Rauch konserviert

Haller erhob sich rasch vom Bett, nachdem er aufgewacht war, ging zum Fenster seines Hotelzimmers und zog die Vorhänge zurück. `Die falsche Seite', dachte er, `das Fenster zeigt zur falschen Seite'. Er blickte auf einen mit alten, dicken Buchen bewachsenen Hang. Durch die in der ersten Morgensonne hell schimmernden Buchenstämme hindurch konnte er auf der Hangkuppe das spitze Dach einer Finnhütte erkennen. Aber er hatte den Blick ins Tal und auf die unten liegende Stadt erwartet. Enttäuscht wandte er sich ab. Bei seiner Ankunft war es schon dunkel gewesen. Trotzdem hatte er noch beim Einschlafen fest daran geglaubt, am nächsten Morgen die Stadt und die weite Ebene vor Augen zu haben. Eigentlich hatte ihn nur diese Hoffnung dazu bewogen, sich der Busreisegesellschaft anzuschließen. Beim Durchblättern der Zeitschrift hatte er die Annonce des Reiseveranstalters gefunden. Das Ziel der Fahrt sollte das Berghotel oberhalb seiner Heimatstadt sein. Entgegen seiner Gewohnheit, Entschlüsse erst nach gründlicher, mehrfacher Überlegung zu fassen, hatte er sofort die in der Annonce angegebene Telefonnummer gewählt und die Fahrt gebucht.
Viel war geschehen, seitdem er seine Heimat verlassen hatte und obwohl er sich in den letzten vierzig Jahren nicht ständig des Vergangenen erinnert hatte, vergessen hatte er die Stadt, die Berge, den Fluß und die damaligen Ereignisse nie. Und nun, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, hatte ihn die Vergangenheit eingeholt. Während der Busfahrt hatte er alles wieder klar vor Augen und, wie seltsam, was ihn früher gequält hatte, jetzt erschien es ihm nicht gar so schlimm und was ihn schon früher erfreut hatte, beflügelte heute seine Sehnsucht.
Die Teilnehmer der Reisegesellschaft waren ihm unbekannt. Aber das störte ihn nicht. Er hatte auch nicht vor, an den geplanten Ausflügen teilzunehmen, sondern den Bus erst wieder bei der Abreise zu betreten.
`Dann kann dies nicht das Haupthaus des Hotels sein', überlegte er.
Er machte seine Morgentoilette, zog sich rasch an und verließ das Zimmer in der Absicht, der Sache auf den Grund zu gehen.
Richtig bemerkte er das eigentliche Hotel auf der gegenüberliegenden Seite und dahinter die Aussichtsplattform. Das alte Hotelgebäude hatte sich kaum verändert. Nur die daneben liegende Halle, durch deren große Fensterfront er einen Raum, ausgestattet mit hellen Holztischen und ebensolchen rustikalen Bänken, ausmachen konnte, erschien ihm neu, wenigstens konnte er sich nicht daran erinnern, dieses Gebäude früher hier gesehen zu haben. Nachdem er die beiden Gebäude passiert hatte, bot sich ihm der vertraute Anblick: die weite Ebene, das Grün und Gelb der Felder, einige Dörfer am Horizont und darüber die aufgehende Sonne. Auf der rechten Seite erkannte er das Tal, das hier abrupt endete, um dem Fluß den Weg in die Ebene frei zu geben. Jahrtausende hatte es gedauert, bis das schäumende Wasser den Einschnitt in die felsigen Berge geformt hatte. Links und rechts vom Granit bedrängt, gelang es dem weichen Wasser dennoch, den harten Stein zu glätten. Aber hier, endlich, war das Werk getan, der Fluß war frei, atmete auf, ergoß sich in die Ebene und ließ die hohen Berge zurück. Auf den rechts liegenden Anhöhen erkannte Haller das rote Dach eines Gebäudes. `Auch ein Hotel', erinnerte er sich, `und ein Konkurrent der Bärenburg'. Er fühlte sein Herz schneller schlagen als er den Blick zur linken Seite wandte. Dort, auf dem Bergrücken hat sie gestanden, die Bärenburg, genauer das `Hotel Bärenburg', das von seinen inzwischen längst verstorbenen Eltern bewirtschaftet worden war. Eigentlich war es ein Ausflugsrestaurant mit einigen Gästezimmern, die im Sommer an Pensionsgäste vermietet wurden. Hier hatte er, Bernhard Haller, seine Kindheit und frühe Jugend verbracht. Die Fenster beinahe aller Gästeräume und auch die ihrer eigenen Wohnung boten diesen Blick in die weite Ebene und zur anderen Seite die Aussicht in das Flußtal hinein und auf die sich beiderseits des Flusses erhebenden bewaldeten Berge. Sie hatten immer oberhalb des geschäftigen Treibens in der unten liegenden Stadt gelebt. Aus der Ferne hatten sie die in den Bahnhof ein- und ausfahrenden Züge sehen können und die Menschen gleich Ameisen in den beiden Geschäftsstraßen umher laufen sehen. Sie selbst waren weit entfernt von all dem. Die Bärenburg war nur auf einem Wanderweg, der sich aus dem Tal den Berg hinaufwand, zu erreichen gewesen. Das war auch sein Schulweg und die Verbindung zur Außenwelt. Wie oft war er nicht diesen Weg gegangen? Kaum war er jetzt noch zu erkennen. Der Weg hatte ihn durch den Wechsel der Jahreszeiten geführt, im Herbst und Winter of durch Regen, Nebel und Schnee, im Frühjahr durch ein Meer von Anemonen und durch den jungen frisch knospenden Eichenwald. Die zweite Lebensader war der Lastenaufzug, der von der Bergchaussee zweihundert Meter hinauf zum Hotel führte. Er begann in einer kleinen, zur Bergseite offenen Holzhütte direkt an der Straße. Hier setzten die Lieferanten, die von der Stadt auf der Chaussee ankamen, ihre Fracht ab. Der Vater stieg auf dem schmalen Pfad unterhalb des Seils hinab, belud den am Seil auf einer Rolle hängenden Kasten und die Mutter setzte den Motor der auf dem Berg stehenden Seilwinde in Gang. So fuhr die kleine Lore hinauf und kam wieder herunter bis die gesamte Lieferung oben war. Im Winter wurde der Lastenaufzug nur selten in Gang gesetzt. Pensionsgäste blieben aus, man bevorzugte die Hotels auf den gegenüberliegenden Bergen, zu denen Straßen führten. Auch in das Restaurant verlief sich selten einmal ein Gast. Das Seil des Lastenaufzugs setzte Rost an. Aber unverdrossen stand der klapperdürre Wirt, Hallers Vater, hinter der Theke und wartete, meist vergeblich, auf Gäste. Immer trauriger hingen die gelblichen Spitzen seines Schnurrbarts an den Mundwinkeln herab.
