Dort, wo sich das Chinesische Reich langsam dem Himalajagebirge annähert, verlieren sich schmale Pfade zwischen den Bergen. Das Gestein wird kahler und kaum ein Wanderer vermag es, die schmalen Wege entlang zu ziehen. Dann aber öffnen sich die Wege ins Nirgendwo und bieten dem erstaunten Betrachter eine wunderbare Sicht auf kleine Täler mit ihrem lockendem Grün und kleinen Wäldchen, denen entlang für gewöhnlich ein schmales Bächlein seinen immerwährenden Weg sucht. Vereinzelt liegen Dörfer an den Ausläufern der Wälder, so winzig, dass sie auf keiner Landkarte verzeichnet sind.
In einem der Täler aber hatte sich ein Fremder niedergelassen. Er selber nannte sich Meister Wu und war eines Tages erschienen, ohne dass jemand zu sagen vermochte, woher er tatsächlich kam. Niemand wusste etwas von ihm zu erzählen; doch wer ihn traf, erkannte an seiner ernsthaften, aufrechten Art sofort, dass es sich um einen Weisen handeln musste und die Bauern der Umgebung bewunderten ihn mit scheuem Interesse.
Meister Wu baute sich eine kleine Hütte an einem Waldesrand und ein schmaler Bach plätscherte ganz in der Nähe dahin, dass man meinen mochte, dies wäre das Paradies, von welchem die alten Schriften berichteten. Selbst das Wasser des Baches floss an dieser Stelle so träge, als wolle es für immer an diesem Ort verweilen. Den ganzen Tag über lustwandelte Meister Wu über die schattigen Ebenen und erfreute sich dessen Anblicks.
Es dauerte nicht lang, bis die reichen Leute der Umgebung davon überzeugt waren, dass es ein Geschenk sei, solch einen Weisen in ihrer Nähe zu wissen und er ihren Kindern, denen sie nur das Beste wünschten, die Wahrheit lehren solle. Meister Wu lächelte milde, als die reichen Leute mit ihrem Anerbieten zu ihm kamen und er erklärte sich bereit, die Schüler bei sich aufzunehmen.
„Doch bedenkt, wenn wir mit so vielen hier wohnen sollen, so benötigen wir ein größeres Haus“, sprach er zu den braven Leuten. Die reichen Leute aber sagten ihm, er solle sich darüber keine Sorgen machen und kaum zogen die sechs Schüler zu ihm an den Bach, ließen ihre Eltern für Meister Wu ein Domizil bauen, welches in seiner Größe und den Verzierungen alle Häuser des Tales übertraf.
Meister Wu schien damit zufrieden, doch gab er weiter zu bedenken:
„Wenn wir alle hier leben, so benötigen wir Nahrung und Kleidung. Ich jedoch bin ein armer Mann.“
Die reichen Leute aber gaben ihm nun monatlich Geld, damit er ihre Kinder erziehen und die notwendigen Speisen zu kaufen vermochte. Meister Wu war damit zufrieden.
So zogen Yi, Teng, Sao, Ping, Wei und Li in das neue Haus den Weisen ein und Meister Wu begann mit ihrer Ausbildung. Die Bauern im Tal waren stolz darauf, dass sie jetzt eine Schule in ihrer Nähe wussten und berichteten ihren Freunden gerne davon, dass der Ruhm von Meister Wu sehr bald bis ins Unermessliche stieg. Und mit der Ausbildung seiner Schüler nahm der Meister es sehr ernst. Er hatte seine Lehre in zehn Weisheiten eingeteilt, die er ihnen im Laufe der nächsten Jahre beibrachte. Von diesen zehn Weisheiten des Meisters Wu sei hier nun berichtet.


Die Weisheit der Gegenwart

Eines Tages kamen die Schüler Wei und Yi hinunter zum Bach, an dem ihr Lehrer seit den frühen Morgenstunden verweilte und setzten sich neben ihn.
Meister Wu rauchte eine Pfeife kostbaren Tabaks und gab sich zufrieden dem Augenblick hin. Sein Schüler Yi blickte gelassen auf das Wasser, auf dem sich die Wellen im leichten Gang des Tages kräuselten. Wei jedoch ließ seine Schultern fallen und seufzte schwer, so dass Meister Wu ihn fragend ansah.
„Was ist mit dir, mein lieber Wei?“ fragte er und zog einen köstlichen Geschmack aus der Pfeife.
„Ach, Meister“, begann sein Schüler niedergeschlagen, „ich frage mich warum das Leben manches Mal so schwer ist? Es gibt Tage, an denen ich vor Glück aufspringen und tanzen möchte. Das Dasein erscheint mir wie ein Schmetterling, der von Blüte zu Blüte fliegt. Dann wiederum erwache ich und finde kaum die Kraft, mich vom Lager zu erheben. Der Tag erscheint mir dunkel und meine Gedanken sind bewölkt. Oh Meister, so sage mir, warum das so ist.“
Meister Wu sah hinüber zu dem Uferbewuchs des Baches und betrachtete die Bienen auf den Sträuchern, wie sie über die Blüten flatterten.
„Mein lieber Wei“, so begann er. „Nichts ist so veränderlich wie das Leben. So wie diese Sträucher sich den einen Tag im Sonnenschein wiegen und am anderen Tage der Regen auf sie herniederfällt. Es verlangt ihnen nach beidem und so ist es auch bei uns Menschen. Wenn wir die dunklen Augenblicke auch nicht preisen, so haben wir sie doch zu erleiden, denn sie zeigen uns die Schönheit des Lebens, die wir danach genießen werden.“
„So sollen wir uns an den glücklichen Augenblicken ergötzen und die schmerzlichen erdulden?“ fragte Wei zweifelnd.
„Wie wahr“, sagte der Meister. „Der Genuss ist es, auf den wir achten sollten. Er macht das Leben süß.“
„Aber Meister Wu“, sprach daraufhin der Schüler Yi. „Besteht das Leben nicht aus einer Vielzahl von Augenblicken? Ist nicht jeder von ihnen unser Leben?“
„Wenn du es sagst“, sprach Meister Wu.
„Wenn dies so ist, dann haben wir nur diesen Augenblick. Die Vergangenheit ist vorüber und die Zukunft ist noch nicht“, sagte Yi. „Nur dieser Moment ist es, den wir leben. Ob wir ihn gut oder schlecht empfinden, mag aus unserer Schwäche entspringen. Der Augenblick aber ist. Und dafür gehört ihm unsere Achtung, denn er wird niemals wieder sein.“
Meister Wu betrachtete weiterhin die Bienen an den Sträuchern und sein Atem ging ruhig. Wei und Yi sahen ihn an und ehrten seine tiefen Gedanken, in denen er wandelte.
„Mein lieber Yi“, sagte Meister Wu dann nach einer Weile, die er genüsslich im Rauch seiner Pfeife verbrachte. „Wie wahr du gesprochen hast. Der Augenblick ist es, den wir zu ehren haben und jeder von ihnen ist gleichermaßen wertvoll.“
Yi nickte froh, die Lehre richtig verstanden zu haben. Er war ein eifriger Schüler, der sich voller Demut danach sehnte, tief in die Geheimnisse des Seins eingeführt zu werden. Meister Wu ehrte diesen Drang und darum sprach er langsam und weise:
„Ich bitte dich, sieh hinüber zu der Wiese dort. Das Gras steht gar zu hoch. Besorge dir eine Sense und schneide es, dass es wieder lieblich das Tal verschönert.“
„Aber Meister“, wagte Yi zu erwidern, „für diese Arbeit brauche ich eine Woche.“
„Was zählst du in Wochen?“ fragte Meister Wu verwundert. „Es sind nur Augenblicke, die sich aneinander reihen und auch wenn du die Wiese schneidest, so ist der Augenblick nicht gut oder schlecht und gleichermaßen zu ehren.“
Yi dachte tief darüber nach. Schließlich nickte er ergeben, stand auf und verließ den Weisen am Bach sitzend. Meister Wu aber gab sich ganz wieder seiner Pfeife hin und betrachtete weiterhin die Bienen an den Sträuchern. Schließlich erhob er sich. Sein Schüler Wei, dessen dunkel umhüllten Gedanken sich derweil geweitet hatten, saß ihm Gras und betrachtete still den Meister.
„Welch ein lieblicher Tag, den es heute zu ehren gilt“, sagte Meister Wu sinnend. „Ich denke ich gehe nun ins Dorf hinunter. Der Augenblick ist so einzigartig, dass ich ein Glas Raki trinken möchte, um ihn zu ehren, denn er wird niemals wiederkommen.“
„Wie weise du doch bist“, sagte Wei ehrfürchtig.


