Projektunterricht

Mit den alten Geschichten ist das eine eigene Sache. Die verschiedenen Akteure haben sie unterschiedlich in ihren Gedächtnissen abgespeichert. Manchmal ist es fast so, als hätten sie etwas gänzlich verschiedenes gesehen und erlebt, so, als hätten die persönlichen Lebensschicksale die Ereignisse nachträglich verändert. Meine alten Freunde und Kameraden werden meiner Geschichte vielleicht nicht einmal mehr Glauben schenken. Sie könnten sie als erfunden oder erdichtet bezeichnen. Auch, weil die damaligen Ereignisse uns alle nicht im besten Licht erscheinen lassen. Ja, Helden waren wir nicht, ich ebenso wenig, wie Cäcilie, Robert, Horst und die anderen. Aber alles war auch unvergleichlich verschieden vom Jetzt und Heute. Den Typ des Autos, ganzer Stolz seines Besitzers, dem in meiner Geschichte eine wichtige Rolle zugeteilt wird, sieht man nur noch ganz selten auf unseren Straßen. Es war leicht, nicht aus Stahlblech, sondern vor allem aus Plastik, einfach konstruiert, man konnte viele Reparaturen selbst ausführen, es war nicht teuer, gemessen an jetzigen Autopreisen, aber es war sehr schwer zu bekommen. Geld zu haben, das genügte bei weitem nicht. Man musste sich für den Kauf anmelden, sich in Geduld fassen und viele Jahre warten, warten, warten, um eines kaufen zu können. Es sah nicht sehr elegant aus, aber es tat seine Dienste. Später, bevor es dann fast vollständig von den Straßen verschwunden war, wurde es nur noch belächelt, aber wie glücklich waren damals Fahrer und Mitfahrer mit ihrem neuen Begleiter; lange Wege wurden kürzer, die Welt größer und interessanter.
Nun, wenn ihr denn nicht gerade besseres zu tun habt und wissen wollt, was mit einem solchen Auto geschehen ist, so hört mir zu.
Die Jahre waren ins Land gegangen. Die schon vom Kleinkindalter an unzertrennlichen Cäcilie und Robert hatten die Grundschule beendet. Sie waren sich einig -– beide wollten den Schulbesuch in der Erweiterten Oberschule fortsetzen. Es war schade, dass man nun die vertraute Umgebung verlassen musste. Das äußere Umfeld hatte sich geändert. Der Schulweg war länger geworden und führte sie zum Schloss. Das Gebäude war nach der Enteignung des ehemaligen Hausherrn, eines Barons, zur Oberschule geworden. Cäcilie und Robert waren in verschiedene Klassen gekommen, denn Cäcilie hatte den sprachlichen Zweig und Robert den naturwissenschaftlichen gewählt. Aber sooft ihre unterschiedlichen Stundenpläne es erlaubten, traten sie den Schulweg gemeinsam an. Von der Oberstadt, dem Wohnort der `besseren’ Leute, wie Roberts Mutter ihm einst erklärt hatte, führte sie ihr Schulweg nun über die Bahnlinie hinweg in die Unterstadt, wo sich die weiterführende Schule befand. Jenseits des Gasthofes `Zur Forelle' überquerten sie die Brücke, setzten ihren Weg geradeaus fort und erreichten nach wenigen Metern das hohe schmiedeeiserne Tor, hinter dem der Schlosshof lag. Das am linken Ufer gelegene Schloss war zur Wasserseite hin von einem schönen Park mit hohen Bäumen umgeben. Auf der Wiese des Parks blühten im zeitigen Frühjahr
unzählige Schneeglöckchen und Märzenbecher. Nach dem Durchqueren des Tores ging man zunächst an dem kleinen Pförtnerhäuschen vorbei, in dem das Hausmeisterehepaar wohnte. Danach hatte man sich zu entscheiden: entweder bog man, die Schule links liegen lassend, gleich in den Park ab oder ging weiter über den Hof zum Haupteingang. Fiel einmal eine Unterrichtsstunde aus oder war es im Sommer drinnen zu heiß, so war der Park ein sehr angenehmer Aufenthaltsort. Am Anfang des Parks mündete, von der Mühle kommend, der Mühlgraben in den Fluss. Der hintere Teil des Parks wurde durch einen anderen kleinen Bach begrenzt. Dieser leitete das dem `Jungbrunnen’ entsprungene Wasser dem Fluss zu. Der Brunnen spendete den Bewohnern der umliegenden kleinen Häuser an heißen Sommertagen den erfrischenden kühlen Trunk klaren Wassers, das aber nicht nur in durstige Kehlen floss, sondern auch zum Waschen, Wischen und Putzen von den Hausfrauen mehrmals täglich in Eimern vom Brunnen geholt wurde. Dabei stellte sich heraus, dass der Brunnen nicht nur nährende und reinigende, sondern auch kommunikationsfördernde Wirkung entwickelte. Munter wie das Bächlein plätscherten die Gespräche der Frauen, die sich am Brunnen trafen, dahin. Leben und Treiben der Nachbarn boten schier unerschöpflichen Stoff für kritischen Discours. Die schon mit Wasser gefüllten Eimer wurden abgestellt und unbeschwert wurden Nachbarn und ihr Verhalten genauester Wertung unterzogen. Ja, da fühlten sich selbst die Betagteren wieder jung, hier am Jungbrunnen. Und hinter vorgehaltener Hand, ganz ohne `facebook' und `my space', entfalteten sich soziale Netzwerke. Und wehe dem, der sich in dem feinen Gespinst aus übler Nachrede, Verleumdung und Lüge verfing, dem ging es schlecht. All dies brauchte seine Zeit, und so vergingen die Stunden, bis der eigentliche Zweck des Brunnenganges gänzlich in Vergessenheit geraten war. Einmal sogar, gelang es den parlierenden Damen nicht mehr, sich von ihrem Brunnentreffpunkt zu lösen. Zu Stein geworden stehen sie noch heute dort, reden und reden und zieren die Brunnenabdeckung. Auch der herbei gelaufene Kater wurde zu ewigem Stillstand auf der Schulter einer der Damen verdammt. Aber das Wasser des Brunnens rieselte unbekümmert dahin und bildet, auch heute noch, den kleinen Bach, der in Richtung Park und Schloss und Schule fließt, um hier schließlich in den Fluss einzumünden. Information und Wissen, die er an seiner Quelle aufgenommen hatte, fanden in der Schule keine weitere Verwendung und verströmten ungenutzt im breiter gewordenen Flussbett.