Und noch etwas verband das Hotel auf dem Berg mit der Welt dort unten: der Rauch, unaufhörlich, bei Tag und bei Nacht stieg er aus den sieben Schloten der Fabrik bis zu ihnen herauf. Hingen die Wolken tief in den Berggipfeln, so konnte der Rauch nicht weiter aufwärts ziehen, sein Geruch nach Kohle und Eisen lastete über der Bärenburg und drang durch Fenster und Türen in das Haus. Auch so war man stets mit der Welt dort unten verbunden. Die Mutter schimpfte, wenn sich der Ruß, den der Rauch mit sich brachte, auf der zum Trocknen aufgehängten Wäsche niederschlug. Es ging ihnen nicht besser als denen dort unten - das Eisen-Hüttenwerk, die `Hütte', wie alle es nannten, bestimmte das Leben der meisten Familien in der Stadt und ungewollt auch das ihre hier oben. Die Werksirenen, die morgens, mittags und spät am Abend den Schichtwechsel verkündeten, prägten den Lebensrhythmus der meisten Familien der Stadt und auch das Leben auf der Bärenburg, denn auch hier oben waren sie unüberhörbar.
Haller beugte sich weit vor. Nichts, die Bärenburg war verschwunden und dort, wo die Siemens-Martin-Öfen des Stahlwerks gestanden hatten, breitete sich eine große, freie Fläche aus, auf der er nur einige, vereinzelt stehende Autos wahrnahm. Die letzten Steine der Bärenburg waren schon vor vielen Jahren abgetragen worden, lange nachdem seine Eltern nicht nur das Gasthaus, sondern auch ihre und seine, Hallers Heimat, aufgegeben hatten. Der Vater mochte den Geruch des Rauches nicht. Schon der Entschluss nach vielen, harten Arbeitsjahren in der Fabrik auf den Berg zu ziehen und die `Bärenburg' zu übernehmen, war einer Flucht vor Rauch, Schmutz und Lärm gleich gekommen. Der Vater mochte die Fabrik nicht. Der anstrengenden körperlichen Arbeit war er auf Dauer nicht gewachsen, eine chronische Bronchitis quälte ihn. Noch heute glaubte Haller die nächtlichen Hustenanfälle zu hören, die dem Vater den Schlaf raubten und die Familie in Angst versetzten. Auf dem Berg, inmitten der Wälder, so glaubte er, würde er wieder frei atmen können. Das aber stellte sich als verhängnisvoller Irrtum heraus. Die Fabrik war nicht verschwunden, ihr ständiger Anblick, wenn auch aus sicherer Entfernung, der Rauch, die Geräusche aufeinanderschlagenden Metalls belasteten ihn weiter, dazu kamen finanzielle Probleme, denn das Geschäft wollte und wollte nicht recht in Gang kommen, sosehr sich die Eltern auch darum bemühten.
Anders als der Vater hatte Bernhard die Welt dort unten nie als Bedrohung empfunden. Schon als kleines Kind, wenn er auf der Terasse vor dem Haus, von der aus sich der Blick in die weite Landschaft bot, spielte, unterbrach er sein Spiel von Zeit zu Zeit, schaute hinunter in die Stadt, zählte die Waggons der in den Bahnhof einfahrenden Züge und verfolgte mit seinen Augen die Wege der Menschen, die ihm aus seiner Höhe wie winzige Puppen erschienen. Ja, er vermeinte sogar, ihre Bahnen beeinflussen und lenken zu können, obwohl niemand dort unten ihn sehen oder hören konnte. Wenn er glaubte, ein auf dem Bahnhof stehender Zug würde in Kürze abfahren, schob er die zu den Bahnsteigen Eilenden, um ihnen zu helfen den Zug noch rechtzeitig zu erreichen. Einmal bemerkte er jemanden, einen Mann oder eine Frau, das konnte er von seinem Beobachterposten nicht erkennen, schnell zum bereit stehenden Zug laufen. Auch sein Atem beschleunigte sich beim Anblick der zu den Gleisen hastenden Person. `Wird er den Zug noch erreichen?' dachte er, `ich muß ihm helfen'. Aber der Zug fuhr schon langsam an. `Da kommt doch noch jemand', rief Bernhard dem Lokomotivführer zu. Es überraschte ihn kaum, als er den Fahrer sich aus dem Fenster beugen und zurück blicken sah, aber er war doch ein wenig stolz als er bemerkte, wie der Zug wieder anhielt und daß er auch dem allerletzten Fahrgast dazu verholfen hatte, sich auf seine Reise zu begeben.