Die Weisheit der Achtsamkeit

Eines Tages ging Meister Wu auf der frisch geschnittenen Wiese spazieren und bewunderte ihre Ebenmäßigkeit. Seine Schüler Sao und Yi begleiteten ihn schweigsam. Sie lauschten den Vögeln in den Bäumen, wie sie ihr Loblied auf das Tal sangen und schwangen im ewiglichen Klang des Seins.
Nach einer Weile meditierenden Schrittes kehrten sie um und als sie sich dem Haus wieder näherten, wies Meister Wu auf eine Steinbank, von der aus sie hinüber zu ihrem Domizil blicken konnten. Meister Wu setzte sich erhaben auf die Bank und seine Schüler kreuzten die Beine und ließen sich auf dem von Leben sprießendem Gras zu seinen Füßen nieder.
Meister Wu hing seinen edlen Gedanken nach und auch seine Schüler bemühten sich, ihm auf seiner huldvollen Reise still zu begleiten. Doch Sao, der jüngste seiner Schüler, war noch so voller Fragen und so kam es, dass er nach einer Weile das suchende Wort an ihn richtete:
„Meister, wie kommt es nur, dass es so viele Menschen gibt und sie einander doch nicht achten? Und auch die Schöpfung, welche uns umgibt, scheint ihnen nichts wert. Sie geben sich der Gier hin und achten misstrauisch nur auf sich selber.“
Meister Wu, in seinen edlen Gedanken, erhob den Kopf und sah hinüber zu dem Haus, welches die Sonne mit ihrer nachmittäglichen Strahlenflut übergoss.
„Mein junger Sao“, sagte er, nachdem er die Frage seines Schülers tief durchdacht hatte, „die Natur ist. Sie kann sich nicht formen, wie die Menschen, denen es gegeben ist, ihren Fluss des Lebens zu lenken. Und wer etwas unter ihnen werden will, muss sich auf sich selber konzentrieren.“
„Aber Meister“, sprach da Sao in all der gebotenen Demut des unwissenden Eleven, „warum sind die Menschen so unterschiedlich? Sie streben nach dem Vollkommenen, das ihnen angeboren ist und doch scheinen sie gar mehr zu sein als ich.“
Meister Wu wiegte den Kopf und ein nachsichtiges Lächeln huschte über seine Lippen. So sprach er:
„Nur wer ernsthaft danach strebt, kann sich erhöhen. Doch ist der Weg lang und nur wenige schaffen es, ihn bis zum Ende zu gehen. So kommt es in unserem irdischen Leben darauf an, was man scheint und nicht, was man ist. Die Blume blüht und betört mit ihrem Duft und ihrer Lieblichkeit. Sie macht sich dabei größer als ihrer Wahrheit entspricht. Lassen wir sie wachsen, es ist ihre einzige Möglichkeit, sich zu erhöhen.“
Da blickte Yi aus seiner meditierenden Stellung auf und fragte seinen Lehrer:
„Aber Meister, heißt es nicht, dass wir erkennen, was wir achten und wenn wir es nicht beurteilen, so können wir es einschätzen. Auch wenn die Blume sich so sehr Mühe gibt, sie bleibt doch, was sie ist; eine Blume.“
„Wie wahr, mein junger Yi“, sprach Meister Wu nachsichtig und der Schüler, in seinem jugendlichen Überschwang, fügte hinzu:
„Und heißt es nicht auch, dass wir auf uns selber achten sollen, damit wir aus den uns zur Verfügung stehenden Mitteln das der Situation am geeignetsten herauszufinden?“
Meister Wu neigte seinen Kopf und sah wieder hinüber zu dem Haus.
„Wie wahr, wie wahr, mein lieber, junger, weiser Yi. Sieh du den Schuppen dort drüben!“
„Diese halbverfallene Baracke?“ fragte Yi und folgte dem Blick des Meisters. „Diese Hütte, in der wir die Gartengeräte aufbewahren und doch nicht schützen können, weil die Bretter so durchlässig sind, dass jeder Regentropfen hindurchgelangt?“
„Ich bewundere deine Wahrnehmungskraft. Auch sie strebt nach der Erhabenheit zurück, die sie einst besessen hat.“
„Ich erinnere mich, dass sie gar nützlich gewesen war, als wir einst in dieses Tal gezogen sind. Doch nun taugt sie nicht mehr für irgendetwas.“
„Ich sehe, du erkennt ihr wahres Wesen. Du bist jung und stark und es scheint mir das beste zur Verfügung stehende Mittel zu sein, sie wieder aufzubauen, dass sie wieder das wird, was sie ist.“
„Aber Meister, dafür brauche ich fast eine Woche.“
„Was ist schon Zeit, mein lieber Yi, auf dem Weg zur Vollkommenheit?“
Meister Wu lächelte sanft zu seinem Schüler hinunter und Yi besann sich einen Augenblick. Dann erhob er sich demütig von seinem Sitz und schritt über die frisch geschnittene Wiese hinüber zur Baracke.
„Meister, auch wenn ich weiß, dass dies der Meditation dient, so scheint sie mir doch als Strafarbeit“, sagte Sao leise.
Meister Wu strich sich eine Weile durch seinen dünnen, weißen Bart und lächelte dann den Eleven sanft an.
„Mein lieber Sao, ich sehe, dass du die Lektion verstanden hast. Die Achtsamkeit hilft den Menschen die Wahrheit zu verstehen. So eile und hilf Yi, dass ihr euch gemeinsam erhöht.“
Meister Wu aber versank höchst zufrieden in den Tiefen seiner Meditation.


