblichkeit. Weder Krankheit, noch Alter sollen mir zu Lasten fallen, denn dies ist der Bund, den der dunkle Herr mit den Nekromanten eingeht! Nur wenn mich jemand anderer tötet, erliege ich meinem Schicksal. In seiner Großzügigkeit, wird diese Unsterblichkeit auch meiner Geliebten zuteil, wenn sie gewillt ist, zu den Lebenden zurückzukehren und wenn ich ihr die anderen zwei Opfer darbringe. Für immer werden wir beisammen sein! Nach all dem Kummer, den ich erlitten, werde ich unendliches Glück erfahren. Der Dienst, den ich dafür verrichten muss, ist völlig akzeptabel. Die Nekromanten sind in erster Linie Wächter des Friedhofs, so hatte es Nefastus mir erklärt. Wir sollen dafür sorgen, dass niemand diesen Ort stört, was ohnehin niemand wagt. Des Weiteren sind wir für die ordnungsgemäße Bestattung der Toten zuständig. Da die Menschen aus dem Dorf in Angst vor dem alten Friedhof und dem Nekromanten leben, haben sie schon vor langer Zeit einen neuen, kleineren Friedhof vor ihrer Dorfkapelle errichtet. Einige jedoch haben davon gehört, dass auf dem alten Friedhof einst mächtige Krieger und angesehen Fürsten begraben wurden und glauben daher, dass ein prunkvolles Grabmal an diesem einst so heiligen Ort sich positiv auf den Seelenfrieden der Verbliebenen auswirkt. Die Wenigsten jedoch, so berichtete mir Nefastus, nehmen an den Begräbnisritualen teil oder wagen auch nur eine Schritt in die Nähe des Friedhofs. Sie bringen die Leiche in einem Sarg an das große Friedhofstor, wo sie vom Nekromanten entgegengenommen wird, welcher sich dann um alles kümmert. So hat es auch der Schmied getan, dessen Vater heimtückisch von jemandem umgebracht wurde. Ich half Nefastus bei der Vollführung des Begräbnisrituals und es war mir seltsam zu Mute. Lange hatte ich mit der Entscheidung gehadert, Oswald zu töten und als die sieben Tage schon beinahe vorüber waren, habe ich alles so schnell wie möglich ohne nachzudenken durchgezogen. Danach habe ich jeden Gedanken an die Tat verdrängt. Doch nun steigen sie langsam wieder hervor, die Gewissensbisse. Noch zwei weitere Menschen werde ich für das Opfer töten müssen – und wer weiß wie viele danach, wenn ich ein ausgebildeter Nekromant im Dienste des dunklen Herrn bin? Zum Glück habe ich mehr als genug zu tun, um mich abzulenken. Nefastus besitzt eine große Bibliothek, in welcher sowohl ein umfangreiches Wissen über die verschiedensten Sachthemen von Geschichte über Landeskunde bis hin zu Magie aufbewahrt wird, als auch zahlreiche Abhandlungen über die Nekromantie zu finden sind. Ich habe damit begonnen, alte, verbotene Sprachen und Schriftzeichen zu erlernen und mache dabei große Fortschritte. Die Nekromantie zieht mich langsam immer mehr in ihren Bann. Die Toten fürchte ich inzwischen nicht mehr, da ich des öfteren mit ihnen zu tun habe. Nefastus hat begonnen, mir beizubringen alte, leblose Leichen für einen gewissen Zeitraum zum Leben zu erwecken. Diese sogenannten Ghuls verfügen zwar über keinerlei Verstand und werden einzig durch Instinkte und den Willen des Totenbeschwörers gelenkt, doch eignen sie sich hervorragend für allerlei Arbeiten. Bald werde ich auch lernen, mit den Toten zu sprechen. Es ist wahrhaft eine genau so makabere wie faszinierende Welt, in die ich hier eingetaucht bin. Genau so makaber und faszinierend wie Nefastus selbst. Ich weiß nicht, wie alt der Nekromant wohl sein mag. Dem Aussehen zu Folge und die Tatsache beachtend, dass er durch den Bund der Nekromanten von Orcus die Unsterblichkeit erlangt hat, könnte er älter sein als es ein anderer Mensch auf dieser Welt je war. Obwohl er eigentlich nicht unfreundlich ist, scheint er absolut kalt zu sein. Gefühlsregungen habe ich bei ihm noch nie bemerkt, weder Freude, noch Wut, noch Trauer oder Schrecken. Fürchten