In irgendeiner Weise schien ihn dieses Gefühl, die Dinge aus einer gewissen Entfernung, sozusagen abstrakt, betrachten zu können, sich aber doch, wenn es Not tat, einmischen und helfen zu wollen, geprägt zu haben. Als er zur Schule kam, wurde er, obwohl er bis dahin kaum Kontakt zu Kindern seines Alters gehabt hatte, nie als Fremder oder Eindringling gesehen. Im Gegenteil, da ihm das Lernen leichtfiel, er am schnellsten laufen und am weitesten springen und werfen konnte, war er bei seinen Mitschülern beliebt wie kein anderer. Die anderen Kinder blickten zu ihm auf. Das verwunderte ihn nicht, er nahm es mit natürlicher Selbstverständlichkeit hin, ohne daß die Hochachtung der anderen ihn in irgendeiner Weise verändert hätte. Er war neugierig auf das Leben unten im Tal, wollte seine Geheimnisse lüften, wollte wissen, was die Menschen taten und dachten. Besonders die Fabrik hatte es ihm angetan. Nichts wünschte er sich mehr, als zu ergründen, was dort unten geschah, was es mit dem aufsteigenden Rauch auf sich hatte und weshalb man im Winter, wenn es am Morgen noch und am frühen Abend schon wieder dunkel war, den Himmel über der Stadt dunkelrot erglühen sah. Es fiel ihm schwer zu begreifen, weshalb die Eltern dies alles so haßten. Immer wurde ihm gesagt, auf keinen Fall würde er nach dem Ende der Schulzeit in der Fabrik einen Beruf erlernen und dort unten arbeiten müssen und immer wieder, je älter er wurde, sprach man darüber, die angestammte Gegend eines Tages zu verlassen, um ihm eine andere Lebensperspektive zu ermöglichen. Er wollte das nicht und mit zunehmendem Alter bemühte er sich, die Eltern von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen. Für seine Mitschüler war klar, sobald es möglich war, man mußte dazu wenigstens fünfzehn Jahre alt sein, würden sie während der Schulferien in der Fabrik, dort wo auch die meisten Väter, Onkel und die älteren Geschwister arbeiteten, ihr Taschengeld verdienen, um Geld für ein Fahrrad, ein Kofferradio oder ein Motorrad zu ersparen. ``Für dich kommt das nicht in Frage'', verkündete Berhards Vater sofort, als der Junge ganz vorsichtig das Gespräch auf dieses Thema lenkte, ``du kannst in den Ferien bei uns kellnern''. `Wen soll ich nur bedienen, zu uns kommen ja kaum Gäste', dachte Bernhard, sagte es aber nicht, denn er wollte den Vater nicht verletzen.

``Hör mal, Vater, was berühmte Leute schon vor sechzig Jahren über unseren Rauch geschrieben haben'', versuchte Bernhard am nächsten Tag das Gespräch wieder auf das leidige Thema zurückzubringen.
``Mein Rauch ist das nicht'', bemerkte der Vater spitz, ``was hast du denn da?''
Bernhard hielt ein Buch in der Hand. ``Ist ein Roman von Fontane''.
Der Vater hatte schon den einen oder anderen Roman des Dichters gelesen, denn er las gern und zitierte hin und wieder Passagen aus `John Maynard', aber daß der sich über den Rauch der Fabrik dort unten ausgelassen haben sollte, erschien ihm doch recht unwahrscheinlich.
``Na, lass mal hören'', sagte er trotzdem gutmütig:
`Sieh nur, Hugo, wie das Ozon da drüben am Gebirge hinstreicht. In den Zeitungen heißt es in einer allwöchentlich wiederkehrenden Annonce: `X, klimatischer Kurort'. Und nun diese Schornsteine! Na meinetwegen; Rauch konserviert, und wenn wir hier vierzehn Tage im Schmok hängen, so kommen wir als Dauerschinken wieder heraus.'
``Na, da siehst du's'', bemerkte der Vater zufrieden, ``hat der alte Fontane doch nicht anders gesehen als ich. Denk nur, so haben die Schlote schon im neunzehnten Jahrhundert die gesunde Bergluft verpestet. Steht da etwa noch mehr über `unseren Rauch'? ''.
Dieser Bemerkung entnahm Bernhard, daß der Vater bereit war einzulenken. Und weiterlesend erfuhren Bernhard und sein Vater, wie die in dieser Hinsicht etwas naive Protagonistin des Romans `Cècile von St. Arnaud', schwärmerisch über `die Blechhütte' und `Blech mit Emaille' sprach und den Wunsch äußerte, das alles besichtigen zu dürfen. Zu einer Werksbesichtigung kam es im Roman indes nicht.
Trotzdem hatte Bernhard, dieses Mal mit Fontanes Hilfe, gewonnen. Die Eltern erlaubten ihm während der bevorstehenden Schulferien in der Fabrik zu arbeiten.
Instinktiv hatte Haller sich, wie um den Blick auf das Vergangene zu schärfen, noch weiter über die Brüstung, dem Abgrund entgegen, gebeugt, als eine Stimme ihn jäh in die Gegenwart zurückholte.
``Vorsicht, seien Sie bloß vorsichtig'', hörte er hinter sich jemanden rufen, während er gleichzeitig eine Hand auf seiner Schulter verspürte. Er wendete sich verwundert um; eine Frau hatte sich ihm genähert, wohl befürchtend, er könne in die Tiefe stürzen. Ihre Gesichtszüge erschienen ihm bekannt. Hatte er sie nicht gestern im Bus gesehen, oder woher kannte er dieses Gesicht?