Die Weisheit der Entschlossenheit

An einem kühlen Frühlingsmorgen saß Meister Wu im Meditationsraum und dachte über den Sinn des Daseins nach. Es war kühl im Saal und er hatte sich eine Decke über die Schultern gezogen. Mit geschlossenen Lidern verharrte er in dieser Stellung und seine Wimpern zuckten nur einen kurzen Augenblick, als er ein leises Geräusch vernahm.
Ping und Yi waren voll lehrbegieriger Demut in den Raum getreten und hatten sich neben ihren Meister gesetzt. Yi kreuzte die Beine und breitete die Hände aus, während er ebenfalls die Augen schloss. Ping aber fühlte eine Unruhe, dass er es kaum aushalten konnte. Kaum hatte er sich gesetzt, so richtete er das Wort an Meister Wu.
„Meister“, sagte er und sah ängstlich zu dem Entspannten hinüber, „an manchen Tagen fällt mir das Meditieren gar zu schwer. Ich sehne mich dann nach meiner Lagerstatt zurück. Dabei wird mir das Herz so schwer, denn ich weiß, dass ich gefehlt habe. Bin ich kein guter Schüler?“
Langsam hob Meister Wu die Augenlider und trat zurück in die irdische Welt. Er wandte dem Eleven seinen lächelnden Blick zu.
„Mein lieber Ping, das ist mir erklärlich. Die Last des Tages drückt schwer auf dich. So gräm dich nicht darüber. Genieße den Augenblick und wenn du ihn auch nicht in Meditation beschließen kannst, so folgt alsbald ein neuer Tag, an dem du mit doppelter Freude alles nachholen kannst, das du versäumtest. So laufe nur und komme morgen wieder gereinigt zu mir.“
Ping lächelte daraufhin dankbar und sprang auf. Meister Wu nickte ihm wohlwollend zu. Dann wandte er den Kopf ab und schloss erneut die Augen, um sich in seinen tiefen Bedenken zu versenken. Er hörte die eiligen Schritte, mit denen Ping hinauslief und war zufrieden.
„Aber Meister“, warf Yi daraufhin ein, der immer noch neben ihm saß, „heißt es nicht, dass der Wille ohne Entschlossenheit nur ein Klotz am Bein ist? Ist es dann nicht unsere Pflicht, zu meditieren, auch wenn es uns schwer fällt?“
„Nur, wenn wir es so empfinden, mein junger Schüler“, entgegnete der Lehrer milde.
Doch Yi war lernbegierig auf seinem Weg zur Erleuchtung und so sprach er weiter.
„Disziplin ist es, die uns entschlossen handeln lässt. In den Schriften steht, dass man das Schwert nur ziehen soll, wenn man bereit zu töten ist.“
Meister Wu nickte traurig mit dem Kopf, während er sich weiter auf den Pfad des Friedens leiten ließ.
„Ist das Leben gar zu niedrig einzuschätzen, dass wir es nicht auch morgen beenden können?“ entgegnete er seinem Eleven.
„Wir sollen Dinge ganz tun oder lassen. Die Trägheit schwächt die Entschlossenheit“, sprach Yi ein wenig stolz, bereits so viel über die Weisheit gelernt zu haben.
Meister Wu öffnete die Augen und sah milde zu seinem Schüler hinüber.
„Wie wahr du sprichst, mein lieber Yi“, sagte der Meister daraufhin. „Wenn wir Dinge halb nur tun, nehmen sie uns die Kraft, welche wir so nötig haben. Darum sollen wir bedenken, was wir tun und das dann vollständig.“
„Warum ließet ihr Ping dann gehen?“ fragte Yi.
Meister Wu lächelte, dass seine Augen im sanften Schein der Lampe leuchteten.
„Er hätte heute nicht meditiert, morgen aber wird er dafür doppelt bereit sein.“
„…oder weniger Lust als heute verspüren“, warf Yi ein.
„Wer sind wir, dass wir urteilen dürfen?“ fragte Meister Wu. „Doch hast du Recht, mein guter Yi, nur Entschlossenheit führt zur Erkenntnis. Hast du die Küche heute schon besucht?“
„Dorthin gehe ich nie“, entgegnete Yi, verwundert über diesen Gedanken des Meisters.
„Wie schade“, bemerkte Meister Wu daraufhin. „Du hättest sicher gesehen, dass die Balken des Daches bereits beginnen, zu verrotten. Sie stützen unser Haus. Geh und tausche sie aus.“
„Aber Meister“, rief da Yi, „das ist eine Arbeit für zwei Männer und sie dauert mehrere Tage.“
„Ein Grund mehr, sofort damit zu beginnen. Wie du bereits sagtest, schwächt die Trägheit die Entschlossenheit. Und wenn du mit dem Austausch begonnen hast, so beende die Arbeit.“
Der Schüler Yi sah ein, dass er gegen seinen Meister nichts erwidern konnte und erhob sich zögernd.
„Sei gewiss, du befindest dich bereits auf halben Weg zur Erkenntnis“, sagte Meister Wu und nickte ihm zu. Dann schloss er wieder die Augen. Er war gar zu müde und dass die beiden Schüler ihn dabei gestört hatten, als er gerade im Begriff stand, sanft zu entschlummern, war nur gar zu ärgerlich.



Die Weisheit der Menschlichkeit

Jeden Morgen kam ein Bauer aus dem Dorf herüber und brachte eine Kanne Milch vorbei. Er hatte sie auf eine zweirädrige Karre gestellt, die er selber den langen Weg zur Schule des Weisen zog. Schon früh am Tage, wenn die Sonne gerade begann, das Tal in goldene Strahlen zu tauchen, erreichte er das Haus.
Zumeist saß Meister Wu vor dem Eingang und meditierte sich in den Tag hinein, wenn der Bauer seinen Holzkarren vor der Tür hielt und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Daraufhin hob er die Milchkanne herunter und stellte sie vor dem Weisen auf den Boden.
„Lasst es euch wohl schmecken“, sagte der Bauer zu Meister Wu und er dankte ihm demütig. Sobald sich der Spender jedoch auf seinen Weg ins Dorf zurück machte, rief der Meister seinen Schüler Ping herbei.
„Mein lieber Ping“, sprach der Meister und deutete dabei auf die Kanne. „Nimm diese Milch und gehe damit ins übernächste Dorf. Dort verkaufst du sie und kommst zurück.“
Ping übernahm die Kanne und machte sich mit dem schweren Ballast auf in das übernächste Dorf. Des Nachmittags kam er mit ein paar Münzen zurück und überreichte sie dem Meister, der sie wohlgefällig entgegennahm und in seine Schatulle steckte.
Eines Tages kam Yi zu dem Meister. Er hatte das Schauspiel täglich beobachtet und beklagte sich nun bitterlich darüber.
„Mein wohlverehrter Meister, das ist nicht recht. Jeden Morgen bringt uns der Bauer die Milch, damit wir uns an ihr laben mögen. Wenn wir sie nicht trinken, so könnte er sie auch dem nächsten Markt verkaufen.“
Meister Wu lächelte seinen Schüler an, während er sich zu seinem wohlverdienten Frühstück niederließ.
„Mein lieber Yi“, sagte er, „wie wohl du gesprochen hast. In dir wohnt die Weisheit des Universums. Doch sollen wir dem Bauern Leid zufügen, indem wir seine Gabe ablehnen?“
„Der Bauer ist so arm“, sprach Yi unverdrossen. „Er könnte die Milch selber verkaufen und ein paar Münzen verdienen.“
„Was bedeutet schon Geld? Ich gebe ihm viel mehr. Eine gute Seele. Er ist stolz darauf, uns seine Milch zu bringen. Ich ehre ihn, indem ich sie ihrer Bestimmung übergebe. Alles hat seinen Grund und ich handele zu unserem Besten.“
„Aber Meister, heißt es in den Schriften nicht auch, dass man sich von den übernommenen Meinungen lösen und selber prüfen sollte? Sind es nicht die Vorurteile, die Waffen in der Hand des Gegners schaffen?“
„Wie wahr du gesprochen hast, mein lieber Yi. Du kennst den See dort unten in der Senke, auf dem wir unseren Lotosteich anlegen wollen?“
„Der verschmutzte Tümpel, in dem die Gräser auf dem Grund wachsen und die Klarheit des Wassers verdüstern?“
„Sehr wohl“, sagte Meister Wu. „Geh hinunter und reinige ihn.“
„Aber Meister“, protestierte Yi. „Auch wenn ich ihn reinige, so ist er morgen wieder verschmutzt. Was nützt uns diese Arbeit?“
Meister Wu legte seine Stäbchen beiseite und lächelte seinen Schüler an.
„Löse dich von deinen Vorurteilen.“
Yi senkte den Kopf und nickte. Dann wandte er sich um und ging hinunter zu dem See. Nun war es Li, der dieser Unterhaltung beigewohnt hatte, der das Wort ergriff.
„Verehrter Meister“, sagte er. „Yi hat Recht. Morgen ist der See bereits wieder verschmutzt. Was nützt es da, wenn er ihn heute reinigt?“
Meister Wu sah zu ihm hinüber und lächelte milde.
„Alles beginnt immer wieder von vorne und hat seinen Grund. Es geschieht wie es geschieht und doch steht es uns nicht an, darüber zu urteilen. Und wenn ich es recht bedenke, so könntest auch du dem Lauf der Dinge dienen.“
Da senkte Li den Kopf und sagte:
„Der Lauf der Dinge ist unaufhaltsam. Wie können nicht darüber entscheiden, aber wir können sie unvoreingenommen bewerten. Der See verdreckt im gleichen Maße, egal ob ich ihn reinige oder nicht. So möchte ich den See doch lieber seiner Bestimmung nach dort unten schlummern lassen, als ihn durch meinen Eingriff entehren und er einen Tag benötigt, um den Zustand wieder herzustellen, den er für sich entschieden hat.“
„Wie wahr du gesprochen hast“, sagte Meister Wu und widmete sich wieder seinem Frühstück.