scheint er sich ohnehin vor nichts, aber dies scheint nicht allzu verwunderlich, wenn man bedenkt, dass er unsterblich ist und mit den Toten verkehrt. Als Meister ist er sehr geduldig und freigiebig mit seinem geheimen Wissen - wohl weil Orcus ihm befohlen hat, mir alles beizubringen, was er weiß. Was wird wohl geschehen, wenn ich alles erlernt habe? Soll ich dann seinen Platz einnehmen? Wird Nefastus dann von seinen Diensten entlassen? Oder dienen wir gemeinsam dem dunklen Herrn? Doch diese Fragen sind für den Moment nicht von Bedeutung. Wichtig ist nur, dass ich bald wieder mit meiner Geliebten zusammen sein werde. Auf Befehl von Orcus hat Nefastus einige Ghuls zum Friedhof meiner Heimatstadt geschickt, um den Sarg meiner Geliebten aus deren Grab zu holen und hier herzubringen. Ihr Körper soll durch schwarze Magie erneuert werden, so dass ihr Geist dann davon Besitz ergreifen kann. Leider wird es noch eine geraume Zeit dauern, bis der Leichnam hier ist. Die Ghuls bewegen sich nur bei Nacht und dies außerordentlich langsam. Außerdem scheuen sie die Straßen und Ansiedlungen der Lebenden. Aber ich kann warten. Jetzt dauert es nicht mehr lange. Morgen soll ich erfahren, wer das zweite Opfer werden soll. Alle drei Opfer sollen Menschen aus dem Dorf oder näheren Umgebung sein, was mir sehr zugute kommt. Ich kenne in diesem Dorf Niemanden, also kann es mir gleichgültig sein, wer auserwählt wird.

„Schon wieder so eine furchtbare Nacht“, sagte Duncan, der gerade an einer Holzfigur schnitzte, zu sich selbst. Es war mal wieder Neumond und daher stockdüster. Es regnete stark und das Geräusch des Windes glich dem Schrei eines Dämons, der die Lebenden peinigen wollte. Duncan blickte zum östlichen Fenster in die Richtung in der der Friedhof lag. Er fragte sich, was aus dem Fremden geworden sein mochte, der in einer genau so dunklen, regnerischen und stürmischen Nacht wie jetzt dieser so unerwartet an seine Tür geklopft hatte und am nächsten Morgen genau so unerwartet verschwunden war. Duncan schnitze noch eine Weile an seiner Holzfigur. Der alte Mann schnitzte schon seit langer Zeit die unterschiedlichsten Figuren – abstrakte Figuren von Monstern und Unholden, Figuren von Tieren und Figuren von Menschen. Die Figur die er nun schnitzte, war für ihn eine ganz besondere. Sie sollte seinen jüngsten Sohn darstellen, der, wie alle seine Kinder und seine Frau, tot war. Duncan seufzte. Wie so oft fragte er sich, warum ausgerechnet er, der doch schon alt, erschöpft und gebrechlich war, noch lebte und all seine Kinder, die doch jung und voller Tatenkraft waren, deren Leben noch vor ihnen liegen sollte und doch noch gar nicht richtig begonnen hatte, tot waren. Lange Zeit hatte er ein schönes, gemütliches Leben gehabt. Seine Ernte schien vom Glück gesegnet zu sein und sein Hof warf genug für ihn und seine Familie ab. Auch die Steuern waren seit der Herrschaft des neuen Königs einigermaßen menschlich, so das Duncan viele Jahre glücklich mit seiner Familie in Wohlstand leben konnte. Duncan war stets ein Mann gewesen, der mit wenig zufrieden war. Ruhe und Gemütlichkeit, ein gut bestellter Boden, eine zufriedene Familie, mehr hatte er sich nicht gewünscht. Jahrelang wurden ihm diese Wünsche erfüllt - doch dann kam der Tod. Der schwarze Tod, auch als Pest bekannt, hatte die Bevölkerung des Dorfes Orcus dahingerafft. Seine ganze Familie fiel dieser höllischen, gnadenlosen Krankheit zum Opfer - nur er selbst hatte überlebt. Aus welchem Grund, ob dahinter irgendeine sadistische Macht steckte, dass wusste er nicht. Er hatte den Hof, den er alleine nicht mehr führen konnte, verkauft und sich in eine alte, leerstehende Hütte, etwas entfernt vom Dorf zurückgezogen. Seine letzten Jahre verbrachte er hauptsächlich