``Seien Sie unbesorgt'', sagte er, ``so schlimm steht es nicht mit mir''.
``Woran denken Sie?'' fragte die fremde Frau und, sich sofort bewußt werdend, dass Sie als Fremde kein Recht hatte, derartig zu fragen, fuhr sie fort:
``Entschuldigen Sie meine Frage, sie steht mir nicht zu, aber für einen Augenblick habe ich geglaubt, sie wollten sich etwas antun und ich müsste Sie vor sich selbst schützen.''
Haller war etwas ratlos. ``Ich war hier einmal zu Hause'', sagte er dann.
``Da drüben auf dem Berg hat unser Haus, das Haus in dem ich aufgewachsen bin, gestanden. Aber das liegt lange zurück, von dem Haus ist nichts mehr zu sehen''.
Merkwürdig, nun wunderte er sich nicht einmal mehr darüber, von der Dame angesprochen worden zu sein und sie erschien ihm keineswegs fremd.
``Haller, ich bin Bernhard Haller'', stellte er sich deshalb vor und blickte sein Gegenüber fragend an.
``Nennen Sie mich einfach `Cècile' '', kam seine `Retterin' seiner Frage zuvor.
Auch diese Antwort verwunderte Haller nicht und auch nicht, daß
Cècile ihn aufforderte, ihr seine Geschichte zu erzählen.
``Ich bin auch von hier, möglich, daß wir noch weitere
Gemeinsamkeiten finden'', ermunterte sie ihn. ``Woran dachten Sie
gerade?''
``Wie sich der ganze Himmel über der Stadt beim Abstich an den Siemens-Martin und Elektrostahlöfen während der dunklen Winterabende und Wintermorgen glutrot verfärbte -- ein Schauspiel, das mich immer wieder beeindruckt hat. Da oben auf unserem Berg hätte ich mir das schon als Kind gern aus der Nähe angesehen. Ich dachte gerade an meine ersten Erfahrungen in der Fabrik dort unten.''
``Wie romantisch? Und der Rauch?'' bemerkte Cècile. ``Wenn Wäsche im Freien zum Trocknen aufgehängt wurde, war sie oft schon nach wenigen Minuten von Ruß bedeckt.''
`Offenbar hat sie das selbst auch erlebt', dachte Haller.
``Aber nur bei falscher Windrichtung'', bemerkte er trotzdem
trocken.
``Stahl- und Walzwerk gibt es nicht mehr, wie Sie dort unten sehen können und auch sonst scheint nicht allzuviel vom Eisen- und Hüttenwerk übrig geblieben zu sein. Man sprach von siebentausend Beschäftigten. Wie viele werden es heute noch sein? Und wo haben die vielen Menschen eine andere Tätigkeit aufnehmen können?''
``Aber die Natur ist doch wirklich grossartig'', lenkte Cècile ab,
``der Blick in die weite Landschaft, die Felder und Dörfer und dann das Tal und der Fluß auf der anderen Seite''.
``Interessiert Sie die Geschichte von meinen ersten Erfahrungen im
Stahlwerk wirklich? '' versuchte Haller sich zu vergewissern.
``Aber ja, unbedingt'' Cècile stimmte sofort zu, auch um ihrem Abgleiten ins Sentimentale zu entgehen.
``Sie wollten sicherlich die Ursache des täglichen Morgen- und Abendrots über der Stadt erkunden. Für mich war das unerreichbar. Mädchen wurden nicht genommen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es gewollt hätte.''
`Sie kennt sich wirklich aus,' Haller versuchte, sich der Mädchen zu erinnern, die ihn als Heranwachsenden interessiert hatten.
``Im Sommer nach meinem sechzehnten Geburtstag war es dann so weit. Ich durfte an einem der Stahlöfen arbeiten.''
``Sie werden sehr enttäuscht gewesen sein, zu erfahren, wie es wirklich dort zuging.''
``Glauben Sie? Nun ja, ich gebe zu, dass meine Vorstellungen vom Walzwerk, das ich ja schon kannte, und vom Stahlwerk aus anderen Quellen gespeist waren.''
``Ich bin mir beinahe sicher, zu wissen, woher sie kamen, Ihre Vorstellungen,'' sagte.
``Da bin ich aber gespannt!''
``Sie können es zugeben: `Eisenwalzwerk' von Menzel, `Stahlwerker I, II'
von dem hiesigen Maler, vielleicht ein Gedicht von Majakowski oder die Schilderungen des Arbeitslebens in der Borinage bei Zola?''
``Von jedem etwas,'' antwortete Haller.
``Ich bin ganz Ohr, erzählen Sie, aber sollten wir nicht `du' zueinander sagen?'' fragte sie. Sie fügte noch etwas leiser hinzu, aber Haller hatte es nicht ganz verstanden. ``So wie früher'', glaubte er gehört zu haben, war sich aber keineswegs sicher und wollte auch nicht um weitere Erklärung bitten, sondern statt einer Antwort oder einer Frage, nickte er nur.
Und Haller begann seine Erzählung.
``Die großen Ferien nach Abschluss der zehnten Klasse waren herangerückt. Acht lange Wochen frei sein, Schwimmen gehen, mit dem Fahrrad unterwegs sein, Radtouren mit Freunden unternehmen, darauf hatte ich mich schon seit langem gefreut. Trotzdem - in den ersten beiden Ferienwochen wollte ich in der Hütte arbeiten, nicht nur im Walzwerk
Bleche sortieren wie im Jahr zuvor, sondern im Stahlwerk miterleben, wie aus Schrott und Eisenerz Stahl geschmolzen wird. Du weißt, man musste wenigstens sechzehn Jahre alt sein, um dort arbeiten zu können. Andere Werksabteilungen nahmen auch schon fünfzehnjährige auf. Schon dies war eine Herausforderung, man war schon erwachsen genug, um dort zu arbeiten, wo ganze Kerle sich täglich bei Hitze und Staub beweisen mussten. Dazu kam, dass mein Vater meinem Plan mit großer Skepsis begegnete. Er selbst hat früher dort gearbeitet und wohl keine guten Erfahrungen gemacht. Sicher ein Grund für ihn, sich auf den Berg zurückzuziehen. Aber das habe ich damals noch nicht erkannt.