In der Schule ging es um eine andere Art von Wissen, das bemerkten Cäcilie und Robert schon in den ersten Wochen des Wechsels. Klatsch spielte hier, abgesehen von der einen oder anderen lustigen Geschichte, die unter den Schülern über Lehrerinnen und Lehrer kursierte, eine untergeordnete Rolle. Dennoch hatte Robert vorgebeugt. Um allen lästigen Fragen, vor allem der Mitschülerinnen zuvor zu kommen, hatte er schon Monate vorher das Gerücht verbreitet, Cäcilie sei seine Verwandte, seine Cousine, und deshalb sähe man sie beide so oft zusammen. Leider mussten Cäcilie und Robert ihren neuen Lebensabschnitt ohne manchen ihrer gemeinsamen Freunde aus der alten Schule
antreten. Aber wie bisher verbrachten sie viele Nachmittage gemeinsam. Cäcilie glaubte, Mathematik nicht gut verstehen zu können und war froh, Robert, der das besser konnte, um Hilfe und Aufklärung bitten zu können. Er hatte mehr Mathematikstunden als Cäcilie in ihrer Klasse des sprachlichen Zweiges. Daher kannte er den Unterrichtsstoff, wenn Cäcilie ihn danach fragte, oft schon und wenn sie ihn bat, ihr Zusammenhänge oder die Lösung von Aufgaben zu erklären, so bereitete ihm dies keine Schwierigkeiten und er bemerkte, wie er während des Erklärens selbst dazu lernte und seine Vorstellungen von den mathematischen Begriffen sicherer wurden, aber auch, wo sein Wissen Lücken hatte oder er etwas nicht verstanden hatte. Cäcilie verlor mehr und mehr ihre Angst vor den Leistungskontrollen in Mathematik. Trotzdem begannen die Unterrichtsstunden nicht ohne Herzklopfen. Das Klassenbuch, in das die Zensuren eingetragen wurden, in dem die Lehrer aber auch Kurzberichte über die Inhalte der Unterrichtsstunden vermerkten und das während der Unterrichtsstunden meist auf dem Tisch des Lehrers lag, wurde geöffnet. Lehrerin oder Lehrer blickten abwechselnd auf die Seite des Klassenbuches, auf der die Namen der Schüler zu lesen waren und dann über die Köpfe der Schüler hinweg in den Klassenraum hinein. Jeder der dort Sitzenden, außer den wenigen vielleicht, die sich bestens vorbereitet fühlten, versuchte, sich möglichst klein und unsichtbar zu machen. Es herrschte Grabesstille. Einige Lehrer schienen diesen Augenblick besonders zu genießen, bevor sie endlich den Namen ihres heutigen Opfers verkündeten. Manche machten es kurz und andere wieder fragten höflich, wer denn heute zur Leistungskontrolle zur Verfügung stünde. So hatten die Lernenden auch die Gelegenheit, die unterschiedlichen Charaktere und Eigenarten ihrer Lehrer zu studieren.
Ein besonderer Höhepunkt in Roberts und Cäcilies Schulalltag waren die Ausbildungstage im Eisenwerk. Mittwochs traten sie nicht den gewohnten Schulweg an, sondern brachen in die entgegengesetzte Richtung, zum Tor des Eisenwerkes auf. Hier traf man sich am frühen Morgen, kurz nach Schichtbeginn der Arbeiter. Das erste Ausbildungsjahr sah vor, verschiedene Betriebsteile kennen zu lernen, die Produktionsabläufe zu studieren und nach jeder durchlaufenen Station einen Bericht zu verfassen. Robert hatte sich für Metallberufe und Cäcilie für Bauberufe entschieden. Im zweiten Jahr wurde die Ausbildung in der Lehrwerkstatt fortgesetzt. Wie schon viele Generationen von Lehrlingen vor ihnen, mussten auch sie wochenlang feilen, was Robert nicht selten entmutigte und ihn an sich selbst zweifeln ließ. War das Metallstück, an dem er feilte, in einer Ausdehnung plan und waagerecht, so zeigte es in der anderen Richtung deutliche und unerwünschte Wölbungen. Er setzte die Arbeit fort, um den Mangel zu beheben, stellte aber bald fest, dass der Ersterfolg verlorengegangen war, die erste Richtung stimmte nicht mehr. Erneut das Haarlineal anlegen und überprüfen, ob das Metallstück in der links--rechts--Ausdehnung waagerecht war. Einige Korrekturen waren erforderlich, aber nun stimmte die andere Richtung schon nicht mehr. Nun noch einige wenige Feilenstriche in dieser Richtung und ein erneutes Nachmessen. Robert fühlte,
wie ihm heiß wurde und ihm das Blut zu Kopf stieg -– das Metallstück war zu klein geworden, er hatte zu viel weggefeilt. Alles begann von vorn. Nun kam auch noch der Lehrmeister vorbei.
„Na was haben wir denn da?“ bemerkte er ironisch. „Etwa zwei linke Hände?“
Robert konnte nicht begreifen, dass den Mitschülern die Arbeit so gut von der Hand ging und war erst froh, als diese Pein vorüber war und es ans Bohren und dann ans Schweißen ging. Nach dem zweiten Oberschuljahr begann die Ausbildung im Stahlwerk. Hier hatte er während der Sommerferien schon gearbeitet. Die Kollegen erkannten ihn sofort und er freute sich, ihre vertrauten Gesichter in der ihm bekannten Umgebung wieder zu sehen. Willi, der Chefobermeister, kümmerte sich um die Jungen. Robert kannte ihn schon lange als Wohnungsnachbarn seiner Großeltern im Haus der Baugenossenschafts-siedlung. Sooft er ihn dort traf, erkundigte sich der Meister nach den schulischen und sportlichen Erfolgen des Jungen. Das Stahlwerk war der Patenbetrieb der Schule und wenn der Patenschaftsvertrag nicht nur bloße Papierform bleiben sollte, wie es mit vielen anderen Vereinbarungen dieser Art geschah, Willi aber völlig gegen den Strich lief, musste er wissen, was seine „Patenkinder“ bewegte, welche Fortschritte sie machten und welche Schwierigkeiten sie zu überwinden hatten. „Wenn du meine Hilfe brauchst, so kannst du immer zu mir kommen“, hatte Willi gesagt, „du weißt ja, wo ich wohne“.
Der denkwürdige Tag, von dem ich nun berichten möchte, begann mit dem Lateinunterricht, der Mitteilung, dass der Biologielehrer erkrankt war und die der Lateinstunde folgende Biologiestunde ausfallen würde und einer unerwarteten und weit unangenehmeren Überraschung – der Ankündigung einer Klassenarbeit. Ein Kapitel von `de bello Gallico' sollte übersetzt werden. Anders als bei Übersetzungen aus dem Russischen, wo meist nur der Sinn des Textes erfasst werden sollte, ging es hierbei um eine möglichst wortgetreue Übertragung in die deutsche Sprache. Das war schwierig, wenngleich schon wochenlang daran geübt worden war. Mehr aus Verzweiflung als in Betrugsabsicht wurde heimlich unter den Schülertischen die autorisierte gedruckte Übersetzung herumgereicht, die sich zufällig in einer Schultasche befunden hatte. Ein überprüfender oder auch nur Bestätigung suchender Blick, ob man mit dem eigenen Übersetzungsversuch richtig lag, konnte nicht als unehrenhaft interpretiert werden. Aber just in dem Moment als Robert unter seinem Tisch Caesars Beschreibung des hercynischen Waldes und seiner Tiere, der Elche, Auerochsen und Hirsche, mit seiner Übersetzung verglich, blickte der Lateinlehrer, ein alter, diensterfahrener und am Verhalten vieler Generationen von Schülern bestens geschulter Lehrer, in Roberts Richtung. Robert war so in die Textstelle vertieft, dass er den näherkommenden Lehrer nicht einmal bemerkte. Erst als dieser direkt neben ihm stand, witterte Robert Gefahr und der Schreck fuhr ihm so in die Glieder, dass ihm das Reklamheft mit der Übersetzung zu Boden fiel. Vielleicht hätte sich der Lateinlehrer mit einer leisen Ermahnung begnügt, aber der Augenschein sprach so deutlich für
Betrug, dass er eingreifen musste. Er nahm Roberts unfertige Übersetzung und schloss ihn von der weiteren Teilnahme an der Klassenarbeit aus. Nicht genug damit, Robert musste auch noch den Raum verlassen. Er war deprimiert und fühlte sich zwar nicht gerade ungerecht behandelt, aber doch zu hart bestraft. Er hatte seine Übersetzung mit der autorisierten doch nur vergleichen wollen.
