Der letzte Schultag


Es war der letzte Schultag vor den Kartoffelferien. Die Oktobersonne sendete ihre
letzten, warmen Strahlen auf das Land.
Die Linden im Schulhof hatten sich schon mit einem gelben Kleid geschmückt.
Einige braunbunte Schmetterlinge gaukelten über die Blüten der Dahlien im
Vorgarten.
In der Luft lag ein Duft von reifen Pfirsichen, frischer Erde und vom verbrannten
Kartoffelkraut. Im Schulgebäude herrschte noch absolute Stille. In der Klasse 5 b war Physikunterricht angesagt.
Klaus Höhne saß in der letzten Bankreihe am Fenster. Ihm war langweilig. Er
döste in der warmen Sonne vor sich hin. Sein Banknachbar Helmut Rohde war
krank. So konnte er auch nicht mit ihm „Schiffe versenken spielen.“
Das Unterrichtsfach Physik hatte er total abgeschrieben.
Plötzlich griff er ganz instinktiv in seine Hosentaschen. Die Ausbeute waren zwei Tonmurmeln, eine Klinge von einem Taschenmesser, drei rostige Nägel, ein Stück
von einem Schnürsenkel und ein zerkratztes Brennglas.
Nun überkam ihn ein freudiger Gedanke: Klaus nahm den Schnürsenkel und er klemmte diesen unter das Tintenfass. Ein Ende ließ er raus stehen. Danach nahm er das Brennglas und richtete dieses auf den Schnürsenkel.
Es dauerte nicht lange und der Schnürsenkel fing an zu glimmen. Der Gestank verbreitete sich allmählich im Klassenzimmer.
Zwei Schläge mit dem Zeigestock auf seine Bank ließen ihn hochfahren.
Vor ihm stand der Lehrer Fröhlich. Fröhlich war von großer, kräftiger Gestalt, und er hatte eine Hackennase. Sein spärlicher Haarkranz, seine ständig roten Wangen und wuchernden Augenbrauen ließen beim Betrachter eine gewisse Lächerlichkeit aufkommen. Der Lehrer war ein Invalide. Seinen linken Arm hatte er im 1.Weltkrieg in Frankreich eingebüsst. Er genoss als Kriegsveteran unter der Bevölkerung ein großes Ansehen und eine uneingeschränkte Achtung. Diese Achtung nutzte er dahingehend aus, dass er in der Schule eisern, teilweise mit unmenschlichen Strafen, durchgriff.
Klaus war so erschrocken, dass er vom Stuhl aufsprang und die „Habachtstellung“
einnahm. ( Hände an die Hosennaht, Füße zusammen und den Blick gerade aus )
Der Lehrer ließ sich vom Schüler den Schieferkastendeckel geben. Danach musste
Klaus seine Hände vorstrecken. Fröhlich schlug mit dem Holzdeckel auf die Handflächen des Schülers. Klaus zuckte vor Schmerzen, darauf hin musste er die
Hände umdrehen und Fröhlich schlug jetzt auf die Fingerkuppen. Bei dieser schmerzlichen Traktur musste der Schüler die einzelnen Schläge laut mitzählen.
Die nächste Strafe war, dass Klaus, in sein Schönschreibheft, 250 mal den Satz
schreiben sollte „Ich muss im Unterricht aufpassen und mich nicht mit anderen
Dingen beschäftigen.“
Danach begann für Klaus das „ Eckenstehen“ im Flur des Schulgebäudes.
Grundsätzlich gab es immer für ein Vergehen, von Lehrer Fröhlich drei Strafen.
Der Schüler stand schon eine ganze Weile in der Ecke als der Hausmeister
Schmidt kam. Der Hausmeister war eine Seele von Mensch. Er war allen Kindern wohl gesonnen und diese liebten ihn.



Als er den Schüler so stehen sah, sagte er: „Ich komme gleich wieder.“ Nach einer
Weile kam der Hausmeister wieder, und er trug in der rechten Hand einen Straßenbesen und in der Linken einen Klappstuhl. Er sagte: „ Du setzt dich hin und wenn ich zur Pause klingele, stellst du den Stuhl in die andere Ecke, und den Besen davor. So kriegt es Fröhlich nicht mit, und er schöpft keinen Verdacht.“
In der großen Pause gesellten sich seine Freunde Georg und Wolfgang zu ihm.
Georg sagte: „Mensch, dass stehst du auch durch, und wir lassen uns für den Arsch
etwas einfallen.“ Klaus war von der Anteilnahme seiner Freunde gerührt.
Beim Abendbrot bemerkte seine Mutter, dass mit seinen Händen irgend etwas nicht
stimmte.
Zögernd und stotternd rückte Klaus mit der Sprache heraus. Er erwähnte jedoch
die Schreibarbeit und das Eckenstehen nicht.
Seine Mutter sagte noch: „Ein Glück für dich, dass dein Vater an der Ostfront ist, sonst hättest du von ihm auch noch eine Abreibung bekommen.“
Abends im Bett, vor dem Einschlafen, grübelte Klaus darüber nach, wann er die
Schreibarbeit erledigen kann, denn 250 Mal den Satz zu Schreiben bedarf viel Zeit.
Er hatte ja eine ganze Palette von Aufgaben zu erfüllen.
So zum Beispiel Kartoffeln zu stoppeln, Ziegenfutter zu holen, Gänse zu hüten
und Bucheckern zu sammeln.
Er nahm seinen weißen Stoffhund in den Arm und schlief beim Grübeln ein.


© Jürgen


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