Während des Unterrichts in der Produktion, das war eines unserer Schulfächer, besichtigten wir mehrere Betriebsabteilungen. Das Stahlwerk hatte mich besonders fasziniert. Auf der Ofenbühne des Siemens-Martin-Ofens hatten wir gestanden. Als die Ofentür geöffnet wurde, schlug uns die Gluthitze entgegen, obwohl wir das Schauspiel aus sicherer Entfernung betrachteten. Dann traten die Stahlschmelzer mit ihren Lederschürzen und den breitkrempigen Arbeitskappen, die Schutz vor der Hitze bieten sollten, vor das Ofenloch, um die Zuschlagstoffe mit weiten Schaufelschwüngen schnell und gezielt in das Ofeninnere zu schleudern. Sobald ein Schmelzer sich seiner Last entledigt hatte, mußte
er den Rückzug antreten, um dem Nächsten Platz zu machen. Das alles musste schnell gehen, denn vor dem geöffneten Ofen, in dessen Innerem 1800 Grad herrschten, konnte man es nur einen kurzen Augenblick lang aushalten.''
``Eine schwere Arbeit'', stimmte Cècile zu. ``Ob heute wohl noch ebenso gearbeitet wird?''
``In Westeuropa werden keine Siemens-Martin-Öfen mehr betrieben. Hier war 1984 schon Schluss damit. Die letzten können Sie nur noch in Museen besichtigen.''
Unversehens war er wieder ins sachlichere `Sie' zurückgefallen.
`Das klang sehr schulmeisterlich', dachte Haller und sah seiner Zuhörerin in die Augen, um zu ergründen, ob sie seine Worte wohl auch so empfunden haben könnte.
`Woher kenne ich diese Augen und dieses Gesicht nur?' fragte er sich zum wiederholten Male.
``Erzähle bitte weiter'', forderte Cècile ihn auf, ``was geschah damals?''
``Bevor ich im Stahlwerk arbeiten konnte, musste ich ärztlich untersucht werden. Ich ging also zur Poliklinik und ließ alle erforderlichen Untersuchungen und Tests an mir durchführen, mit dem Ergebnis, dass ich für die Stahlwerksarbeit tauglich war. Ich wurde eingestellt und bekam einen Betriebsausweis, den ich vorzeigen musste, um am Pförtnerhäuschen vorbeigelassen zu werden und das Werksgelände betreten zu dürfen. An einem Montag um sechs Uhr sollte meine erste Schicht beginnen, aber ich war schon eine halbe Stunde vor Schichtbeginn an Ort und Stelle. Der Obermeister gab mir die Arbeitsbekleidung und wies mir im dritten Stock des Sozialgebäudes in einem großen Umkleideraum einen der zahlreichen Spinde zu. Herr über den Umkleideraum und den danebenliegenden Waschraum mit den Duschen war der alte Hartung, ein hagerer alter Mann, dessen freundliches Gesicht vorwiegend aus Runzeln und Falten zu bestehen schien. Der Obermeister hatte mir beim Eintritt in die Umkleideräume erzählt, dass Kollege Hartung schon einundachtzig sei und den acht Kilometer langen Weg von einem benachbarten Dorf, in dem er wohnte, und zurück täglich zu Fuß zurücklege. ``Rate mal, wie alt ich bin?'' empfing mich der alte Hartung in der typischen Art, in der ältere Leute mit ihrem Alter kokettieren. ``Fünfundsiebzig'', antwortete ich schnell. Der Alte konnte seine Freude über meine Antwort nicht verbergen und der Obermeister nickte mir anerkennend zu. Dann gingen wir, der Obermeister und ich, ins Stahlwerk. Er stellte mich vor und wies mich einer der Ofenmannschaften zu. Ich solle mir alles erst einmal genau ansehen, riet mir der erste Schmelzer. So erlebte ich meine erste Schmelze, das Chargieren des Schrottes und Eisenerzes mit den Zusätzen für die Schlackebildung, das Schmelzen, das Zuführen weiterer Zusatzstoffe in den geöffneten Ofen. Ich beobachtete die Arbeit am Steuerpult; von hier aus wurde das Vorheizen der Verbrennungsluft und des Generatorgases durch die Abgase in den Regenerativkammern gesteuert. Und dann erhielt ich auch meinen ersten Arbeitsauftrag - dem Ofen entnommene Proben zum Schnelllabor bringen, die Analyse abwarten und dem ersten Schmelzer das Ergebnis übermitteln. Danach wurde entschieden, ob noch weitere Zusätze erforderlich waren, um die beabsichtigte Stahlsorte zu erhalten. Ich fuhr die Zuschlagstoffe in Schubkarren heran und reihte mich in die Gruppe der Männer ein, die den Glutschlund des geöffneten Ofens mit ihren raschen Schaufelschwüngen fütterten. Ein wenig fühlte ich mich wie Jung-Siegfried vor dem feuerspeienden geöffneten Schlund des Drachen. Hitze und Staub machten durstig. Die Männer warnten mich: ``Hast du erst einmal angefangen zu trinken, so kannst du nicht mehr aufhören. Es genügt, den Mund zu spülen.'' Getränke standen in ausreichender Menge zur Verfügung: kalter Tee und Fleischbrühe, Mineralwasser und `Fliegerbier'. So wurde das alkoholfreie Bier genannt. Es