mit dem Schnitzen und Verkaufen seiner Holzfiguren. Wenigstens hatte er schon allein durch den Verkauf des Hofes genügend Geld um sich bei den Bauern mit Essen versorgen zu können. Dennoch ging er immer seltener ins Dorf. Duncan seufzte erneut. Er betrachtet seine Figur um zu überlegen, was er noch verbessern konnte, als er zu der Ansicht gelangte, dass sie, genau so wie war, absolut zufriedenstellend aussah. Mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen betrachtete er sie noch eine Zeit lang und stellte sie dann auf den kleinen Tisch neben seinem Bett, auf welchem auch die anderen Figuren standen, die seine verstorbene Familie darstellten. Es klopfte. Duncan fuhr auf, beruhigte sich aber sofort wieder als er die Stimme erkannte, die er schon einmal gehört hatte. „Duncan, bist du da? Ein durchnässter, geplagter Reisende wünscht eine Unterkunft gegen Bezahlung.“ Duncan musste lachen. Ignor war wieder zurückgekehrt vom alten Friedhof oder wo immer er auch gewesen sein mochte und in einer genau so furchtbaren Nacht wie er damals schon zu ihm kam. Er öffnete die Tür, diesmal völlig sorgenfrei und unbewaffnet – was ihm zum Verhängnis wurde. Ohne das er recht wusste, was geschehen war, spürte er einen starken Schmerz in seiner Brust und sah den Dolch, der darin steckte. Duncan sah in Ignors von einer Kapuze leicht verdeckte Gesicht und konnte, obwohl Ignors Mimik völlig ausdruckslos war, doch eine tiefe Traurigkeit in seinen Augen erkennen, eine Traurigkeit die weitaus größer war als seine eigene. Duncan wurde schwarz vor Augen, er merkte kaum noch, dass er umfiel und seine Welt begann im Schatten zu verschwinden. Doch noch ein letztes Mal öffnete er die Augen und erblickte, den Kopf zufällig in die richtige Richtung gedreht, die Holzfiguren, welche seien Familie darstellen sollte. Mit einem zufriedenen Lächeln auf seinem Gesicht starb er.

Morgen wird mir Orcus mitteilen, wer das dritte Opfer sein soll. Schlimmer als das letzte wird es kaum werden. Ich dachte, es ließe mich völlig gleichgültig, wen ich töten müsse. Ich hatte Duncan vergessen. Zwar habe ich den alten Mann nur einmal getroffen, doch fand ich ihn wahrlich sehr nett und freundlich. Er war jemand, der Niemandem etwas zu Leide tun würde, ja er hat mich sogar aufgenommen, als ich in jener stürmische Nacht zum ersten Mal an seine Türe geklopft habe – und dabei hätte ich ein Bandit oder ein Mörder sein können - so wie ich es bei meinem zweiten Besuch war. Duncan zu töten ist mir noch schwerer gefallen, als Oswald. Ich habe mir eingeredet, dass ich nun nicht mehr von dem düsteren Weg abweichen kann, den ich selbst gewählt habe. Doch dies ist eine Lüge. Ich könnte jederzeit aufhören. Der Pakt, den ich mit Orcus eingehe, tritt erst dann in Kraft, wenn ich mein letztes Opfer dargebracht habe und meine Geliebte wieder ins Leben zurückgerufen wird. Trotzdem konnte oder wollte ich nicht anders handeln - meine Geliebte geht mir über alles. Mit Nefastus Erlaubnis habe ich Duncan auf dem alten Friedhof begraben, direkt neben Oswalds Grab. Dies war ein Fehler. In der letzten Nacht haben die Geister meiner beiden Opfer mit mir gesprochen. Mit den Toten zu reden habe ich inzwischen gelernt, doch normalerweise ist es der Totenbeschwörer selbst, der den Kontakt mit einem Verstorbenen sucht. Leider ist es mir noch verwehrt mit meiner Geliebten zu sprechen. Dies ersehne ich zwar, doch bin ich bereit, das Verbot einzuhalten, da sie ja ohnehin bald bei mir sein wird. Die Geister von Duncan und Oswald jedoch, haben von sich aus begonnen, mit mir zu sprechen, als ich vor ihrem Grab stand - ich weiß selbst nicht, warum ich mitten in er Nacht ihre Gräber aufgesucht habe. Irgendetwas hat mich gelockt. „Töricht bist du, mit dem Tod zu spielen“, erklang Duncans Stimme leise, wie aus einer großen Ferne. „Unrecht ist es, was du tust,“ vernahm ich dann Oswald Stimme, „Menschen ermordest du, die niemandem etwas getan haben nur um deinen egoistischen Wunsch zu erfüllen. Der Tag wird kommen, da du einen Preis für deine Taten zahlen musst!