Betrübt verließ er das Gebäude und ging über den Schulhof in den Schlosspark hinein. Die Pestsäule, an der er vorbeischlenderte, erinnerte ihn wieder schmerzlich an sein Missgeschick, denn mit der Übersetzung der lateinischen Inschrift, mit der dem Arzt Jenner und der Einführung der Pocken-schutzimpfung gedacht wurde, hatte der Lateinunterricht einst begonnen. Robert ging weiter zum hinteren Teil des Parks. Jenseits des kleinen, in den Fluss einmündenden Baches, der seinen Ursprung im Jungbrunnens hat, setzte sich der Park fort. Aber dieser Teil war von Roberts Seite aus unzugänglich, es gab keine Brücke über den Bach, um dorthin zu gelangen. Um wie viel schöner könnte der Park sein, wenn man über eine Brücke in seinen hinteren Teil spazieren könnte! Robert stellte sich vor, wie er die lauen Sommerabende hier mit Cäcilie verbringen könnte. Er erinnerte sich auch an einen kleinen Teich in diesem abgelegenen Teil des Parks. Er nahm einen weiten Anlauf und übersprang den Graben. Auf dieser Seite konnte man nur erahnen, dass der rückseitig gelegene Park schon bessere Tage gesehen haben musste. Vergangene Herbststürme hatten dicke Äste von den alten Buchen herunter gebrochen, die Hecken von Schneeball und Feuerdorn hatten die ordnende und regulierende Hand eines Gärtners schon seit Jahren nicht mehr gesehen und die Wege waren mit hohen Brennnesseln zugewachsen und unkenntlich geworden. Auch der kleine Teich war nur noch ein sumpfiges Loch, denn sein aus dem Bach kommender Zufluss war zugeschüttet. Es bedurfte schon aller Vorstellungskraft und Phantasie, um sich den Park, wie er einmal ausgesehen haben musste, vor Augen zu führen. Hier waren viele fleißige Hände erforderlich. Robert sollte mit seinen Mitschülern über ein Projekt `Park' sprechen, sie davon überzeugen, dass man hier gemeinsam Nützliches tun könnte. Cäcilie musste helfen. Sie wurde nicht nur in ihrer eigenen Klasse akzeptiert, man sprach auch in anderen Klassen von ihr und bei den Lehrern hatte sie einen ebenso guten Stand. In den Versammlungen der Jugendorganisation, der sie beide angehörten, scheute sie sich nicht, ihre Meinung zu äußern und hatte immer gute Vorschläge parat, wie man sich beim gemeinsamen Lernen unterstützen, Konzertbesuche organisieren oder die spärliche Schülerbibliothek erweitern könnte, während Robert sich nur mit Unbehagen an seine wenigen unbeholfenen öffentlichen Auftritte zurück erinnerte.
Er ging zum Schulhof zurück. Es klingelte zur Pause und bald darauf strömten die Schüler durch die dunkelbraune zweiflüglige Tür auf den Schulhof. Robert hielt Ausschau nach Cäcilie. Da kam sie, ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen mit langen blonden Haaren und einem hübschen, schmalen, ernsten Gesicht. Robert winkte ihr zu und näherte sich ihr zögernd. In letzter Zeit hatten sie sich nicht so häufig getroffen wie in den vergangenen Jahren. Ihre
Stundenpläne waren jetzt sehr verschieden. Ihr unterschiedlicher Un-terrichtsbeginn erlaubte es nicht mehr so oft, den Schulweg gemeinsam anzutreten. Wenn sie einander nach längerer Zeit wieder begegneten und miteinander sprachen, fühlte er sich zuerst ein wenig beklommen, vor allem in Gegenwart von Mitschülern. Aber nach einigen Minuten stellte sich ihre alte Vertrautheit wieder ein, vor allem deshalb, weil es Cäcilie durch ihre offene, temperamentvolle Art immer wieder gelang, das Eis zu brechen. Nun ging sie schnell auf ihn zu und berührte zur Begrüßung seine Schulter mit ihrer rechten Hand.
„Grüß dich, Cäcilie“, sagte Robert, „wie läuft dein Tag heute?“
„Mathe in der ersten Stunde, es war ein Albtraum“, antwortete sie. „Ich sollte an der Tafel vektoriell beweisen, dass die Diagonalen eines ebenen Vierecks einander schneiden. Man weiß das doch. Warum soll man es beweisen?“
„Es geht doch nur um die Anwendung der Addition von Vektoren,“ erklärte Robert.
„Das ist es ja. Ich verstehe dieses Rechnen mit Pfeilen nicht.“
„Wir sollten darüber noch mal sprechen“, bot Robert an, „je früher, desto besser, denn sonst verstehst du bald gar nichts mehr und alles kommt dir wie chinesisch vor.“
„Das tut es schon. Und wie war es bei dir?“ fragte Cäcilie.
Robert erzählte ihr von seinem Missgeschick und sie bedauerte ihn aufrichtig, denn sie wusste, dass Latein ihm Spaß machte und er die Übersetzung bestimmt auch ohne die unerlaubte Hilfe geschafft hätte.
„Er hat mich aus dem Unterricht geschickt und ich bin im Park spazieren gegangen“, fuhr Robert fort. Dann erzählte er ihr von seinem kleinen Streifzug durch den hinteren Teil des Parks und erläuterte ihr seine Idee, den Park aufzuräumen und wieder in den ehemaligen Zustand zu überführen, ja ihn sogar noch schöner als je zuvor werden zu lassen. Er erzählte von dem kleinen Teich, auf dem Seerosen schwimmen würden und von der geschwungenen Holzbrücke, über die man von einem Teil des Parks zum anderen würde spazieren können.
„Das musst du mir zeigen“, verlangte Cäcilie, „da bin ich noch nie gewesen.“
„Es gibt aber noch keine Brücke über den Bach, du musst springen.“
Sie bestand darauf, den Park gleich zu sehen und so verließen sie den Schulhof und gingen bis zum Bach. Mit einem kurzen Anlauf setzte Robert über den nicht sehr breiten Wasserlauf hinweg und nach anfänglichem Zögern tat sie es ihm gleich. Als Robert sich umblickte, um nach ihr zu sehen, bemerkte er, dass einige seiner Mitschüler ihnen gefolgt waren. Einer nach dem anderen sprangen auch sie über den Bach. Robert hielt die Gelegenheit für günstig und schilderte mit einer von ihm nicht gewohnten Eloquenz, wie schön dieser hintere Teil des Parks aussehen könnte, wenn man nur vorher etwas gemeinsame Arbeit zu seiner Verschönerung aufbringen würde. Cäcilie unterstützte seine Versuche, die Mitschüler vom Projekt `Park' zu überzeugen nach Kräften, indem sie von seiner künftigen Nutzung als Park für Schüler schwärmte.
„Zuerst muss eine Brücke her“, nahm Horst, einer von Roberts Klassenkameraden, sehr konstruktiv als erster den von den beiden entwickelten Projektgedanken auf. Er wollte einmal Bauingenieur werden und hielt es nun wohl für geboten, dass er als zukünftiger Spezialist in Baufragen die Initiative bei der Lösung der bautechnischen Probleme ergreifen müsste.