kam so, wie vorhergesagt: ich begann von dem Mineralwasser zu trinken und hatte es bis zum Schichtende auf fünfzehn Flaschen gebracht - eine Lehre für den nächsten Arbeitstag. Schließlich der Abstich. Die Abflussrinne wurde geöffnet, und nun verwandelte sich der Ofen in den feuerspeienden Drachen der Sage. Der Strom glühenden Stahls ließ die Werkhalle in tiefem Rot erstrahlen. Funken sprühten aus der Glut. Trotz aller Dramatik des Augenblicks - der Glutstrom nahm den ihm vorgeschriebenen Weg in die Kokillen und der Stahl wurde zu Brammen gegossen, die auf einer Seite der Werkhalle beim Erkalten ihre Wärme an den umgebenden Raum abgaben. Mit dem Ende dieser dramatischen Inszenierung rückte auch schon das Schichtende heran. Der langsam erkaltende Ofen wurde überprüft und für die nächste Schicht vorbereitet. Die Männer, meine neu gewonnenen Arbeitskollegen, nahmen mich mit in die Umkleideräume und unter die Duschen. Der alte Hartung wollte wissen, ob mir der erste Arbeitstag gefallen habe und von den Männern, wie ich mich angestellt hätte, ein Pennäler im Stahlwerk. ``Der Junge macht sich'', sagten die Männer. Das klang fast so, als ob ich nun einer von ihnen wäre und machte mich stolz. Gemeinsam gingen wir in die Werkskantine. Am Tisch der Ofenmannschaft bekam ich meinen Platz zugewiesen und fühlte mich beim gemeinsamen Mittagsmahl sehr wohl. Dann verließen wir das Werksgelände. Die Stadt lag in der Gluthitze eines heißen Julitages, der nach dem ebenfalls heißen Arbeitstag wenig Abkühlung bot. Ein Stück gemeinsamen Weges, dann verabschiedeten wir uns, bis zur nächsten Schicht. Müde, aber glücklich, trabte ich auf unseren Berg zurück.
``Interessant'', bemerkte Cècile. `Das hat sie also doch nicht übermässig interessiert', dachte Haller und überlegte, wie er seiner Erzählung mehr Dramatik verleihen könne. Gleichzeitig ging er in sich und versuchte herauszufinden, weshalb er nun begann, Cècile’s Aufmerksamkeit gewinnen zu wollen.
``Aber bitte, fahr doch fort'', ergänzte sie.
``Am nächsten Morgen empfing mich der Obermeister mit der Mitteilung, dass ich von nun an am Elektrostahlofen arbeiten würde, da der erste Schmelzer des Elektrostahlofens Hilfe angefordert hätte. Er stellte mich dem neuen Team vor. Es bestand nur aus drei Männern, den Schmelzern eins bis drei. ``Du bist doch einer von der Bärenburg da oben'', begrüsste mich der erste Schmelzer, ein hochgewachsener, hagerer älterer Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, dem die anderen beiden mit großer Hochachtung begegneten, etwas skeptisch.
``Ich bin Willi'', fuhr er fort.
``Bernhard'', stellte ich mich vor, ohne meinen Nachnamen zu nennen, denn das hatte er auch nicht getan, wohl in der Erwartung, dass ich, wie jeder andere, ihn zu kennen habe. Er hatte vollkommen recht, ich kannte ihn wirklich, sein markantes Gesicht hatte ich schon gesehen. Ich dachte angestrengt nach, woher er mir bekannt vorkam. Richtig, aus der Zeitung, ich hatte sein Foto in der Zeitung gesehen, es war Willi Riesel, der Chefobermeister und `Held der Arbeit'. Aber nicht nur aus der Zeitung kannte ich ihn, sondern auch als Nachbarn meiner Großeltern, der Eltern meines Vaters. Sie waren Flurnachbarn im Haus der Wohnungsbaugenossenschaft gewesen. Aber das lag nun schon viele Jahre zurück. `So sieht also ein Held aus', dachte ich. `Aber warum arbeitete er hier am Elektrostahlofen? Sein Verantwortungsbereich müsste doch grösser sein, vielleicht sogar das gesamte Stahlwerk?' Sollte er als bester Stahlwerker nicht der Chef sein? Er ließ mir nicht viel Zeit zum Nachdenken.
``Sieh dir alles an, aber nicht zu lange. Wir brauchen deine Hilfe.''
Ich lernte, dass im Elektrostahlofen vorwiegend Stahlschrott verarbeitet wurde. Der Ofen wurde gerade von einem Kran aus mit Schrott beschickt. Immer wieder mussten besonders sperrige Schrottteile mit Stangen und Haken in die richtige Position gebracht werden. Das Schmelzen erfolgte durch Lichtbögen, die zwischen dem Einsatzgut und den Spitzen der drei Kohleelektroden gezündet wurden. Ich hatte Zuschlagstoffe heranzufahren. Während des Schmelzprozesses wurden mehrfach Proben des flüssigen Stahls genommen, die ich ins Schnelllabor brachte, wo ich schon als alter Bekannter empfangen wurde. Dann wurde ich losgeschickt, um Manganbarren heranzubringen, die der Schmelze zugesetzt wurden, denn es sollte Edelstahl hergestellt werden. Während ich mich bemühte, jeden Auftrag schnell zu erfüllen, verging die Zeit wie im Fluge.