“. „Verlasse diesen Pfad des Bösen,“ sprach nun wieder Duncan, „zu viel Unheil hast du schon angerichtet, doch wie viel wirst du noch anrichten? Deinen Schmerz kann ich nur zu gut verstehen, den auch ich habe meine letzten Jahre ohne meine Familie verbracht. Doch trotzdem solltest die Tatsachen akzeptieren, statt Gott zu spielen. Bedenke meine Worte: Wer sich mit dem Tod einlässt, wird auch nichts anderes finden als den Tod!“ Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Dies war auch nicht nötig, da die Stimmen nicht wieder erklangen. Ist dies meine letzte Gelegenheit, umzukehren? Wenn das dritte und letzte Opfer erbracht wurde, werde ich den Pakt des Nekromanten eingehen und für mich und meine Geliebte, welche dann wieder auf dieser Welt wandeln wird, Unsterblichkeit erlangen. Der Preis für meine Wünsche ist mein Gewissen. Ich stehe so kurz vor meinem Ziel! Kann ich jetzt noch umkehren? Will ich jetzt noch umkehren? Wollte ich dies jemals?

Nefastus beobachtete wie sein Schüler das Ritual der Anrufung detailgetreu erfüllte. Alles in allem war er ein guter Schüler, eifrig, lernbegierig und schnell von Begriff. Seine anfängliche Angst vor der Welt der Toten ist schnell einem immer größer werdenden Interesse gewichen. Auch die Opfer, die er darbringen musste, schienen ihm kein unüberwindbares Problem zu sein. Doch obwohl Nefastus eigentlich hätte zufrieden sein sollen warnte ihn irgendetwas in seinem Inneren. Ignor war zu gut. Er lernte zu schnell. Orcus hatte ihm befohlen, seinem neuen Schüler alles beizubringen, was er wusste. Diesem Befehl musste er folgen, unabhängig seiner eigenen Meinung. Doch wenn sein Schüler bald alles wusste, was er wusste, wozu brauchte Orcus ihn dann noch? Hinzu kam noch das - im Vergleich zu ihm selbst - recht junge Alter. Auch wenn Nefastus unsterblich war und nicht der Altersschwäche erliegen konnte, nahmen seine Kräfte - wenn auch langsam - doch nach und nach ab. Möglicherweise war es gar nicht so gut, wenn Ignor das dritte und letzte Opfer auch noch tötete. Vielleicht wäre es besser, dies zu verhindern – natürlich auf einem Weg, der Orcus verschlossen und nicht begreiflich war. Dies war natürlich alles andere als einfach denn einen Herrn des Todes konnte man nicht so einfach und leichtfertig täuschen. Trotzdem fasste Nefastus den Entschluss, dass er seinen Schüler Ignor daran hindern musste, seinen nächsten Auftrag auszuführen. Dazu musste er nur noch wissen, wer das dritte Opfer werden sollte. Als er eben diesen Entschluss gefasst hatte, manifestierte sich der dunkle Herr - Nefastus hatte das Ritual völlig fehlerfrei ausgeführt. Orcus wandte sich zuerst an Nefastus und sprach: „Sei gegrüßt, alter Schüler. Lange Jahre hast du mir treu gedient. Nun wird dein Schüler bald seine letzte Prüfung absolvieren und danach selbst ein Nekromant sein. Dich aber will ich belohnen. Du brauchst mir nicht länger zu dienen!“ Ehe Nefastus noch etwas sagen konnte, wandte sich Orcus an Ignor und sagte: „Ignor, dein letztes Opfer, welches du unverzüglich darbringen sollst, ist dein Meister, Nefastus, der Nekromant!“ „Was?