„Am besten gleich“, fuhr er fort. „Seht mal, den Stapel dort hinten an der Mauer -- sieht das nicht aus wie Doppel -T-Träger. Lasst uns doch gleich nachsehen, ob wir etwas geeignetes für die Brücke finden.“
Cäcilie gab zu bedenken, dass es für den Erfolg des Projektes doch vielleicht besser wäre, mit einfacheren Arbeiten, wie Unkraut jäten, Büsche und Bäume beschneiden, trockene Äste absägen, zu beginnen, aber die Jungen waren Feuer und Flamme und stürzten zum Stapel Altmetall an der Begrenzungsmauer des hinteren Parkteils zum Flussufer hin.
„Mein Unterricht beginnt gleich, ich muss zurück“, sagte Cäcilie und überlegte noch, ob sie etwas Ermahnendes sagen sollte. Der Eifer der Jungen erschien ihr doch sehr verdächtig und unüberlegt. Sie hätte lieber zuerst einen Plan über alle auszuführenden Arbeiten gemacht und das Projekt dann dem Direktor vorgeschlagen. Aber dann ging sie doch, sprang über den Bach und lief zum Schulhof zurück. Die anderen beachteten sie nicht weiter, sondern suchten in dem Schrotthaufen nach passendem Brückenmaterial. Sie hatten Glück und fanden drei Träger von gleicher Länge, ausreichend, um den Bach damit zu überspannen. Die Träger waren schwer, doch alle fassten mit an und schleiften und zerrten sie zum Bachufer, einen nach dem anderen, bis sich alle drei Träger an Ort und Stelle befanden. Nun begann das härteste Stück Arbeit. Die schweren Eisenträger mussten quer über den Bach geschoben werden. Robert zog Schuhe und Strümpfe aus, rollte die Hosenbeine hoch und stieg in den Bach.
Die anderen schoben den ersten Träger von der anderen Seite her Zentimeter für Zentimeter nach vorn. Als das frei über dem Wasser schwebende Ende zu schwer wurde, stützte Robert es mit beiden hochgereckten Händen, doch es wurde ihm bald zu schwer und ein zweiter musste ins Wasser und ihm helfen.
Nach vielen Mühen lag der Träger über dem Bach. In gleicher Weise gelang es den Jungen unter großer Kraftanstrengung, auch den zweiten und dritten Träger über den Bach zu legen. Die Zeit war wie im Fluge vergangen und ein Blick zur Uhr zeigte, dass die Freistunde vorüber war. Die Jungen kehrten, noch erhitzt, aber voller Begeisterung über das Geleistete, von ihrer Arbeit zum Unterricht zurück, nicht ohne vorher verabredet zu haben, ihr Werk nach Unterrichtsschluss fortzusetzen.
Die folgenden Unterrichtsstunden schleppten sich dahin, die Zeit bis zum Ende des Schultages wollte und wollte nicht vergehen. In der letzten Stunde, einer Mathematikstunde, wurde Horst, der Chef ihres Brückenbauteams nach qualvollen Minuten des Aussuchens zum Opfer der Leistungskontrolle erklärt. Der Mathematiklehrer forderte ihn auf, die Fläche eines Parallelogramms mit Hilfe des Vektorprodukts zu berechnen. Horst konnte sich weder an das Vektorprodukt noch daran, wie mit seiner Hilfe die Fläche eines
Parallelogramms berechnet wurde, erinnern. Der Lehrer gab ihm keine weitere Hilfestellung und hieß ihn nach kurzer Wartezeit, sich wieder zu setzen. In das vor ihm liegende Klassenbuch trug er die Note `Fünf’ ein und bemerkte noch, dass er sich ganz und gar nicht vorstellen könne, wie jemand der so schlecht in Mathematik sei, einmal Bauingenieur werden könnte.
„Das werde ich, das werden Sie schon noch sehen“, rief Horst während er auf seinen Platz zurück ging. Den Versuchen des Lehrers, ihn in das weitere Unterrichtsgeschehen einzubeziehen, widerstand er und hüllte sich in trotziges Schweigen.
Endlich brachte das Klingelzeichen die herbeigesehnte Erlösung. Der Bautrupp kehrte sogleich zu seiner nicht beendeten Arbeit in den Park zurück. Nun ordnete Horst, durch seinen Misserfolg im Unterricht eher noch zu größeren Taten im Baugeschehen motiviert, an, dass die über den Bach gelegten Träger ein solides Fundament erhalten sollten. In einer anderen Ecke des Parks fand sich ein Haufen Ziegelsteine. Die Jungen schleppten die Steine zum Bach und schichteten sie als Fundamente für die Träger auf. Dann wurden die Träger auf die Steine gelegt. Nun konnte die Brücke, auf den Trägern balancierend, schon benutzt werden und die Jungen testeten ihre Brücke, indem sie den Bach immer wieder in beiden Richtungen auf den Trägern überquerten. Alles funktionierte gut, wenngleich der Gang über ihre Brücke Übung erforderte und man schwindelfrei sein musste. Für ein breiteres Publikum, das der hintere Teil des Parks später einmal erwarten sollte, war diese Art der Bachüberquerung nicht geeignet. Man müsste Bretter über die Träger legen, um den Gang über den Bach bequemer zu gestalten. Aber nirgends waren Bretter zu entdecken. Die Jungen waren unzufrieden. Das eigentliche Ziel ihrer Bemühungen war noch nicht erreicht. Wie sollte man ihren Brückenbau nur doch noch zu einem krönenden Abschluss bringen? Ein krönender Abschluss -– das war die rettende Idee. Etwas musste die Brücke krönen! Und jetzt hatte der Brückenbauchef Horst einen tollen Einfall. Nach den Geschehnissen der letzten Unterrichtsstunde wohl aus seiner Sicht verständlich. Aber warum fanden alle anderen Horsts Gedankenblitz so genial? Das kleine Auto des Mathelehrers, Marke `Trabant', ein kanariengelbes Fahrzeug, ein Gelb, das ins Auge stach und an das man sich immer wieder erinnerte, der sollte die Brücke krönen, sozusagen der Brückenkopf sein. Das Auto war am Anfang des Schulhofes, eigentlich zwischen Park und Schulhof, abgestellt und der Parkplatz vom Schulgebäude aus nicht einsehbar. Die Jungen beratschlagten, wie man das Auto durch den ganzen Park bis zur Brücke transportieren könnte.
„Der kann nicht so schwer sein“, ermunterte Horst die anderen, „alles nur `Plaste und Elaste aus Schkopau'. Wir tragen ihn.“
Vorsichtig hoben sie den Wagen an, vier an jeder Seite und Horst übernahm das Kommando. Das ging recht gut und man konnte die Arbeit fortsetzen. Langsam und schwankend, sich unerwünschten Blicken entziehend, entfernte sich der kanariengelbe Trabant in Richtung Park. Nun war eine Atempause erforderlich
und die gelbe Last wurde vorsichtig auf den Weg gesetzt. Horst gönnte seinen Mitarbeitern nur eine kurze Pause.
„Weitermachen“, ordnete er an.