``Nun brauchen wir Teer'', ordnete mein Chef an und ich nahm zwei Eimer, um Teer zu holen. ``Sei vorsichtig, er ist heiß'', rief er mir noch nach, während ich dienstbeflissen davon eilte. In einer benachbarten Halle wurde Teer in einem Ofen verflüssigt. Unterhalb des Teerofens war eine Rinne lose angebracht, deren unteres Ende durch einen Schieber verschlossen war. Alles machte einen sehr instabilen Eindruck. Ich stand vor der Rinne unterhalb des Teerofens. Eine Hitzewelle schlug mir von dem verflüssigten Teer über mir her entgegen. Vorsichtig bemühte ich mich, den Schieber hoch zu ziehen. Er rührte sich nicht. Ich bewegte ihn seitlich hin und her und versuchte, ihn gleichzeitig nach oben zu bewegen. Nichts, der Schieber rührte sich nicht. Ich rüttelte stärker. `Auf keinen Fall ohne Teer zurückkommen', überlegte ich. Diese Blamage wollte ich mir nicht leisten. Ich zog stärker und stärker an dem Schieber, die gesamte Rinne bewegte sich unter meinen Bewegungen. Von der Hitze des Teers und von der Kraftanstrengung war mir schon warm geworden. Ich nahm all meine Kräfte zusammen und zog, so stark ich nur konnte. Plötzlich hatte ich die ganze Rinne in der Hand und von oben kam ein heißer Schwall schwarzen, flüssigen Teers auf mich hernieder. Das Gewicht der Rinne und der darauf fließende Teer rissen mich zu Boden. Instinktiv rollte ich mich zur Seite, denn es wurde pötzlich sehr heiß auf meinem Bauch. Neben mir stand noch immer der Eimer. Der heiße Teerstrom prasselte auf meinen Körper, auf meine Brust und lief abwärts.
``Was machst du denn da, Junge'', hörte ich eine Stimme von irgendwo hinter mir rufen. Ich rappelte mich auf. Nach oben blickend, bemerkte ich ein Ventil am Teerofen. Nach mehreren vergeblichen Bemühungen konnte ich zu guter letzt das Ventil doch schließen und den schwarzen Strom stoppen. Jetzt spürte ich die Hitze an meinem Körper. Ich ergriff die Lederschürze, die Arbeitsschutzbekleidung, die ich am Elektroofen erhalten hatte, und zog sie herunter. Sie hatte das Schlimmste verhindert. Aber es war Teer von oben hinter die Schürze und sogar in die Hose gelaufen. Mit beiden Händen bemühte ich mich, die teerdurchtränkte Hose von meinem Körper entfernt zu halten. Der Arbeiter, der gerufen hatte und aus der benachbarten Dolomitaufbereitungsanlage herbeigelaufen kam, weil er die scheppernden Geräusche der herunterbrechenden Rinne hörte, hatte sofort erfasst, was geschehen war. Er stürzte auf mich zu.
``Zieh dein Hemd aus'', ordnete er an während er selbst meine teerdurchtränkte heiße Hose herunterriss. Da stand ich nun, in Unterhosen, die auch schwarz waren, ebenso wie meine Beine.
``Hast du dich verbrannt?'' fragte er.
Wie sollte ich das wissen, alles war heiß, schmerzte aber nicht. Ich war etwas benommen, wollte es mir aber nicht anmerken lassen.
``Das war nicht das erste Mal'', fuhr er fort, als er sah, daß ich mich auf den Beinen halten konnte, ``wir haben den Arbeitsschutzmann schon oft auf die wackelige Rinne aufmerksam gemacht. Schließlich wurde sie gelb angestrichen, das war alles. Aber du solltest trotzdem zur Sanitätsstelle gehen, mit Verbrennungen ist nicht zu spaßen und der Unfall muss gemeldet werden.''
Ich gab meine mangelhafte Bekleidung zu bedenken, aber er sagte:
``Was du nur hast, ist doch alles schwarz.'' Aber dann fügte er hinzu: ``Warte hier, ich bringe dir eine andere Hose.''
Nach wenigen Augenblicken war er zurück und gab mir eine blaue Arbeitshose, die sich als viel zu weit erwies. Sie mit beiden Händen festhaltend, ging ich zur Sanitätsstelle. Der Sanitäter versuchte herauszufinden, ob es zu Verbrennungen gekommen war. Aber Brust und Bauch waren schwarz und er konnte nichts feststellen. Mir tat nichts weh, was ihn beruhigte, aber er sagte:
``Mehr lässt sich erst nach einer Grundreinigung sagen. Dafür ist Schwester Heidi zuständig''. Hintergründig lächelnd übergab er mich der jungen, hübschen Schwester Heidi. Sie tränkte Wattetupfer in Alkohol und begann den Teer von Brust und Bauch zu entfernen.
``Das geht ja noch tiefer'', sagte sie sehr leise ``da müsstest du mal deine Hose runterziehen'', fügte sie stockend hinzu.
Ich verspürte, wie ich rot wurde, bemerkte aber, dass auch die Krankenschwester, nicht viel älter als ich, verlegen war. Es gab wohl keine Möglichkeit, den wachsenden Peinlichkeiten zu entkommen. Wenn es doch aus medizinischer Sicht notwendig sein sollte, so überlegte ich schließlich und ließ meine Unterhosen herunter. Als ich an mir heruntersah, bemerkte ich, dass mein Patengeschenk auch pechschwarz war. Heidi blickte ebenso überrascht wie ich auf die Bescherung. Sehr zögernd machte sie sich trotzdem ans Werk. Sie war Krankenschwester oder vielleicht wollte sie erst eine werden und konnte sich keine Blöße geben. Sie tupfte und rieb vorsichtig mit dem Wattebausch, und unter dem mehr und mehr entfernten Teer begann sich, das besagte Organ grösser und grösser werdend in seiner natürlichen Gestalt und Farbe zu zeigen.