Die Weisheit der Enthaltsamkeit

Eines Tages kam der ehrwürdige Bürgermeister der guten Leute des nahen Dorfes zu Besuch. Er brachte seinen Schreiber mit, um sich selber davon zu überzeugen, welch lieblichen Anblick der Garten des Meister Wu bot, von dem er schon so viel gehört hatte.
Meister Wu rief all seine Schützlinge herbei und sie begrüßten den hohen Besuch auf der Verandatreppe ihrer Schule. Der Bürgermeister war ein gewichtiger Mann. Würdevoll schritt er Meister Wu entgegen, der ehrerbietig seinen Kopf beugte.
„Ihr ehrt uns mit eurem Besuch“, sprach Meister Wu und wie zur Bestätigung nickten seine Schüler dazu.
„Es ist eine Ehre für unser ganzes Dorf, dass solch ein weiser Mann sich in unserer Gegend niederlässt“, entgegnete der Bürgermeister in einer nicht minder tiefen Verbeugung.
„So kommt herein und lasst euch alles zeigen“, bot Meister Wu an und klatschte in die Hände. Dienstbeflissen ließen Pi und Wei herbei. Pi brachte eine Schale mit Wasser und hielt sie dem Bürgermeister entgegen, während Wei ein Handtuch bereithielt. Der Bürgermeister wusch sich die Hände.
„Nun lasst euch das Haus zeigen“, sagte Meister Wu würdevoll und ließ den Bürgermeister zwei Schritte vorangehen.
Sie gingen durch den Wohnraum und den Schlafräumen. Der Bürgermeister inspizierte wohlwollend die Küche und Meister Wu lächelte dabei.
„Das ist alles sehr schön“, sagte der Bürgermeister abschließend und nickte Meister Wu zu.
Der Meister verneigte sich tief.
„Wir freuen uns, dass unser bescheidenes Heim Euch gefällt. Meine Schüler und ich sind stets bestrebt, dass dieses Haus ein Ort der Oase wird. Allein ein Ort ist es, der dieses Tal mit Schande bedeckt. So schaut dort hinüber!“
Meister Wu war zum Fenster getreten und zeigte hinaus auf einen sanften Hügel, der sich hinter dem Teich erhob und malerisch in seinem saftigen Grün lag. Der Bürgermeister sah hinaus und drehte sich dann erstaunt zu dem Gastgeber um.
„Ein lieblicher Hügel“, sagte er. „Doch was meint ihr? Ich sehe nichts weiter als das Grün des Tales, welches euch so wunderbar einbettet.“
„So ist es“, sprach Meister Wu. „Wie gar zu schön wäre es doch, wenn sich dort ein Pavillon erheben würde. Zu Ehren des Dorfes, wie sich versteht.“
Der Bürgermeister rieb sich daraufhin am Kinn.
„Nun, mein lieber Meister Wu, Euer Ansinnen kann ich wohl verstehen, doch braucht es wohl gar zu viel Geld.“
„Bedenkt, in welcher Pracht er sich dort vor dem See entfalten würde. Am Abend, wenn die Sonne hinter den Bergen versinkt, ist dort der Ort der Meditation. Ich weiß gar zu gut, dass ich gerade an diesem Platz meine Schüler noch viel besser in all die Geheimnisse der Weisheit einweisen könnte, im Pavillon des ehrenwerten Bürgermeisters.“
Der Bürgermeister überlegte eine Weile und nickte dann.
„Nun gut, mein lieber Meister Wu, wenn es euch nach diesem Pavillon gar zu sehr verlangt, werde ich sehen, dass sie das Geld dafür bekommen.“
Meister Wu lächelte und verneigte sich tief. Dann führte er den Bürgermeister weiter durch das Haus und als sie den Tee getrunken hatten, verabschiedete sich der hohe Herr des Dorfes wieder. Meister Wu stand mit seinen Schülern vor dem Haus und sah ihm zufrieden nach.
„Meister“, sprach der Schüler Yi. „War es recht von euch, das Geld für einen neuen Pavillon zu erbeten? Haben wir nicht schon alles, was wir benötigen?“
„Das Streben, mein lieber Yi, verlangt es, dass wir stetig versuchen, uns zu verbessern.“
„Aber lehrt uns die Enthaltsamkeit nicht, Verzicht zu üben? Ist es nicht so, dass der Entschluss des Nicht-Besitzen-Wollens die süßeste Frucht der geistigen Disziplin sei?“
„Wie wahr du sprichst, du nimmersatter Schüler“, sagte Meister Wu. „Die Enthaltsamkeit ist das höchste Gut, das wir erlangen können. Doch wie soll ich sie schätzen und üben, wenn ich nicht die andere Seite kenne? Wie kann ich in süßester Pein auf etwas verzichten, was ich nie besessen habe?“
„Die Demut ist es, die uns als Belohnung winkt.“
„Ein gar erstrebenswertes Ziel.“
Die anderen Schüler waren inzwischen aus dem Haus getreten. An diesem Nachmittag hatte Meister Wu ihnen gestattet, hinunter ins Dorf zu gehen und ihre Familien zu besuchen.
„Bist du bereit?“ fragte Sao Yi und als dieser sich umwandte sprach Meister Wu:
„Mein lieber Yi, die Vorratskammer ist arg in Unordnung geraten. Ich bitte dich, sie heute Nachmittag aufzuräumen.“
„Aber Meister“, sprach Yi. „Ich beabsichtigte, mit meinem Freunden hinunter ins Dorf zu gehen und meine Familie zu besuchen. Die Vorratskammer kann ich morgen auch aufräumen.“
„Mein lieber Schüler“, sagte Meister Wu daraufhin würdevoll. „Ich kann dein Verlangen verstehen und die Freude, die dich übermannt. Doch ist es gerade der Verzicht auf diese Freude, die süßeste Frucht der Demut, die ich dir gestatte, heute zu erlangen. Ich beneide dich gar darum. Du weißt, vorauf du verzichtest.“
Yi senkte den Kopf und trottete ins Haus zurück. Meister Wu aber sah hinüber zu dem kleinen Teich und dem Hügel, der sich dahinter sanft an das Ufer schmiegte und er lächelte demutsvoll.


