In heißem Flimmern ging der Nachmittag gemächlich in den Abend über, die gleißende Sonnenscheibe stand nur noch wenige Fingerbreit über dem blau-verwaschenen Horizont. Ein euphorisches Raunen lief über den großen Platz, als die Akropolis im Hintergrund in goldenes Abendlicht getaucht wurde. Und wie um das nahende Ende dieses bisher heißesten Sommertages 2014 einzuläuten, kam ein lauer Wind auf. Die Erleichterung war spürbar, beinahe mit Händen greifbar. Alles atmete auf. In das allgemeine Gelächter und die Gespräche der Einheimischen und Touristen webte sich allmählich der Wohlklang einer Bouzouki ein, deren Töne magisch über den weiten Platz schwebten und sich verbreiteten.
Moira saß auf einem verzierten Holzstuhl im Außenbereich der Taverne “Πεδίον” - Elysion. Vor ihr stand ein halbvolles Weinglas und eine kleine Amphore ihres Lieblingsweins Agiorgitiko. Trotz der herbeischleichenden Dunkelheit glühte der Wein förmlich von innen heraus, so als habe er die letzten Sonnenstrahlen absorbiert und in seinem Innersten verschlossen. Herkulesblut! Sie musste ob dieses Beinamens lächeln. Ihr Blick schweifte suchend über den von allerlei Lichtern und Kerzen erhellten Platz, auf dem die heitere Stimmung nicht einmal ansatzweise ihren Höhepunkt erreicht hatte.
“Me sinchoríte, kiría mou! Haben sie noch einen Wunsch?” die Stimme des Obers störte ihre Gedanken, doch sie wandte sich ihm zu und blickte ihn aus grünen Augen an.
“Efcharistó, ójchi. Ich bin zufrieden.” leise und bestimmt antwortete sie auf seine Frage und drehte daraufhin den Kopf langsam zurück zum eigentlichen Geschehen. Einige Sekunden lang blieb der Ober noch stehen und betrachtete die Frau vor ihm aus unschlüssigen doch ehrerbietigen Augen. Dann ging er. So saß Moira still da, das weiße Haar bis zu den Hüften zum Zopf geflochten, das schwarze Abendkleid als farblicher Gegenpol betonte ihre wohlgeformte Gestalt. Entgegen ihrer 36 Jahre strahlte sie eine sehr viel ältere Wesenheit und Weisheit aus, die aus der Tiefe ihrer unergründlichen Augen hervor drang und sich in der Art und Weise wie sie sprach weiter manifestierte. “Alles Leben zu leiten, dies sei mein Schicksal…” hauchte sie in den Abendwind, trank ihr Glas leer und goss den Rest des Weins aus der kleinen Amphore nach.

Es war nach Mitternacht, die Mondsichel verschwand immer wieder hinter dahin jagenden Wolken. Moira fand sich am Rande einer ausgelassenen Menschenansammlung wieder. Sie wusste, daß die Einheimischen hier eine Hochzeit feierten. Niemand beachtete sie. Alle sangen, tanzten oder blickten in Richtung des Bräutigams, der von vier seiner Freunde auf einem Stuhl in die Höhe gehoben wurde. Einmal, zweimal… beim dritten Mal sprach Moira den Namen des Mannes auf dem Stuhl: “Nikos…!” Unmerklich für die Umstehenden weiteten sich seine Augen in ihre Richtung, er strauchelte, kippte über die Lehne nach hinten und mit einem dumpfen Schlag kam er auf dem Boden an. Ein Schrei durchtrennte kurz darauf die Nacht, als die Braut den leblosen Körper ihres Ehemannes in den Armen hielt und die Götter des Olymp scheinbar auf alle erdenkliche Weisen anklagte. Das Genick des Mannes, der den Namen Nikos trug, war beim Aufschlag gebrochen. Dem anfänglichen Schock der Anwesenden folgte Fassungslosigkeit, Weinen und Klagen.
Moira blieb mit unbewegter Mine in einiger Entfernung stehen. In Händen einen durchtrennten, weißen Faden, den sie nun über ihrem Kopf in den plötzlich auffrischenden Wind warf. Einige Angelegenheiten dieses Tages, des 15. August, musste sie einfach auf solche Weise erledigen. Sie musste jenen Menschen in die Augen blicken, um ihnen die Geschicke zu übermitteln. Und der Tag der >Entschlafung der Gottesmutter< hatte gerade erst begonnen…

…Moira saß an einem plätschernden Brunnen und dachte nach. 07 Uhr morgens. Sie spielte mit einem kurzen weißen Faden und war noch unentschlossen. Um die Häuserecke in einiger Entfernung zu ihr kam ein junges Mädchen geschlendert, das noch keine 18 Jahre zählte. Es hielt direkt auf sie zu. Lächelnd hob Moira den weißen Faden und sagte leise: “Oh welche Ironie meinem Wesen innewohnt!”


© meine Wenigkeit


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Beschreibung des Autors zu "Moira"

Gedankengänge, in einer mentalen Momentaufnahme zu Papier gebracht, die sich künftig weiterspinnen werden, vielleicht auch abgeschnitten, wer weiß das schon so genau...




Kommentare zu "Moira"

Re: Moira

Autor: Pia Koch-Studiger   Datum: 05.03.2015 21:36 Uhr

Kommentar: die Schicksalsgöttin: drei in einer Person.
wunderbar geschriebene Geschichte. Danke!

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