Und so näherte sich der seltsame Tross allmählich der neuen Brücke. Das Fahrzeug wurde vor den Doppel-T-Trägern abgestellt. Nun musste der Abstand der beiden äußeren Träger noch der Spurbreite des Fahrzeugs angepasst werden. Als alles stimmte, stiegen vier Jungen in den Bach, um das Fahrzeug von unten zu stützen, die anderen hoben und schoben es auf die Träger. Es wurde knapp und sah sehr gefährlich aus. Das Auto schwankte hin und her. Den Jungen fuhr der Schreck in die Glieder, denn es drohte in den Bach zu stürzen, aber sie konnten es gerade noch halten und auf die Eisenträger zurückbringen. Die Träger waren nur wenig breiter als die Reifen des Fahrzeugs. Nach großen Anstrengungen stand das Auto auf zwei Trägern quer über dem Bach -– ein hübsches Bild, wie die Jungen sich beim Betrachten ihres Werkes gegenseitig versicherten. Sie konnten es gar nicht recht glauben, dass sie es gewesen waren, die das Auto in diese bizarre Position gebracht hatten. Und das wichtigste, die Brücke hielt, die Statik stimmte. Die Brückenbauer waren von ihrem Ergebnis selbst sehr überrascht, aber zufrieden und glücklich. Sie konnten es kaum fassen, wie es hatte gelingen können, das Auto in diese seltsame Lage gebracht zu haben. Aufkommende Zweifel, ob ihre Aktion den Erfolg des Projekts `Park' nicht etwa gefährden könnte, unterdrückten Robert und die anderen. Der Anblick des scheinbar über dem Bach schwebenden kanariengelben Trabant, der die Träger, auf denen er ruhte, fast vollständig verdeckte, war so merkwürdig wie eindrucksvoll, dass niemand des armen Pädagogen gedachte, der auf der verzweifelten Suche nach seinem Auto schließlich doch einmal hilflos vor diesem Anblick stehen würde. Man sagt, dass Kleinkinder erst von einem bestimmten Alter an des Mitgefühls mit ihrer Umwelt fähig seien. Aber auch diese nun schon sechzehnjährigen zeigten weder Erbarmen noch Mitleid mit ihrem Lehrer. Sie verließen den Ort des Geschehens und begaben sich auf den Heimweg.
Erst am Nachmittag, während er sich auf den nächsten Unterrichtstag vorbereitete, begann Robert zu zweifeln, ob ihr Streich nicht doch die Grenze des Erträglichen überschritten hatte. Er dachte an den Lehrer, wie er überrascht festgestellt haben musste, dass sein Auto vom Parkplatz verschwunden war, wie er dann mit wachsender Unruhe nach ihm gesucht hatte, wie er den Hausmeister und andere Schüler, die sich noch in der Schule aufhielten, befragt hatte und wie man sich schließlich gemeinsam auf die Suche begab. Vielleicht hatte er auch schon die Polizei von dem Verlust verständigt und um Hilfe ersucht? Oder wie sie dann doch ihre Suche auf den Park ausgedehnt hatten und vor dem grotesken Bild des schwebenden Autos standen und wie man dann versucht hatte, das Auto aus seiner Lage zu befreien.
Nach und nach wurde ihm klar, dass sie nicht richtig gehandelt hatten. Er fühlte sich zunehmend unwohl und begann sich zu schämen. Der Tag hatte schlecht begonnen und er endete niederschmetternd, ein richtiger `dies ater'. Und welche
Folgen würde das alles haben? Könnte man doch nur den ganzen Tag aus dem Kalender tilgen! Dabei hatte er doch nur den verwilderten Park verschönern wollen! Im selben Moment dachte er, wie um sich selbst zu rechtfertigen: es war doch nur ein kleiner Streich und eigentlich hatten wir doch nur das Gute gewollt. Ja, Gutes hatten sie gewollt und doch nur Böses vollbracht. Aber wer würde ihn erlösen? Wer könnte ihm helfen? Und da war er da, der Gedanke an seine Vertraute, an Cäcilie. Aber wie würde er vor ihr stehen, als armer Sünder? Andererseits, hatte sie bisher nicht immer mitgefühlt, wenn es ihm schlecht gegangen war und hatte sie nicht immer nach Auswegen gesucht aus ihm hoffnungslos erscheinenden Situationen, so wie dieser jetzt?
Es war schon spät am Nachmittag, als Robert sich endlich durchgerungen hatte, Cäcilie aufzusuchen. Nicht sie selbst, sondern Cäcilies Mutter öffnete die Haustür, nachdem er geklingelt hatte.
„Robert?“ rief sie überrascht. „Wir haben uns ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.“
Es stimmte, während Robert in seinen Kindheitstagen fast täglich hier gewesen war, hatte er Cäcilie nun schon seit mehreren Monaten nicht mehr zu Hause besucht.
„Und wie groß du geworden bist,“ fuhr Frau Arnold fort, „du bist ja ein richtiger Mann geworden.“
Und das stimmte auch, Robert war im letzten Jahr um zehn Zentimeter gewachsen. Mehrere Male hatte die Mutter ins Portemonnaie greifen müssen, um neue Kleidung für ihn zu kaufen. Die Hosenbeine wurden zu kurz, so wie auch die Ärmel von Hemden, Pullovern und Jacken. Er war größer und breiter geworden, die weichen, kindlichen Gesichtszüge waren verschwunden und hatten einem männlicheren Aussehen Platz gemacht. Seine Stimme war tiefer geworden. Außerdem muss es Frau Arnold wohl beeindruckt haben, dass er so ernst, ja sorgenvoll blickte.
„Cäcilie!“ rief Frau Arnold nach ihrer Tochter, „Besuch für dich. Stimmt doch, oder?“
„Ja“, antwortete Robert, „ich möchte gern mit Cäcilie sprechen.“
„Schade“, sagte Frau Arnold lächelnd, „ich hätte mich auch gern einmal wieder mit dir unterhalten.“
„Das können wir vielleicht später tun“, sagte Robert entgegenkommend.
„Aber jetzt möchte ich doch zuerst mit Cäcilie sprechen, es ist wichtig.“
Und da kam Cäcilie auch schon.
„Geht es um den Park?“ fragte sie, an ihr Gespräch vom Vormittag anknüpfend.
„Ja, ich glaube, wir haben eine Riesendummheit begangen.“
Und nun erzählte Robert, was geschehen war, nachdem Cäcilie die Gruppe am Vormittag verlassen hatte.
„Das muss ja wirklich ein merkwürdiger Anblick gewesen sein, der kanariengelbe Trabbi quer uber dem Bach“, lachte Cäcilie. Aber dann wurde auch sie ernst. „Habe ich doch geahnt, dass ihr Blödsinn ausheckt,“ sagte sie
etwas gouvernantenhaft und dann ernsthafter, „das ist wirklich ein übler Streich“.
Dann dachten sie beide angestrengt nach, um eine Lösung zu finden.
„Ihr müsst Morgen zum Direktor und zum Mathematiklehrer gehen und euch entschuldigen“, schlug sie dann vor.
„Oh weh, das wird mir schwerfallen“, sagte Robert.
„Wäre es nicht klug, gleich unser Projekt `Park' zur Sprache zu bringen? Dann könnten wir erklären, worum es uns eigentlich ging“, bemerkte Robert.
Cäcilie hielt das für eine konstruktive Idee und erklärte sich bereit, die Jungen auf ihrem Canossagang zu begleiten. Denn schließlich war sie ja auch mit von der Partie gewesen, wenn auch nur ganz am Anfang. Robert bedankte sich und wollte sich schnell von Cäcilie verabschieden, denn er hatte plötzlich noch eine andere Idee, Willi, der Meister aus dem Stahlwerk, sollte er nicht ihm seine Sorgen anvertrauen. Vielleicht hatte er eine Idee, was hier zu tun sei?
„Nun muß ich aber gehen“, sagte er deshalb.
„Natürlich musst du, aber trotzdem, eigentlich schade“ sagte Cäcilie mit ehrlichem Bedauern.