``Den Rest schaffe ich schon selbst'', sagte ich schnell und zog meine Hose hoch, denn ich verspürte entsetzt, wie die Peinlichkeiten wuchsen. Meine Einsicht in medizinische Notwendigkeiten hatte ihre Grenzen.
Die Schwester sah das ebenso und verwies mich zurück an den Sanitäter. Er behandelte eine Stelle meines Bauches, wo er eine Verbrennung feststellte. Nachdem ich Hemd und Hose gewechselt hatte, kehrte ich an meinen Arbeitsplatz zurück, leider ohne Teer.
``Wo warst du denn so lange?'' empfingen mich die Kollegen spöttisch. ``Wir haben gehört, du hattest ein Rendezvouz mit Schwester Heidi?''
Der Mann aus der Dolomitanlage hatte geplaudert.
``Wie war's denn mit Heidi?''
Sollte auch der Sanitäter eine undichte Stelle gewesen sein?
``Nicht so schlimm, alles in bester Ordnung'', sagte ich. Meine Arbeitskollegen betrachteten mich nach meinem kleinen Unfall noch mehr als einen der ihren. Wenn wir in den Pausen oder nach der Schicht noch zusammensaßen, um uns über das eine oder andere zu unterhalten, wurde ich zum Abschluss der Diskussion immer um meine Meinung gefragt. Besonders Willi wurde eine Art väterlicher Freund. Er erzählte mir Geschichten, die er mit meinem Vater erlebt hatte. Als Nachbarn im Haus der Wohnungsbaugenossenschaft hatten sie während ihrer Jugend viele gemeinsame Erlebnisse. Die eine oder andere Geschichte kannte ich schon aus den Erzählungen meines Vaters. Am folgenden Morgen zu Schichtbeginn eröffnete er mir, dass ich von nun an der dritte Schmelzer am Elektrostahlofen wäre, da der andere zu einem Kuraufenthalt gefahren sei. Das blieb ich dann bis zum Ende meines Ferieneinsatzes.''
``Oh, das ging ja wahrhaftig unter die Gürtellinie'', sagte Cècile lachend. In ihr fröhliches Gesicht blickend, fiel es Haller wie Schuppen von den Augen. Natürlich, das war sie, Cäcilie, seine verhinderte Tanzstundenpartnerin. Als die Tanzlehrerin in der ersten Tanzstunde die Herren gebeten hatte, eine der gegenüber sitzenden Damen zum Tanz aufzufordern, hatte Bernhard natürlich versucht, seinen heimlichen Schwarm, Cäcilie Arnold, zu erobern. Als er bemerkte, dass sie noch andere Verehrer hatte, die auch auf sie zusteuerten, hatte er zum Spurt angesetzt, war gestolpert, hatte eine Bauchlandung gemacht und sie auf dem Bauch rutschend erreicht, leider zu spät. Sie hatte ihre Wahl schon getroffen und lieber einen Jungen gewählt, der in würdigerer Haltung vor ihr erschienen war.
``Was sollte das mit Cècile? Cäcilie bist du, Cäcilie Arnold, die Tochter des Werkdirektors'', rief Haller, als er seiner Entdeckung sicher war.
``Du hast aber lange gebraucht, um das herauszufinden? Offenbar bist du immer noch ein Spätzünder''.
``Glaube mir, ich bin frühzeitig gestartet, aber leider vor Erreichen des Ziels zu Fall gekommen, als Opfer einer Intrige.''
``Meinst du, jemand hätte dir ein Bein gestellt?'' fragte sie.
``Ja'', behauptete er fest und beide mussten sie lachen.
``Ich habe meinen Namen geändert, nachdem ich nach Aix en Provence gegangen bin'', erklärte sie.
``Dann heißt du jetzt wohl Cècile de St. Arnaud?''
``So ist es, nur den Adelstitel und das `St.' habe ich mir erspart'', antwortete sie, ``schliesslich leben wir im einundzwanzigsten Jahrhundert und ich bin ja auch keine Heilige.''
``Das warst du auch damals nicht'', sagte Bernhard verwegen. Cäcilie versuchte zu protestieren aber dann verstummte sie und beide blickten nachdenklich ins Tal hinunter. Mit den großen Werkhallen waren auch die Schlote verschwunden. Am anderen Ende der trostlos aussehenden, leeren Freifläche, die hier stattdessen entstanden war, hatte ein neues, sehr kleines Fabrikgebäude seinen Platz gefunden.
``Es entsteht doch auch immer etwas Neues, nachdem das Alte verschwunden ist'', bemerkte Bernhard tiefsinnig, aber nicht sehr originell. Er blieb sich selbst treu, als er gleich darauf vorschlug:
``Lass uns doch einen gemeinsamen Spaziergang ins Tal machen, um zu sehen, was es ist.''
Und die beiden brachen gleich auf, den jungen Tag damit zu beginnen, dem neu Entstandenen auf den Grund zu gehen.


© Klaus Denecke


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Beschreibung des Autors zu "Rauch konserviert"

Das Industriezeitalter, dessen Beginn durch das Erscheinen der Romanfigur symbolisiert wird und dessen Ende die verschwundenen Schlote anzeigen, ist vorüber. Das Bewusstsein hinkt den Veränderungen nach, Hallers Erinnerungen hängen noch am Vergangenen. Und warum auch nicht? Hat es sein Leben doch entscheidend beeinflusst und geprägt. Geblieben ist nicht nur Leere, sondern auch der Wunsch, herabzusteigen in die Niederungen, um dort zu sein, wo sich das Neue vorsichtig hervorwagt.

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