Die Weisheit der Nachahmung

Eines Tages kam ein edler Mann der Umgebung zu der bescheidenen Behausung des Meisters Wu. Es war früh am Morgen und die Sonne war gerade über den Wipfeln der Berge aufgegangen, als er den Weg aus dem vom nahen Dorf her entlangschritt. Hinter ihm trabte Tia, sein zwölfjähriger Sohn mit gesenktem Kopf.
Meister Wu saß vor dem Haus und blickte den beiden Besuchern gelassen entgegen. Wei hatte ihm eine Schale Tee zubereitet und er freute sich des Lebens.
Der edle Mann kam gemessenen Schrittes daher. Als er Meister Wu erreicht hatte, blieb er stehen und verneigte sich tief. Sein Sohn, dicht hinter ihm, hielt immer noch den Kopf gesenkt, als warte er, was sein Vater nun sprechen würde.
„Seid gegrüßt, Meister Wu“, begann der edle Mann. „Die Größe eures Namens durchzieht das Tal und ihre Weisheit nährt den Boden, dass wir Halt und Erleuchtung finden.“
Meister Wu neigte bescheiden den Kopf und erwiderte:
„Seid mir ebenfalls gegrüßt, edler Herr. Ihr versüßt mir den Tag mit Eurer Anwesenheit in unserer niedrigen Hütte.“
Nun war es wieder an dem Herrn, sich zu verneigen und nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, trat er einen Schritt zur Seite.
„Dies ist mein Sohn, Tia“, sagte der edle Herr und wies auf den Jüngling. „Ich bitte euch, sich seiner anzunehmen, damit er von Eurer Weisheit kosten kann und sie ihm Erleuchtung bringen mögen.“
Dem Jungen schien die Rede gar nicht zu gefallen. Er trat von einem Fuß auf den anderen, als wolle er dem Tag entfliehen. Doch des Vaters strenger Blick hielt ihm auf der Stelle. Meister Wu betrachtete den Jüngling und auch seine Schüler, die ein Stück weit abseits standen und neugierig die Hälse streckten.
„So trete heran, mein Sohn, dass ich dich betrachten kann“, sagte Meister Wu erhaben.
Der Jüngling blieb auf der Stelle stehen, dass der Vater ihm die Hand auf den Rücken legte und vorwärts schob. Tia tat ein paar Schritte und blieb vor Meister Wu stehen, ohne den Kopf zu erheben. Der Meister betrachtete ihn eine Weile und sagte dann:
„Du weißt, dass die Lehre ein langer Pfad zur Erleuchtung ist. So sprich zu mir, ist dein Herz bereit, den Weg zu betreten?“
Nun hob Tia den Kopf und trotzig sah er Meister Wu in die Augen. Sein Reden aber verriet die Demut, die der Vater von ihm erwartete.
„Werter Meister“, sprach der Jüngling. „Der Weg zur Erleuchtung besitzt viele Abzweigungen und nicht jeder von uns ist ausersehen, den wahren Pfad zu beschreiten. Ich bin noch jung und mir verlangt es, meinen Weg noch zu suchen.“
„Wir alle sind Suchende“, sagte Meister Wu und wiegte den Kopf bedächtig. „Die alten Lehren zeigen uns die Richtung, die schon viele beschritten sind. Ihnen nachzustreben gilt es.“
„Oh Meister“, sagte Tia daraufhin voller Demut, „wie soll mir einer der edlen Weisen den Weg zeigen können, war er doch ein anderer Mensch? Ich möchte selber herausfinden, was mein Schicksal ist, denn niemand kann es für mich tragen.“
Meister Wu musterte den Jüngling und sah dann zu dem edlen Herrn hinüber.
„Mir scheint, euren Sohn verlangt es nach eigener Erfüllung, die er in diesem Hause wohl nicht erlangen mag“, sprach der Meister.
„Es fehlt ihm eine Hand, die ihm die Richtung weist“, sprach der edle Mann und verbeugte sich wieder. „In eurer Güte könnt ihr ihm lehren, was ihm fehlt und meine Dankbarkeit, so niedrig ich sie auch entlohnen kann, soll eurem Haus in Käschmünzen zufallen.“
Meister Wu nahm sein Schälchen Tee und nahm bedächtig einen Schluck, als bedenke er das Gehörte sorgsam.
„Ich sehe“, sprach er nach einer Weile, „dass euer Ansinnen ernsthaft ist. Die Lehren sind weise und es braucht lange, um sie zu verstehen. Doch sind sie offen für alles Denken und Streben. So bleibe bei uns, lieber Tia, und suche deine Erleuchtung, wie es dir gelüstet.“
Hocherfreut verneigte sich der edle Herr und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter.
„So sei dies nun dein neues Zuhause, welches dir in Freude ins Herz bringen mag. Meine Dankbarkeit werde ich ihnen jeden Anfang des Monats persönlich bringen und sehen, wie mein Sohn sich entwickelt, Meister Wu“, sagte er.
Daraufhin verneigte er sich erneut und verließ den Ort, an dem er Tia allein vor Meister Wu stehen ließ. Der Meister wandte sich nach Sao um und winkte ihn herbei.
„Zeige unserem neuen Schüler die Behausung“, wies er Sao an, der sich mit einer tiefen Verneigung näherte.
„So sei es, Meister“, sprach der Jüngling, nahm den neuen Schützling an die Hand und zog ihn mit sich ins Haus.
Nun war es Yi, der an Meister Wu herantrat, um die Weisheit zu erblicken.
„Mein Meister“, sprach er. „Wie kann Tia den Pfad der Erleuchtung finden, wenn er keine Anleitung erfährt?“
Meister Wu nahm bedächtig einen Schluck Tee aus der Schale und setzte sie auf dem kleinen Tischchen ab. Dann sprach er:
„Jeder sollte sich seinen eigenen Weg suchen. Macht er es anders, als alle anderen, wird er seinen Weg finden.“
„Heißt es in den Lehren nicht, es gibt immer drei Wege der Entscheidung. Der Erste ist der durch Nachahmung, das ist der Einfachste. Der Zweite ist der durch Überlegung, das ist der Edelste, der Dritte durch Erfahrung, das ist der Bitterste?“
„So mag es sein“, sprach Meister Wu. „Und dennoch führen sie alle an das Ziel. Die Natur schafft immer von dem, was möglich ist, das Beste.“
„Oh Meister“, entgegnete Yi, „die Lehre sagt uns, dass wir durch Nachahmung tiefe Einblicke in das Wesen des anderen erhalten. Sie offenbart uns sein Denken, seine Gefühle und erlaubt uns, seine Handlungen und Reaktionen auf unser Verhalten vorherzusagen. Wir ahmen in unserem täglichen Tun die alten Meister nach, um uns tief in die Wahrheit versenken zu können. Wie kann der junge Schüler den Weg finden, ohne die Meister zu verstehen?“
„Wie wahr du sprichst, mein lieber Yi“, entgegnete Meister Wu. „Und doch wird Tia es tun. So hab Geduld mit ihm, mein junger Schüler. Derweil nehme die kleine Sichel aus dem Haus und gehe in die Berge, um einen Sack voll Heilkräuter zu schneiden.“
„Aber Meister“, sprach Yi. „So viele gingen schon in die Berge, um sie Kräuter ins Tal zu bringen. Doch das einzige, was sie fanden, war Stille in den lichten Höhen.“
„So kamen sie den Erleuchtung ein Stück näher und die Nachahmung ist der einfachste Weg. Ich wünsche dir viel Glück bei deiner Suche.“
Meister Wu lächelte seinem Schüler zu. Yi verneigte sich tief und ging ins Haus, den Sack und die Sichel zu holen. Derweil sah Meister Wu über die Wipfel der Bäume in die Sonne, deren Glanz einen schönen Tag für das Tal verkündete.