Als Robert das Haus, in dem Cäcilie mit ihren Eltern wohnte, verlassen hatte und nun mit schnellen Schritten sein Ziel, den Neubaublock im unteren Teil der Straße, in dem Willi seit einigen Jahren wohnte, ansteuerte, fühlte er sich seltsam beschwingt, sogar seine Sorgen hatte er hinter sich gelassen. Hin und wieder verfiel er aus dem normalen Schritt ins Laufen und sprang sogar nach rechts und nach links. Entgegenkommende Passanten schauten ihn verwundert an und tippten sich an die Stirn, sobald er an ihnen vorbei gehüpft war. Robert bemerkte es nicht. Meister Willi öffnete selbst die Wohnungstür, an der er geklingelt hatte, und ließ ihn sofort ein, als hätte er ihn schon erwartet.
„Hildchen, Besuch“, rief Willi nach seiner Frau. Frau Hilde kam, begrüßte den Gast und fragte nach dem Befinden von Roberts Mutter. Erst jetzt fiel Robert ein, dass sein überraschender Besuch nicht willkommen oder gar als unpassend empfunden werden könnte, es war ja auch schon Abend geworden. Hätte er Frau Hilde nicht einen Blumenstrauß mitbringen sollen? Mutter würde ihm das sicher empfohlen haben, hätte er sie in seine Pläne eingeweiht.
„Trinkst du einen Schnaps mit uns zur Feier des Tages“, fragte Willi, wohl in der guten Absicht, dem jugendlichen Gast die Scheu zu nehmen.
„Äh, Jugendschutzgesetz“, stotterte Robert.
„Na, nun mal ehrlich“, fragte Willi, „bei euch wird immer noch kein Alkohol getrunken?“
„Stimmt“, antwortete Robert. Robert wusste sofort, dass Willi sich an Roberts Vater und seine Aktivitäten bei den Guttemplern erinnerte. Mutter und Vater hatten in ihrer Jugend dem Alkohol und dem Rauchen abgeschworen und sich für eine gesunde Lebensweise, für das Wandern in den Gebirgswäldern und für fröhliches Miteinander bei Gesang und Tanz, aber gänzlich ohne Alkohol, verschrieben. Die Mutter fuhr auch nach dem Tod des Vaters fort, nach diesen Prinzipien zu leben und hatte auch ihre Kinder in diesem Sinn erzogen. Robert
schätzte das, wenngleich er mit seinen Freunden auch schon mal ein Glas Bier getrunken hatte und in aller Heimlichkeit, Mutter brauchte davon nichts zu wissen, das Rauchen versucht hatte. Gefallen hatte es ihm nicht. “Es ist gut, wenn man seine Prinzipien hat“, sagte Willi. „Na dann eben Apfelsaft.“ Willi brachte ein Glas Apfelsaft aus der Küche und goss seiner Frau und sich selbst je ein Gläschen Weinbrand Verschnitt ein.
„Auf unseren Gast“, sagte er und erhob sein Glas.
„In den Zwanzigern, als die Arbeitslosigkeit ihren Höhepunkt erreicht hatte, waren die Guttempler in unserer Stadt sehr erfolgreich. Ihr Ziel war, die Jugend aus den Kneipen heraus zu holen und ihnen sinnvolle Ziele zu stellen, Wandern, musizieren und solche Sachen.“
„Ich war auch bei den Guttemplern“, warf Frau Hilde ein, „und du doch auch, Willi.“
„Stimmt, aber nur kurz, und bei dem Verein habe ich mein Hildchen kennengelernt“, antwortete Willi, sich Robert zuwendend. „Aber mir war schon damals klar, dass man das Übel bei der Wurzel packen muss. Schon als ich meine Lehre im Walzwerk begonnen habe, das war 1912, hat mir ein Kollege den Antrag für die sozialdemokratische Arbeiterjugend in die Hand gedrückt und ich habe unterschrieben. Bei den Guttemplern wollten wir Mitglieder für unsere Jugendgruppe gewinnen.“
„Ist euch das gelungen?“ wollte Robert wissen.
„Na klar, bei den Reichstagswahlen 1912 hatte die SPD in unserer Stadt mehr als doppelt so viel Stimmen wie die anderen Parteien.“
„Du konntest ja auch reden wie der Pastor persönlich“, warf Hilde ein.
„Hör mir mit den Popen auf. Von denen habe ich noch nie viel gehalten. Der katholische Pfarrer war sich nicht zu schade, von der Kanzel herunter gegen unseren Streik von 1912 zu Felde zu ziehen und seine Schäfchen zur Raison zu bringen.“
„Der musste auch nicht von den Hungerlöhnen, die für zwölf Stunden Knochenarbeit im Walwerk gezahlt wurden, leben“, unterstützte Frau Hilde ihren Mann.
„Meine Lehre im Walzwerk, ins Stahlwerk kam ich nämlich erst nach der Lehre, begann mit dem Streik. Wir Lehrlinge lehnten fast geschlossen ab, uns als Streikbrecher herzugeben, wie die Betriebsleitung es verlangte. Dann forderte die Direktion Arbeitskräfte vom Arbeitsnachweis in Wandsbek an. Da haben wir natürlich nicht mitgespielt. Mehrere Hundert Arbeiter haben die Streikbrecher auf dem Bahnhofsvorplatz empfangen und einige haben versucht, sie am Aussteigen aus dem Zug zu hindern. Dann rückte eine Polizeieinheit heran und hat uns mit brutaler Gewalt in eine Nebenstraße abgedrängt. Die Gäste des Kurhotels dort haben sich das Schauspiel aus sicherer Entfernung angeschaut. Das waren meine ersten Erfahrungen im Klassenkampf.
„Wie ging der Streik aus?“ wollte Robert wissen.
„Die Direktion lehnte weiter ab, dem Metallarbeiterverband die Aufbesserung der Löhne schriftlich zuzusichern. Es gab Teilzugeständnisse, es wurde mit
Entlassungen gedroht. Unter dem Einfluss des katholischen Pfarrers ließen sich nicht organisierte Arbeiter dazu bewegen, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren.
Das war das Ende. Die Streikleitung beschloss aufzugeben und am 19. Juli, das war der Geburtstag meines Vaters, sind wir an die Arbeitsplätze zurückgekehrt, ohne Ergebnis. Da habe ich mir zwei Dinge fest vorgenommen: ich wollte lernen, um im Beruf voranzukommen und ich wollte helfen, die unsäglichen Verhältnisse, unter denen wir leben mussten, zu ändern.“
„Wollen wir uns nicht setzen?“ unterbrach Frau Hilde ihren Mann, „der Abendbrotstisch ist auch schon gedeckt, du isst doch sicher mit uns?“ richtete sie sich an Robert, der sofort zustimmend nickte, denn sein Anliegen hatte er bisher noch nicht vorbringen können. Sie gingen in das kleine Wohnzimmer mit der Schrankwand von Hellerau an der linken Seite und einer großen Fensterfront geradezu, in die eine kleine, zum Balkon führende Glastür integriert war. Die Gardinen waren zurückgezogen und gaben den Blick frei in den Garten und darüber hinaus in die angrenzenden bewaldeten Hügel des Hohenberger Waldes. Auf der rechten Seite hing ein Ölgemälde, à la Menzel, den Stahlabstich an einem Siemens-Martin-Ofen darstellend. Als er Roberts Blick auf das Gemälde bemerkte, sagte Willi: „Meine Freizeitbeschäftigung“.
Robert staunte und drückte seine Anerkennung aus.
