Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

schon Thomas Mann preist in seiner Erzählung „Tonio Kröger“ die Schönheit der perfekten, in reinstem Weiß unter südlicher Sonne stehenden griechischen Statuen. Dabei waren – wie man heute weiß – diese Statuen im antiken Griechenland bunt bemalt, ihr herrliches Weiß hat zwar unsere Rezeption und unsere ästhetische Bewertung geprägt, war aber vom Künstler seinerzeit nicht so gemeint.

Wir beobachten dieses Phänomen auch in anderen Bereichen der Kunst. Reproduktionen von Bildern geben die originalen Farben keinesfalls präzise wieder, sondern erscheinen gedämpfter, gleichermaßen versöhnlicher. Jeder kann das bestätigen, der einmal in den Florenzer Uffizien ein Botticelli-Gemälde im Original gesehen hat, und der – was die Farben angeht – für einen Augenblick meinte, Bilder aus einem Bonbon-Katalog gesehen zu haben. Zumindest ist mir das so gegangen.

Die Art, in der wir Kunst über längere Zeit rezipieren, prägt unsere Wertung. Trotz der Störgeräusche wurde bei Einführung der CD alten Vinylplatten ein „wärmerer“ Klang nachgesagt. Den Klang der CDs empfand man als kalt und in gewisser Weise „unbarmherzig“. Um ehrlich zu sein, ging es auch mir damals so, übrigens auch, als im Radio die klare, höhenreiche UKW-Übertragungstechnik eingeführt wurde. Es hat lange gedauert, bis streng audiophile Musikfreunde störungsfreie, also vom Hintergrundrauschen befreite Musik wirklich akzeptieren konnten.

Im Übrigen verfälschen wir ja eigentlich die Musik auch dann, wenn wir sie auf Instrumenten intonieren, die es, als sie geschaffen wurde, noch gar nicht gab.

Dabei bestreite ich keinesfalls, dass es durchaus interessant ist, Musik auch einmal auf Originalinstrumenten zu hören, aber ist es wirklich auch schöner? Ich finde, liebe Studierende, eine Fuge von Bach schöner, wenn sie auf einem Bechsteinflügel gespielt wird und nicht auf einem Cembalo.

Sie ist eigentlich sogar auch werkgerechter, denn das „punctum contra punctum“ einer Bachfuge wird auf einem Hammerinstrument weitaus klarer dargestellt als durch den schwirrenden Klangteppich, den der Anschlag auf einem Cembalo erzeugt. Es klingt vielleicht etwas überspitzt, aber ich glaube sogar, Bach hätte sein Cembalo eigenhändig aus dem Fester geworfen, wäre es ihm einmal vergönnt gewesen, auf einem Bechstein zu spielen. Die Statur und die Muskelausstattung dazu hätte er ja gehabt. Zwar hätte er es mit Händel nicht aufnehmen können, aber gereicht hätte es trotzdem. Einen Steinway ziehe ich bei diesem Zusammenhang ausdrücklich nicht in Erwägung, da er in Bachs Ohren viel zu metallisch geklungen hätte.

Eine Frage aus einem anderen Bereich der Kunst: Wenn wir Gemälde reinigen oder restaurieren, schaffen wir dann Werktreue? Oder ist vielmehr unsere ästhetische Wertung, die aus der gegenwärtigen Rezeption resultiert, der eigentliche Maßstab, nach dem wir handeln und eine Restaurierung vermeiden müssten?

Verkürzen ließen sich diese Gedanken auf den Satz: „Wer hat recht, der Schöpfer oder der Rezipient?“

Gehen wir noch einmal zu dem zurück, was ich eingangs über die weißen Statuen des antiken Griechenland gesagt habe. Und stellen wir uns in diesem Zusammenhang die Frage: „Welche Rotoren sind – rein künstlerisch betrachtet – schöner. Alte holländische Windmühlen oder moderne Windräder?“

Man könnte ja durchaus argumentieren – ließe man die Sehnsucht nach Romantik und der „guten alten“ Zeit einmal außer Acht – dass anmutige, weiße, schlanke Säulen in der Landschaft, an denen in gemächlicher Anmut perfekt und harmonisch gestaltete strömungsgünstige dreiflüglige Propeller rotieren, eigentlich schöner sind als alte Backsteingebäude, deren Putz bröckelt, und an denen sich knarrend aus groben Holzleisten gezimmerte, mit teilweise verschlissenem Stoff bespannte Räder drehen, die zwar nach damaligem Wissenstand effektiv waren, mitnichten aber schön.

Dass uns das Herz beim Anblick einer holländischen Windmühle aufgeht, aber nicht beim Anblick eines modernen Windrades, hat einen simplen Grund. Die Sehnsucht nach Gefühlen, Romantik und die Erinnerung an die gerade erwähnte angeblich „gute alte Zeit“ ist in diesem Fall zum Bestandteil unserer ästhetischen Wertung geworden. Das kann jeder durchaus nachempfinden, aber ist es auch legitim?

Eher fraglich! Denn es wäre genau so unsinnig, wie wenn man Mozarts „Requiem“ hässlich fände, weil es den Tod zum Thema hat. Oder Munchs „Schrei“ deshalb ablehnte, weil dieses Gemälde die Angst darstellt, und Angst ja etwas Unschönes ist.

Sie sehen, liebe Studierende, dass Wissenschaft sich durchaus nicht nur mit dürren Formeln und dergleichen beschäftigen muss. Auch wir Naturwissenschaftler haben Ohren zum Hören und Augen zum Sehen.

Und seien Sie sicher, dass die Ur-ur-ur-enkel der heutigen Holländer in zweihundert Jahren Romantik-Reisen nach Deutschland unternehmen werden, um aus den Fenstern ihrer Wohnanhänger heraus die Schönheit unserer heutigen Windräder bewundern zu können.

In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.


© Peter Heinrichs


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Ein weiterer "Vortrag" des abgedrehten Professors Anatol Schwurbelzwirn

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Kommentare zu "Über Ästhetik, Bach-Fugen und Windräder (Episode 23)"

Re: Über Ästhetik, Bach-Fugen und Windräder (Episode 23)

Autor: possum   Datum: 26.03.2020 1:08 Uhr

Kommentar: Gerne wieder hier anghealten!

sei lieb gegrüßt!

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