Die Weisheit der Gelassenheit

Einmal im Jahr fand in dem Dorf ein Jahrmarkt statt. Wie überall auf der ganzen Welt kamen die Bauern des umliegenden Landes zu diesem Tage zusammen. Sie staunten über Jongleure und ließen sich von den phantasievollen Aufführungen des Theaters verzaubern.
Sie schlenderten an den Ständen vorbei, an denen die Händler ihre Waren feilboten und trafen sich im Teehaus zu einer würdevollen Pause. Manche von ihnen nutzten die Gelegenheit auch, ihr Glück beim Würfelspiel zu suchen, und wenn sie des Abends nach Hause schlichen, so blieb ihnen nichts weiter als das Loch in der Hosentasche, das nun schwerer wog als die Käschmünzen, die sie am Morgen zum Jahrmarkt getragen hatten.
Auch die Schüler des Meisters Wu freuten sich auf diesen Tag, zumal sie alle an diesem Tag ins Dorf gehen wollten und somit die Gelegenheit bekamen, ihre Familien zu besuchen.
Bereits früh am Morgen hatten sie sich in ihre schönsten Gewänder gekleidet und warteten auf ihren Meister, der ihre kleine Gesellschaft anführen sollte. Meister Wu ließ auf sich warten. Schließlich aber erschien er doch, vergrub die Hände in den Ärmelaufschlägen seines Gewandes und nahm den Weg hinunter in Richtung des Dorfes.
Die Einheimischen bestaunten den Trupp, als er über den staubigen Pfad die Berge herunterschritt. Meister Wu achtete nicht darauf und seine Schüler warfen nur einige wenige verstohlene Blicke um sich. Aber sie wagten es nicht, die Reihe hinter dem Meister zu verlassen.
Sie sahen all die Lustigkeit des Jahrmarktes; Meister Wu jedoch ging an ihnen achtlos vorbei bis zu dem Brunnen, welcher sich in der Mitte des Dorfes befand. Dorthin setzte er sich und blinzelte zufrieden in die Sonne. Die Schüler standen um ihn herum und warteten.
Es dauerte nicht lange, bis ein Bauer kam und den Meister um Rat fragte.
„Werter Meister Wu“, begann der Bauer schüchtern und verbeugte sich mehrmals tief, dass seine Stirn fast den Boden berührte. „Ihr seid der Weiseste im ganzen Reich. So komme ich zu euch, der mir sicherlich helfen kann.“
„So sprecht, mein lieber Bauer“, nickte Meister Wu würdevoll. „Was ist euer Begehr?“
Wieder verneigte sich der Bauer tief und einen Augenblick schien er zu zögern. Dann aber sagte er:
„Den ganzen Morgen spiele ich nun schon Würfel und habe fast alles bereits verloren. Oh, wie wird meine Frau mich schimpfen, wenn ich nach Hause komme. So sagt mir, werter Meister, was kann ich nur tun?“
„Dies ist wahrlich eine arge Bedrängnis“, sagte Meister Wu, als er eine Weile darüber nachgedacht hatte. „Doch ist auch in dieser Lage ein Rat besser als alles Gold der Welt. So verdoppelt euren Einsatz bei jedem Mal wenn ihr verliert. So mögt ihr, wenn ihr gewinnt, den Verlust sogleich ausgeglichen haben. Das Glück ist niemand hold und wechselt wie es mag. Seid versichert, dass es sich auch eurer erinnern wird.“
„Ein wahrlich guter Rat“, sagte der Bauer und verneigte sich erneut tief.
Eiligst lief er hinüber zu den Männern, die um die Würfel vereint standen und in ihr Spiel vertieft waren. Die Schüler hatten diese Szene beobachtet. Als Meister Wu wieder zufrieden in die Sonne blinzelte, fragte Yi:
„Aber Meister, warum habt ihr den Bauern wieder zurück zu dem Spiel geschickt. Heißt es nicht, dass Emotionen unsere Gedanken vernebeln? Und ist nicht das bewusste Nicht-Tun ein wirksames Mittel der Verteidigung?“
„Wie wahr du gesprochen hast, mein lieber Schüler“, bestätigte Meister Wu.
Yi aber war über seine Ausführungen so begeistert, dass er hinzufügte:
„Ein wütender Mensch übt sich in Gewalt. Aber er hat keine Kontrolle über die Situation und die Konsequenzen seines Handelns. Das Nicht-Tun siegt, wenn es mit der richtigen Entschlossenheit eingesetzt wird.“
Meister Wu sann einen Augenblick über die Worte nach. Dann aber hob er den Kopf in Richtung seines Schülers.
„Mein lieber Yi, aus dir spricht die Weisheit“, sagte er. „So gehe zurück und meditiere in deinem Zimmer bis zum Abend.“
„Aber Meister, wir wollten doch alle den Jahrmarkt genießen“, begehrte Yi auf.
Meister Wu sah ihn an und lächelte.
„Emotionen, mein lieber Yi, vernebeln unseren Geist. Ein wütender Mensch hat keine Gewalt über sich. So gehe und übe dich, deine Emotionen zu zügeln. Wenn das Verlangen über dich kommt, so tue und sage nichts. Atme langsam ein und aus und warte, bis dein Geist wieder ruhig und klar ist.“
Daraufhin senkte Yi den Kopf, wandte sich um und trottete in Richtung des lieblichen Tales davon.
Die anderen Schüler übten sich in der Weisheit und sagten nichts. Ihnen war der Jahrmarkt an diesem Tage lieber.