“, war alles was Nefastus hervorbrachte bevor er von einer seltsamen Kugel aus schwarzer Energie getroffen wurde, welche ihn mehrere Meter durch die Gegend schleuderte und ihm starke Schmerzen zuführte - Nefastus hatte keinen Augenblick gezögert und sofort seien Magie genutzt, um seinen Meister anzugreifen. Während Nefastus sich unter Schmerzen stöhnend aufrichtete, sprach er alte, verbotene Worte. Ein Schreien und Kreischen, noch weitaus fürchterlicher und unerträglicher als alles, was Ignor bei seiner Ankunft auf dem alten Friedhof ertragen musste! Doch Ignor hatte seine anfängliche Furcht längst überwunden und schien sich nicht ablenken zu lassen. Er begann damit, das Feuer der vielen Ritualkerzen zu manipulieren und eine Flammen nach und nach verschwinden zu lassen. Nefastus wusste, das sich seine Befürchtungen als richtig erwiesen hatte: Das Wenige Wissen, dass er noch für sich behalten hatte, konnte ihm im Kampf nicht helfen. Sein Schüler aber, der jung und noch voller Leben und Kraft war, schien all die magischen Zauberrituale mit Leichtigkeit und Schnelligkeit zu beherrschen. In seiner Verzweiflung rief Nefastus Verbündete herbei: Zuerst die schwarzen Raben, welche stets über dem alten Friedhof kreisten, dann die Ghuls, welche sich jedoch nur langsam näherten. Hätte er einen Schutzzauber gegen das, was sein Schüler vorbereite gesprochen, hätte der Kampf vielleicht trotz allen noch anders ausgehen können. Doch Ignor beschwörte die Flammen herauf, die er den Ritualkerzen entzogen hatte und sammelte sie zu einem lodernden Ball aus Feuer. Kleinere Flammenzungen aber lenkte er auf die angreifenden Raben, die schnell das weite suchten. Schließlich bewegte er den Feuerball auf den alten Nekromanten zu, welcher einen flammenden Tod erlitt. Die Ghuls, die Nefastus herbeigerufen hatte, betraten jetzt erst die Halle und schauten teilnahmslos auf die verkohlten Überreste des einstigen Nekromanten.

Nach dem Kampf gegen meinen ehemaligen Meister ergriff, der dunkle Herr, der alles mitangesehen hatte, das Wort: „Du hast deine letzte Prüfung erfüllt und das dritte Opfer dargebracht. Du hast dich außerdem stärker als dein Meister erwiesen. Von diesem Tag an sollst du mir dienen, bis ich dich aus meinen Diensten entlasse, denn du bist nun der neue Nekromant. Nur durch die Waffen eines anderen, aber nicht durch Krankheit oder Alter wirst du sterben, den von diesem Moment bist du unsterblich! Wisse, dass es dir nicht erlaubt ist, dich selbst umzubringen. Ich werde dich sofort wieder ins Leben zurückrufen, wenn du das versuchst, den bei jenen, die erst vor kurzem das Reich der Toten betreten haben, ist mir dies jederzeit erlaubt. Nun aber drehe dich um und erblicke das, was du dir so sehr gewünscht! Der Geist deiner Geliebten darf von ihrem erneuerten Körper Besitzt ergreifen und dann ebenfalls Unsterblichkeit erlangen, wenn sie dies wünscht. Dies muss jedoch innerhalb der nächsten sieben Stunden geschehen. Das ist meine letzte Bedingung!“ Und damit verschwand seine grauenhafte Gestalt. Ich aber erblickte einen verschwommenen Schatten und erkannte den Geist meiner Geliebten. Und in diesem kurzem Moment schien mir mein Herz so unglaublich leicht und ich spürte ein so großes, nie gekanntes Glück wie noch niemals zuvor und niemals seither in meinem Leben. Doch dann begann sie zu sprechen: „Was hast du getan, Ignor? Was hast du nur getan?“ „Ich habe dich zurückgeholt und werde dir ein unsterbliches Leben schenken! Ein unsterbliches Leben, zusammen mit mir, bis an das Ende dieser Welt!“ „Aber um welchen Preis.Ich weiß alles von deinem Bund mit Orcus! Ich weiß, was du getan hast und es schmerzt mich! Vom Bösen besessen bist du, ein Mörder! Nur noch ein Schatten des bewundernswerten Mannes, der du einst warst! Zu solch einem Mann werde ich nicht zurückkehren! Ich bleibe bei den Toten!“


© Benjamin C. Bächle


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Beschreibung des Autors zu "Der Nekromant"

Eine düstere, etwas gruselige und nachdenkliche  Dark-Fantasy-Geschichte über den Tod. (http:\\baechle-arts.jimdo.com)

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