Kurz nach Mitternacht. Ein Rucksack voller Bücher, eine Einkaufstasche und fünf Kilometer Fußmarsch zu bewältigen. So begann eine Wanderung, die mir zu erstaunlichen Erkenntnissen verhalf. Doch lasst mich der Reihe nach erzählen.

Als schreibsüchtiger Workaholic saß ich bis elf Uhr abends an einem Text. Wie immer konnte ich meinen Vorsatz, um neun Uhr Feierabend zu machen, nicht einhalten. Vorsätze eben. Ihr kennt das ja. Aber mein neues Buch war fertig! Ich fühlte mich glücklich und war unheimlich stolz auf mich.

Da nahm man es gern in Kauf, fünf Kilometer mit der Bahn zu fahren, um ein Geschäft zu finden, das noch geöffnet hatte. Es war nach zwölf, als ich aus dem Supermarkt kam und entsetzt feststellte, dass keinerlei Bahnen mehr verkehrten. Was nun? Ein teures Taxi rufen oder mit all dem Gepäck zu Fuß nach Hause gehen? Ich entschied mich für Letzteres.

Die ersten anderthalb Kilometer gingen. Dann meldete sich mein Rücken, und ich war erschöpft von einem 13-stündigen Arbeitstag. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mich selbst bemitleidete. Und das, nachdem ich ein Buch über positives Denken geschrieben hatte! Wenn meine Leser das wüssten ... Moment! Das war die perfekte Gelegenheit, meine eigenen Ratschläge in die Tat umzusetzen.

Erkenntnis Nummer eins: Wir haben immer die Wahl, wie wir uns fühlen wollen.

Das Glück hängt nicht von äußeren Umständen ab, sondern von unserer Perspektive. Glück ist keine Tatsache, sondern ein Gefühl. Und ich konnte jetzt entscheiden, ob ich mich glücklich oder unglücklich fühlen wollte. Worauf wollte ich meine Aufmerksamkeit richten? Auf meine Rückenschmerzen? Oder lieber auf den Vollmond und die hübschen Sternbilder, die am Himmel funkelten? Da war der Orion, der Jäger. Ich sah den Schwan, die Leier mit meinem Lieblingsstern Wega und rechts daneben das Himmels-W. Die Sterne glitzerten, und eine Sternschnuppe blitzte auf. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht.

Eine leichte Brise kam auf und erfrischte mich. Es war angenehm, den Wind auf der Haut zu spüren. Die Baumkronen raschelten kaum vernehmbar, und mein Weg war von leuchtenden Osterglocken gesäumt. Die nächsten zwei Kilometer lagen hinter mir.

Schlagartig wurde mir das Gewicht meines Gepäcks wieder bewusst. Bei jedem Schritt rappelten die Bücher, und ich fragte mich, warum ich so viele eingepackt hatte. Halt! Nicht jammern, befahl ich mir. Was war noch positiv? Auf was konnte ich mich jetzt konzentrieren, um mich besser zu fühlen?

Ein paar freundliche Radfahrer kamen mir entgegen und lächelten mich an. Drüben war eine Fußgängerin unterwegs, die ebenfalls sympathisch wirkte. Rechts von mir lag das Finanzamt. Ich grinste beim Gedanken daran, wie klug ich meine Steuererklärungen schrieb und so eine Menge Geld sparte. Und die nächsten fünfhundert Meter waren geschafft.

Meine Füße hatten sich in Bleiklumpen verwandelt, und die letzten Schritte schleppte ich mich vorwärts. Wie sollte ich den Rest meines Heimwegs schaffen?

Erkenntnis Nummer zwei: Erscheint uns eine Aufgabe zu groß, sollten wir uns nur auf den nächsten Schritt konzentrieren.

Ich musste wenigstens versuchen, zu Hause anzukommen. Einen Schritt. Beine bewegen, die Tüte nicht fallen lassen. Geschafft! Jetzt, noch einen Schritt. Das funktionierte ja wirklich! Nach jedem Schritt fühlte ich die Freude, ihn geschafft zu haben. Diese kleinen Erfolgserlebnisse beflügelten mich. Ich begann, das Gehen als Spiel zu betrachten. Wie viele Schritte würde ich schaffen? Konnte ich den Highscore knacken und mich selbst übertreffen? Siegessicher lächelte ich. Natürlich würde ich es schaffen.

Erkenntnis Nummer drei: Wir schaffen so viel, wie wir uns zutrauen.

Könnt ihr euch vorstellen, wie gut ich mich fühlte, als ich zu Hause ankam? Ich war so stolz, diesen langen Weg mit dem Gepäck gemeistert zu haben.

Rückenschmerzen, na und? Nach meinem Tai-Chi-Training wären die wieder verschwunden. Aber dieser Triumph über die gewonnene Challenge schmeckte köstlich!

Ich legte die Taschen ab, belohnte mich mit einer Runde Tai Chi und fiel glücklich und zufrieden ins Bett. Was für ein wunderschöner Abend! So viele neue Einsichten, so viel erlebte Freude, und dann noch die Inspiration für diesen Text. Danke, lieber Gott. Danke, dass Du mir immer wieder zeigst, wie wunderbar mein Leben ist.


© Varia Antares


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Beschreibung des Autors zu "Erkenntnisse einer Mondnacht"

Glück ist die Fähigkeit, an jeder Situation etwas Gutes zu erkennen.

:-) :-) :-)

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Kommentare zu "Erkenntnisse einer Mondnacht"

Re: Erkenntnisse einer Mondnacht

Autor: Varia Antares   Datum: 08.04.2018 11:01 Uhr

Kommentar: Vielen Dank, liebe Jasmin, auch für das lustige Zitat dazu. :-)

Auch Deine Texte gefallen mir sehr.

LG
Varia

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