Die Weisheit der Langsamkeit

Als der Winter über die Berge kam, versammelte Meister Wu seine Schüler in dem großen Raum, den sie auch für Gebete benutzen. Yi, Teng, Sao, Ping Wei, Tia und Li hatten rechts und links ihres Meisters die Plätze eingenommen und übten sich in reinigender Meditation. Meister Wu, der so erhaben war, dass er in seiner Gedankenkraft weit über den Horizont hinauszuschreiten vermochte, blickte aus dem Fenster und betrachtete in der Ferne den Schnee auf den Bergen des Himalayas.
Nach einer Weile aber hob er langsam die Hand und gewährte so seinen Schülern als die unwissenden Fragen, die er ihnen auf dem langen Pfad der Erkenntnis zu erklären versuchte.
Sao neigte den Kopf so tief, dass er fast den Boden berührte und als sein Meister den Gruß erwiderte, begann er seine Rede.
„Meister, ich spüre so manches Mal ein Zaudern in mir. Dann sinne ich nach und wäge ab, was die richtige Handlungsweise wäre. Über diese gar schweren Gedanken kann ich nicht entscheiden und weiß den Weg dann gar nicht mehr.“
Meister Wu überlegte darüber gar nicht lange. Er beugte sich vor und wies entschlossen mit dem Finger in die Luft, als wäre er ein stählernes Schwert.
„Mein lieber Sao“, begann er. „Das Zaudern ist ein Gift, das deine Sinne lähmt. Es schleicht durch deine Glieder und macht dich schwach. Durchtrenne dieses teuflische Band und handle schnell. Das Überraschungsmoment ist somit immer auf deiner Seite und damit wirst du den Sieg erringen.“
Der Schüler Sao verneigte sich wieder tief bis fast auf den Boden und sprach:
„Ich werde es beherzigen. Vielen Dank für diesen weisen Rat.“
Meister Wu neigte leicht den Kopf.
„Es ist mir eine Freude, dass ich dich auf deinem Weg begleiten darf.“
Yi, der am Ende der linken Reihe saß, dachte eine Weile still nach. Dann aber neigte er ebenfalls tief den Kopf und sprach mit leiser Stimme:
„Verzeiht, mein Meister. Heißt es nicht, dass man jemanden zu Fehlern provoziert, wenn man ihn zur Schnelligkeit verleitet? Gibt es nicht die Geschichte des Weisen, der auf die Frage, wie man einen Stein glatt schleifen kann, antwortete: Leg den Stein in einen Bach und komme in fünfzig Jahren wieder. Dann könnte er geschliffen sein.“
„So glaubst du, wir sollten es den Steinen gleichtun, mein lieber Yi?“ fragte Meister Wu.
„Es heißt, es ist besser, nichts zu tun, als nichts zu schaffen.“
Woraufhin Yi sich wieder so tief es ging verneigte. Meister Wu sah es wohlwollend.
„Wie wahr du gesprochen hast, mein lieber Yi“, sagte er. „Die Welt ist ein Strom und über das Ziel hinaus zu schießen ist ebenso schlimm, wie das Ziel nicht zu erreichen.“
Gerade in diesem Augenblick öffnete sich die Tür zu dem Raum und ein Diener eilte dringlich herein. Atemlos kam er vor Meister Wu zum Stehen und verneigte sich so tief es ihm seine schmerzende Lunge erlaubte. Dann aber richtete er sich schnell wieder auf und zeigte mit der Hand zur Tür hinüber.
„Meister, es heißt, in den Bergen habe man einen Yeti gesehen. Die Fußabdrücke sind ganz frisch und wenn wir uns beeilen, so können wir ihn vielleicht zu Gesicht bekommen.“
Meister Wu sprang unvermittelt auf und rief:
„So lasst uns aufbrechen, vielleicht sehen wir ihn leibhaftig, wenn es auch unwahrscheinlich ist.“
Auch die Schüler sprangen auf und eilten, sich ihre dicken, warmen Jacken aus den Kammern zu klauben. Auch Yi war aufgesprungen, der Meister aber rief ihn zurück.
„Du, mein lieber Yi, kannst inzwischen hier Ordnung schaffen“, sagte er.
Yi verneigte sich, doch nur ein wenig.
„Aber Meister, auch ich möchte den Yeti gerne sehen“, sagte er und verneigte sich noch einmal.
Meister Wu lächelte und legte mitfühlend die Hand auf die Schulter des Schülers.
„Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass wir ihm begegnen. Ist es nicht besser, nichts zu tun, als mit viel Mühe nichts zu schaffen? Du, der du die Weisheit bereits verinnerlicht hast, wirst sicherlich in Frieden hier auf uns warten, während wir in der Eile unseren eigenen Träumen hinterherlaufen.“
In diesem Augenblick brachte der Diener Meister Wus Jacke. Er zog sie über und durchschritt den Raum. Teng, Sao, Ping, Wei, Tia und Li warteten am Tor bereits auf ihn. Der Diener kam hinterdrein gelaufen und öffnete die Pforte. Die Gruppe schritt durch das Tor und machte sich auf die Suche nach dem Yeti.


Die Weisheit des Nachgebens

An einem schönen Frühlingsmorgen ging Meister Wu mit seinen Schülern spazieren. Der Tag war lieblich und klar, dass es eine Lust war, durch das Tal zu schlendern. So kamen sie an einen Fluss, über den eine schmale Brücke führte. Meister Wu, der zuvorderst der kleinen Gruppe ging, betrat den Stieg gemessenen Schrittes gerade in dem Augenblick, als von der anderen Seite eine Kutsche auf die Balken fuhr. Meister Wu aber ließ sich nicht beirren, bis er die Mitte der Brücke erreicht hatte und auch die Kutsche zum Stehen kam.
„Heda“, rief der Kutscher und schwang seine Peitsche. „Macht Platz für den edlen Pei!“
Meister Wu verschränkte seine Arme unter seinem mächtigen Umhang und sah den anderen gemessen an.
„So ist die Forderung gleich meiner“, sprach er hoch erhobenen Hauptes. „Wir befinden uns auf einer erquicklichen Wanderung, dass sich unser Geist öffne. Stört die Betrachtungen nicht mit eurer Kutsche, sondern fahrt zurück, damit wir die Brücke überqueren können!“
„So kommt ihr mir?“ rief der Kutscher zornig und ließ erneut seine Peitsche knallen. „Bedenkt, dass es meinen Pferden ein Leichtes ist, durch euch hindurchzupreschen. Gleichwohl, wenn ihr auch im Fluss landen möget.“
„Und ihr“, entgegnete Meister Wu nun gleichsam mit wütendem Groll, „möget wissen, dass wir viel mehr als ihr seid. Wir gehen in Frieden, so macht den Weg frei!“
„Mein werter Meister“, begann der Kutscher nun, „ich sehe wohl, dass ihr ein weiser Herr seid. Euch ist es einfach und ein nichts, euch umzuwenden und der Kutsche den Weg freizumachen.“
„So mag es sein“, nickte Meister Wu. „Doch sagt mir, warum wir dies tun sollten, betraten wir doch als Erste die Brücke.“
Nun beugte sich eine schmale Gestalt aus dem Inneren der Kutsche heraus und blickte hinüber zu Meister Wu. Der dünne Bart des Mannes zitterte vor Zorn und er rief:
„So zollt Respekt dem edlen Pei. Ich habe keine Zeit für dies Geplänkel. Gebt den Weg nun frei!“
Meister Wu verneigte sich tief vor dem Anblick des Fahrgastes und erhob sich gemessen.
„Mein lieber Pei, ich fürchte, ihr verkennt die Lage. Ich bin es, der zu fordern hat. Was gilt ein irdisches Dasein gegenüber der Erleuchtung? So gebt Befehl, die Kutsche zurückfahren zu lassen, dass wir unseren Spaziergang ungehindert weiterführen können!“
Es mochte noch eine Weile so weitergehen, ohne dass eine der Parteien nachgab und wahrscheinlich hätte die Sonne darüber ihren Lauf vollenden können, wäre nicht Yi, der nachdenklich Schüler, an seinen Meister herangetreten.
„Mein lieber Meister“, sprach er. „Die Lage ist nun gar verzwickt. Ist es nicht besser nachzugeben?“
„So meinst du, dieser edle Pei habe recht mit seinem Ansinnen?“
Yi verneigte sich tief vor der Frage des Meisters.
„Nicht recht, doch ist er mächtig in seiner Kutsche. Er mag uns alle von der Brücke fegen. Heißt es nicht in den Lehren: Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst, musst du ihn umarmen?“
„Dass dieser unverschämte Gesell darüber lacht, wie wir ihm weichen mussten?“ entgegnete Meister Wu zornig.
„Zorn ist der Wind, der das Licht der Vernunft ausbläst, so steht es geschrieben. Wir wollen mit heiterem Gemüt unseren Weg fortsetzen und den Weg zur Erleuchtung beschreiten. Dies ist das erhabene Ziel.“
„Wie können wir heiteren Gemütes spazieren, wenn wir auf dieser Brücke so beleidigt wurden, sage mir das, lieber, wissender Yi!“ sagte Meister Wu, aber er beruhigte sich ein wenig und lächelte, während sein Schüler entgegnete:
„Nicht der Kampf ist, sondern der Sieg ist unserer Aufmerksamkeit gewidmet. Es ist nicht zu beweisen, dass wir mutig sind, nur der eigene Vorteil sei bedacht. Der edle Pei mag auf der Brücke fahren, doch wir erlangen die Macht der Erleuchtung, die ihm niemals zuteil wird. Das Weiche besiegt das Harte.“
Meister Wu sann eine Weile über die Worte nach, während der edle Pei und sein Kutscher weiter schimpften, ohne einen Zoll zurückzuweichen.
Schließlich hob Meister Wu seinen Kopf und sein Gesicht zeigte Milde.
„Wie wahr du redest, lieber Yi. So gehe zurück ans Ufer und baue ein Floß, damit wir trockenen Fußes über den Fluss setzen können.“
„Aber Meister, wenn wir zurückweichen und die Kutsche die Brücke überquert, so können wir ungehindert über sie auf die andere Seite gelangen.“
„So würde es geschehen, doch mag es dem edlen Pei eine Lehre sein, wenn wir nicht die Brücke benutzen, die er uns nahm. Wir werden ihm zeigen, dass die Erleuchtung viele Pfade besitzt.“
„Mein lieber Meister“, sprach Yi, „es dauert Stunden, bis ich das Floß gebaut haben werde.“
„So lass dir von den anderen helfen“, sprach Meister Wu, „und beginne gleich mit deiner Arbeit.“
„Ich verstehe nicht den Sinn, mein lieber Meister“, wagte Yi zu erwidern.
„So grüble nicht darüber nach. Wenn du den Gegner nicht besiegen kannst, so musst du ihn umarmen. Eile nun, ich werde auf dich warten.“
Der Schüler Yi verneigte sich tief und eilte mit den anderen von der Brücke, um das Floß zu bauen. Meister Wu aber lud den edlen Pei ein, aus der Kutsche zu steigen, dass sie sich gemeinsam ausruhen und ein wenig plaudern mochten, bis das Floss fertig sei und sie alle ihren Weg fortsetzen konnten.