„Aber was erzähle ich dir hier eigentlich, “unterbrach sich Willi, „du bist doch vermutlich nicht gekommen, dir meine Geschichten anzuhören, du hast doch sicherlich etwas auf dem Herzen?“ Für den alten Willi Riesel, den „Helden der Arbeit“, der Titel war ihm vor einigen Jahren verliehen worden, war es nichts besonderes, wenn er um Rat gefragt wurde. Er kannte seine Heimatstadt, er kannte jede Ecke des Stahlwerks seit Jahrzehnten, er kannte die Öfen und ihre Tücken und er wusste, wie sie zu zähmen waren, diese funkensprühenden Ungeheuer. Was Besuchern des Werkes als abstoßendes, ja gefährliches, heilloses Durcheinander erschien, hier war er zu Hause. Er liebte den Geruch, der von dem Ungeheuer ausging. Manchmal lag er über der ganzen Stadt. Wenn die Leute über den Gestank schimpften, für ihn gehörte er zur Heimat, ebenso wie der Duft der Wälder. Er kannte jeden Kollegen, der hier arbeitete, seine Stärken und Schwächen, ihre Familien, die großen und kleinen Sorgen. Sie vertrauten ihm und sie gehörten zu ihm und seinem Werk und das Werk war sein Leben. Aber er musste im Laufe der Jahre einsehen, alles war hoffnungslos veraltet. In vielen anderen Stahlwerken auf der ganzen Welt wurde effektiver produziert. Wenn der Gedanke ihn auch schmerzte, wäre es nicht besser die alte Bude dicht zu machen und den Stahl in Brandenburg oder Eisenhüttenstadt billiger und besser, auch leichter, zu produzieren? Er hatte mit noch niemandem darüber gesprochen, aber er fühlte, dass man die Kumpel nicht unvorbereitet lassen dürfe. Das waren die Gedanken, die ihn eigentlich belasteten.
Als ob sie seine Gedanken erraten hätte, sagte Hilde nun:
„So war es schon immer. Zuerst kommt das Werk, wir stehen ganz hinten an. Wann haben wir das letzte Mal Urlaub gehabt? Immer, wenn wir verreisen
wollten, kam im letzten Augenblick etwas dazwischen, Planerfüllung in Gefahr oder sogar eine Havarie.“
Der alte Mann blickte seine Frau ernsthaft an, die Anwesenheit des Jungen schien er vergessen zu haben:
„Ja, du hast Recht, wer weiß denn, wie viel Zeit uns noch bleibt. Wir sollten den schon lang ersehnten Urlaub an der Schwarzmeerküste wahr machen.“
„Vor sechs Jahren hast du einen Urlaubsplatz am Schwarzen Meer als Auszeichnung bekommen und dann haben wir ihn verfallen lassen.“
Robert, der nicht gern Zeuge dieses Gesprächs zwischen den Eheleuten war, räusperte sich.
„Ja, recht hast du, wir wollten ja über deine Sorgen sprechen“, offenbar war Willi ganz froh, das Thema wechseln zu können. „Nun erzähl mal“.
Und Robert berichtete, was am Vormittag geschehen war, wobei er sich bemühte, seinen Zuhörern das eigentliche Motiv, den hinteren Teil des Parks wieder in den alten, prächtigen Zustand zu versetzen, deutlich zu machen.
Dagegen hielt er den Teil seiner Geschichte, der ihm die meisten Sorgen bereitete, verhältnismäßig kurz. Das war es aber gerade, was Willi und dessen Frau am meisten zu interessieren schien, denn während Robert vom Auto des Lehrers berichtete, bemerkte er, wie seine beiden Zuhörer sich immer wieder anblickten. Meister Willi musste sich sogar vom Tisch erheben und trat zum Balkonfenster, um seine Nase zu schnäuzen.
„Und das Auto eures Lehrers, steht es immer noch auf dem Bach?“ wollte Frau
Hilde schließlich wissen, nachdem Robert geendet hatte.
„Ich weiß doch nicht“, nun war Robert ganz kleinlaut, seine Zuhörer schwiegen
und sahen sich wieder bedeutungsvoll an.
„Na, da habt ihr euch einen üblen Scherz erlaubt“, sagte Willi schließlich in die eingetretene Stille hinein.
„Ja, mir tut das auch leid und Cäcilie meint, wir sollen uns gleich morgen früh dafür entschuldigen“.
„Warum bist du nur nicht schon am Nachmittag wieder hingegangen? Entschuldigen, das ist ja wohl das mindeste, obwohl“, unterbrach sich Willi, „die Idee mit der Brücke und dem Park, ist gar nicht so schlecht. Wollen wir nachher nicht einen Abendspaziergang machen, Hildchen, und uns das mal ansehen?“
Vielleicht meinte er, vor Ort noch Hilfe für den Lehrer und sein Auto organisieren zu müssen. Robert war ganz kleinlaut geworden.
„Einen Abendspaziergang, den haben wir schon seit langem nicht mehr gemacht“, kam ihm Frau Hilde zu Hilfe.
„Entschuldigt euch unbedingt. Ihr könnte ja erwähnen, dass wir vom Patenbetrieb euer Projekt unterstützen würden“, sagte Willi. Das war es, was Robert heimlich erhofft hatte. Dann versprach Willi ihm noch, dass sie im Gespräch bleiben und er sich über weitere Besuche freuen würde und Frau Hilde unterstrich diesen Wunsch, denn Robert schien ihr zu gefallen. Robert bedankte sich und Willi brachte ihn zur Tür. Dort fragte er noch, etwas
verschmitzt, aber durchaus ernsthaft, denn er überlegte, wer seinen Schützling von künftigen ‚Schandtaten’ abbringen könnte.
„Und wie ist das mit Dr. Arnolds Tochter? Ist da etwas zwischen euch? Man sieht euch recht oft miteinander.''
Dr. Arnold, Cäcilies Vater, war der Chefingenieur des Stahlwerkes und Willi kannte ihn nicht nur als Arbeitskollegen.
„Cäcilie? Ja, wir sind Freunde.“
„Ein tolles Mädchen“, sagte Willi anerkennend. „Hübsch und intelligent, die weiß, was sie will. Die solltest du dir warm halten, gerade die richtige für dich.“
Das erfüllte Robert mit Stolz und in diesem Hochgefühl verließ er Willis Wohnung. Auf dem Heimweg dachte er nicht mehr an das Auto seines Lehrers und ihren dummen Streich, sondern nur noch an Cäcilie, aber nicht gerade so, wie Willi sie an seiner Seite wissen wollte.
Am nächsten Morgen hatte Robert Glück, schon auf dem Schulweg ihrem `Bauleiter' Horst zu begegnen. Er musste nicht einmal selbst das Gespräch auf ihren gestrigen Husarenstreich bringen.
„Heute wird es sicher großen Ärger geben“, begann Horst sofort. „Am liebsten wäre ich zu Hause geblieben.“
„Das würde dir und uns allen kaum helfen“, entgegnete Robert. Und dann schlug er vor, sich lieber gleich zu stellen, zum Direktor zu gehen und die Tat zu beichten, sowie sich bei ihrem Mathematiklehrer zu entschuldigen. In der Schule angekommen, rief Horst zunächst sein Team zusammen.