Die Weisheit der Selbsterkenntnis

So zogen die Jahre ins Land und während all dieser Zeit wuchs das Ansehen des Meisters Wu im Tal stetig weiter. Längst hatten Teng, Sao, Ping, Wei, Tia und Li die Schule verlassen und waren wieder zu ihren Familien zurückgekehrt. Die Edlen des Dorfes aber brachten neue Söhne zu dem Haus, das an dem lieblichen Bach schlummerte und den Tag vor sich hin träumte. Die jungen Männer nährten sich an der Weisheit des Meisters Wu, der nicht müde wurde, sie bei ihrem Weg in die Einsicht zu begleiten. Yi aber, der wissbegierigste Eleve, blieb in der Schule und half seinem Meister, als er steinalt geworden war. Dann kam der Tag, an dem Meister Wu sich auf das Lager legte und nicht mehr aufstehen konnte.
Durch das Fenster sah er hinaus auf die grüne Wiese und den Pavillon, der einst vom Bürgermeister des nahen Dorfes gespendet wurde. Er erinnerte sich an all die schönen Tage, die er dort verbringen durfte und träumte sich auf das letzte Stück seines Weges.
Yi kam jeden Tag an seine Lagerstatt und verbrachte Stunden tiefen Friedens mit seinem Meister, der ihm so viele Fragen beantwortet hatte. Und doch brannte es dem Mann auf der Seele. Er sah das Universum in seiner Pracht, freilich verstand er die Zusammenhänge nicht. So fragte er seinen matten Meister eines Tages:
„Meister, euer Weg erfüllt sich bald, dass ich mich nicht mehr an eurem Wissen nähren kann. Bitte sagt mir noch, warum ihr all dies tatet, was in den Weisheiten gerade anders steht und mich in tiefes Bedenken stürzte.“
Meister Wu lächelte noch einmal in der Erinnerung an all die Lehren, die Yi in den Jahren erfahren hatte.
„Wer andere besiegen will, muss sich erst selbst besiegen“, flüsterte er seinem einstigen Eleven zu.
„Doch Meister“, sprach Yi zweifelnd als er dies vernahm, „gerade ihr lebtet nicht nach all den Lehren, die ihr verbreitet habt. Wie soll der Glaube der Erkenntnis die Schüler durchströmen, wenn das Vorbild es selbst nicht vermag?“
„Mein lieber Yi“, sprach Meister Wu, dem es schwer geworden war, längere Zeit zu reden. „Was nützt die weiseste Rede, wenn der Geist ihm nicht zu folgen vermag. Erkenntnis liegt in unser Selbst. Der Gegner bezieht seine Macht durch uns, die wir nicht anzunehmen bereit sind, dass er uns nicht so sieht, wie wir es möchten.“
„Mein lieber Meister“, sagte Yi und beugte sich vor Wissbegierde weiter vor, wie er es früher bereits immer getan hatte, „sind all die Lehren unnütz, deren Regeln wir zu befolgen trachten? Ist all dies eine Illusion?“
Da richtete sich Meister Wu auf und sah seinem ehemaligen Schüler ernsthaft ins Gesicht.
„Diese Frage musst du dir selbst beantworten, mein guter Schüler. Es ist das, wie du es siehst. Alles, was du bist und was du wirst, liegt in dir selbst. Darum verleugne nicht das Leben und auch nicht dich.“
Der Atem des alten Meisters wurde matter und er ließ sich in die Kissen zurück sinken. Yi legte ihm die Hand auf den Arm und spürte, dass Meister Wu sich für seine Reise bereit machte.
„So sage mir, mein Meister, wie finde ich Erleuchtung?“
Sein Lehrer schloss die Augen und atmete tief ein. Er roch den Duft der Sträucher, welcher durch das geöffnete Fenster hereindrang. Das Gezwitscher der Vögel klang lieblich in seinem Ohr und fast war es ihm, als könne er die erquickende Kühle des Baches bis zu seinem Lager hin riechen.
Er lächelte zufrieden.
„Oh Meister“, rief Yi, der bemerkte, wie der Lehrer ihm entglitt. „wie erlange ich die wahre Weisheit?“
Noch einmal füllte Meister Wu die Lungen und leise, fast so, dass Yi es nicht mehr vernehmen konnte, hauchte er:
„Wer die Menschen kennt, ist weise. Wer sich selber kennt, erleuchtet.“
Dann schlief er ein.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Die zehn Weisheiten des Meister Wu"

Re: Die zehn Weisheiten des Meister Wu

Autor: axel c. englert   Datum: 15.05.2016 21:39 Uhr

Kommentar: Ein guter Text, der lohnt -
Weil Weisheit in ihm wohnt ...

LG Axel

Re: Die zehn Weisheiten des Meister Wu

Autor: possum   Datum: 16.05.2016 3:22 Uhr

Kommentar: Hallo lieber Mark,
ich weiß nun schon dass mir dein Werk gefällt,
habe aber leider nur den Ersten Absatz gelesen wegen der Zeit im Moment,
aber ich sende dir jetzt schon meinen Dank dafür und komm später für den Rest in der Stille nochmal! Liebe Grüße!

Re: Die zehn Weisheiten des Meister Wu

Autor: Mark Gosdek   Datum: 16.05.2016 5:48 Uhr

Kommentar: Vielen Dank, Euch beiden. Auch mich drängt es manchmal, in diesem Tal zu leben, wenn auch nicht unbedingt als Yi. LG Mark

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