„Wir sind gestern ein wenig zu weit gegangen“, begann er zögernd, „stellt euch einmal vor, in welche Lage wir unseren Mathelehrer gebracht haben, als er nach Hause fahren wollte und plötzlich feststellen musste, dass sein Auto verschwunden war. Er musste doch annehmen, dass es gestohlen worden war. Und, falls er es dann schließlich gefunden hatte, wie muss er sich gefühlt haben, als er es quer über den Bach stehen sah.“
„Aber das war doch nur ein Scherz“, warfen einige ein. Schließlich stimmten alle überein, gleich zum Mathematiklehrer oder zum Direktor zu gehen. Sie fragten im Lehrerzimmer nach dem Mathematiklehrer und erfuhren, dass er heute erst später kommen würde. Offensichtlich waren die Lehrer schon über das gestrige Ereignis informiert, denn die ältere Lehrerin, die ihnen diese Auskunft erteilte, begrüßte sie mit der Bemerkung:
„Na, da habt ihr ja etwas angerichtet. Ich rate euch, gleich zum Direktor zu gehen.“ Das taten sie dann auch und meldeten sich bei der Sekretärin des Direktors an. Sie fragte ihren Chef, ob er die Jungen gleich empfangen könne und er bat sie in seinen Raum. Da er ihnen keine Plätze anbot, blieben sie stehen und warteten auf seine Strafpredigt. Die aber blieb aus. Statt dessen, forderte er sie auf, den Hergang der gestrigen Ereignisse zu schildern. Erst jetzt bemerkte er Cäcilie, die mit den Jungen gekommen war.
„Waren Sie etwa gestern auch dabei?“ fragte er sie verwundert. Das passte überhaupt nicht in das Bild, das er von ihr hatte, der Musterschülerin und Sekretärin des Jugendverbandes.
„Ja –- nein“, stammelte Cäcilie, offenbar etwas aus der Fassung gebracht, denn auch sie hatte mit einer `fameuse engueulade' gerechnet. Nachdem sie sich gesammelt hatte, erklärte sie: „Alles begann mit unserem Plan, den hinteren Teil des Parks aufzuräumen, die Wege neu zu gestalten und daraus einen Park für Schüler zu machen. Da die beiden Teile des Parks miteinander verbunden werden müssen, haben wir gleich angefangen, eine Brücke zu bauen.“
„Und dann wolltet ihr natürlich sehen, ob eure Brücke funktionsfähig ist, aber bleiben wir doch erst einmal beim Thema. Ihr seid beinahe erwachsene junge Menschen und ich brauche euch wohl nicht zu erklären, dass euer Streich die Grenze des Erträglichen weit überschritten hat.“
„Konnte das Auto ohne Beschädigungen von den Trägern geschoben werden?“ fragte Horst vorsichtig und in der wagen Hoffnung, dass die Geschichte schon einen positiven Ausgang gefunden habe.
„Es ist zwar etwas spät, sich darüber Gedanken zu machen, das hättet ihr euch früher überlegen müssen, aber immerhin“, sagte der Direktor. „Zum Glück gibt es Schüler mit größerem Verantwortungsbewusstsein, als ihr es gezeigt habt. Dank ihrer Hinweise und ihrer Hilfe konnte das Problem schnell gelöst werden. Bedankt euch bei ihnen und vor allem, entschuldigt euch bei eurem Mathematiklehrer.“
„Was halten Sie denn nun von unserer Idee, den verwilderten Park wieder neu zu erschließen?“ fragte Cäcilie, konsequent ihr Ziel verfolgend, die härtesten Sanktionen abwenden zu wollen. Aber der Direktor durchschaute ihre Taktik.
„Eins nach dem anderen“, sagte er. „Ich spreche jedem von euch wegen eures unmöglichen Verhaltens einen Tadel aus. Die gesamte Schülerschaft wird davon während der kommenden Schülervollversammlung informiert. Ich werde auch die Kollegen des Patenbetriebs informieren. Und nun zu Punkt zwei: Das ist eine großartige Idee. Anlässlich der Vollversammlung habt ihr die Gelegenheit, eure Pläne der Schulöffentlichkeit vorzustellen. Wir wollen doch möglichst viele in die Arbeiten einbeziehen. Ich werde mit dem Lehrerkollegium über euren Plan sprechen.“
Die Erwähnung des Patenbetriebes war das Stichwort für Robert:
„Sollten wir nicht auch die Kollegen vom Stahlwerk in unser Projekt einbeziehen?“ fragte er, ohne zu erwähnen, dass mit Willis gestrigem Vorschlag die Weichen für eine Zusammenarbeit schon gestellt waren.
„Das kann man versuchen. Insbesondere beim Bau einer richtigen Brücke wäre ihre Hilfe sehr nützlich“, fand der Direktor und beauftragte Robert, den Kontakt zum Patenbetrieb aufzunehmen. Danach machte er deutlich, das Gespräch beendet zu haben, nicht ohne die Schüler noch einmal zu gründlicherem Nachdenken in ähnlichen Situationen ermahnt zu haben.
Cäcilie, Robert und ihre Freunde verließen das Büro des Direktors und atmeten erleichtert auf, glücklich, dass die Angelegenheit so glimpflich abgegangen war. In den folgenden Tagen saßen sie oft beieinander und entwarfen Pläne für die Umgestaltung des Parks. Zeichnungen wurden angefertigt, wieder verworfen
und durch neue ersetzt. Immer mehr Schüler interessierten sich für das Projekt und wollten mitmachen. Der Streich, den man dem Mathematiklehrer gespielt hatte, sorgte in der ganzen Schule für Aufmerksamkeit, die sich auf das geplante Projekt übertrug. Die auszuführenden Arbeiten wurden geplant und Arbeitseinsätze durchgeführt. Die ganze Schule war mit Begeisterung bei der Sache. Der Patenbetrieb baute eine Holzbrücke mit schön geschwungenem Geländer, wobei die schon vorhandenen Träger mit verwendet wurden. Zum Schluss haben wir das Geländer gestrichen. Ihr werdet leicht erraten, welche Farbe wir für den Anstrich verwendet haben.
Zur Eröffnung des neuen Parks hatten sich alle, Lehrer und Schüler jenseits der Brücke versammelt. Der Direktor stand auf der neuen Brücke und hielt eine Rede, wie es Schuldirektoren zu wichtigen Anlässen zu tun haben. Er dankte uns allen, dass wir unser Projekt zu einem so erfolgreichen Ende geführt haben und dass wir so viel dabei gelernt hätten. Den Rest hat er wohl mehr zu seinen Kollegen als zu uns gesagt. Er ermunterte sie, trotz allem immer an die guten Seiten ihrer Schüler zu glauben. Schülerstreiche habe es schon immer gegeben und werde es wohl auch immer weiter geben. Man müsse lernen, sie für die Erziehung zu nutzen, so dass auch alle etwas davon haben. Dann klopfte er dreimal an das elegant geschwungene, kanariengelbe, hölzerneTreppengeländer und sagte: „toi, toi, toi“. Wir mussten alle lachen und auch unser Mathematik-lehrer stimmte in die allgemeine Heiterkeit mit ein.
Unsere Schule gibt es heute nicht mehr. Das Schloss wurde restauriert und zu einem Weiterbildungszentrum für Lehrer umgebaut. So, wie wir es erträumt hatten, verbindet die Brücke mit dem elegant geschwungenen Holzgeländer die beiden Teile des Parks. Wie eh und je erblühen im zeitigen Frühjahr Tausende von Schneeglöckchen und Märzenbechern in beiden Teilen und am Abend sieht man Lehrgangsteilnehmer und Bewohner der Stadt über unsere Brücke spazieren. Kürzlich erhielt auch das Brückengeländer einen neuen Farbanstrich: kanariengelb.


© K.Denecke


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Beschreibung des Autors zu "Projektunterricht"

Was doch so alles aus einem Schülerstreich werden kann ?

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