Abgründe


Die beiden Kinder galten als unzertrennlich. Die Villa am unteren Ende der Straße, in der Cäcilie mit ihren Eltern wohnte, war von einem großen parkähnlichen Garten umgeben. Von hier konnten die Kinder, wenn sie einige dazwischen liegende Zäune überklettert hatten, hinter den Häusern bis zum kleinen Garten hinter dem Haus, in dem Roberts Großmutter wohnte, laufen. Dazwischen bildeten nicht genutzte Flächen mit hohen Unkräutern, Stauden und Steinhaufen eine ungewohnte und für die Kinder merkwürdige Wildnis. Hand in Hand durch diese Wildnis wandernd, erschien ihnen diese neue Welt groß und voller Geheimnisse. Auf einem Rasenfleckchen ließen sie sich nieder und pflückten Gänseblumen, aus denen er ihr einen Blütenkranz flocht und auf das flachsblonde Haar setzte. Dann nahm er den Kranz wieder ab und fragte seine Spielgefährtin:

``Weißt du denn auch, wie viele Blüten wir gepflückt haben?''

``Hundert?'' vermutete sie.

``Wir müssen sie zählen'', schlug er vor.

Und das Mädchen zählte:

``Eins, zwei, fünf, sieben, zwei, eins.''

Robert verbesserte sie und erklärte, wie sie zählen solle. Sie begann viele Male von neuem zu zählen, bis sie müde wurde, auf ihren Rechenmeister niedersank und beide Kinder in der Nachmittagssonne einschliefen.

An anderen Nachmittagen hüteten sie die beiden jungen Ziegen, die Roberts Onkel in einem der Nachbardörfer gekauft hatte. Fortan gehörte es zu den Pflichten des kleinen Jungen, die Ziegen beim Weiden zu beaufsichtigen. Der Onkel zeigte den Kindern, welche Pflanzen Ziegen zuträglich waren und welche sie nicht fressen durften. An manchen Nachmittagen wanderten sie gemeinsam in den nahegelegenen Wald, um die Ziegen im Laub der Büsche weiden zu lassen. Dabei lernten die Kinder, dass Eichenblätter bitter waren und die Ziegen sie nicht mochten. Wenn die Zeit ihnen zu lang wurde, schnitt der Onkel ihnen Stecken, die sie als Speere schleuderten, um die größte Weite wetteifernd. Schließlich schlug Robert vor:

``Komm, nun wollen wir fechten!''

Cäcilie stimmte begeistert zu und die Kinder attackierten einander mit ihren Stecken, bis der Onkel dem wilden Treiben Einhalt gebot.

Ein besonderes Erlebnis war es, wenn die Kinder die Erwachsenen im Sommer zum Heu machen auf die Waldwiesen oder im Herbst zum Holz sammeln in den Wald begleiten durften. Die `Holztage' im Oktober, wenn sich das Laub der Buchen schon verfärbt hatte und gelb und rot in der nun schon tief am Himmel stehenden Sonne leuchtete übertrafen noch die `Heutage', jene warmen Tage Ende Juni, an denen auf den Waldwiesen und Lichtungen Heu für die Ziegen gemacht wurde. Immer gab es viel Neues zu sehen und zu erleben. Um Holz für die kalten Wintertage zu holen, brauchte man einen Holzschein, Sägen, Äxte und einen Handwagen, dessen Seitenteile sich herausnehmen ließen und der in der Deichsel verlängert werden konnte, einen Langholzwagen. Es wurde auch nicht einfach nur Holz gesammelt, sondern `Holz gemacht' und man `fuhr ins Holz'. Robert und Cäcilie waren glücklich, wenn sie dabei sein durften.

Der Tag begann am zeitigen Morgen mit einer Wanderung in die Berge. Die Onkel hatten herausgefunden, wo Bäume gefällt worden waren. Diese Holzeinschlagstellen waren das Ziel. Buchenholz wurde bevorzugt, im Ofen gab es mehr Wärme ab als das Holz der Fichte. Mit dem Handwagen zog die Familie durch aufwärts führende Straßen der Stadt, vorbei am Kurhaus, danach ging es steil bergauf. Dies war aber noch nicht der steilste Straßenabschnitt; der folgte dort, wo die Abkürzung durch das Steinbachtal wieder auf die Straße traf. Der Weg durch das Steinbachtal war schöner und voller Abwechslungen. Schaute man nach oben, so sah man den `Alten Fritz', wie der Felsen, dessen Form an die Silhouette des Preußenkönigs erinnerte, genannt wurde. Ein Stück weiter begegnete man der `Glucke', einem anderen Felsen, die ganz in ihr Brutgeschäft vertieft war. Links plätscherte der Steinbach friedlich dahin und nach rechts führte der `Postbotensteig' durch die `Mausefalle' den Berg hinauf. Der Steinbach war nicht immer so friedlich gewesen. Gleich nach dem Ersten Weltkrieg, so erzählte die Großmutter, hatte es ein schlimmes Hochwasser gegeben. Nach anhaltenden, starken Regenfällen war der Bach angeschwollen, über die Ufer getreten und hatte sich in einen reißenden Fluss verwandelt, der ins Tal stürzte und dabei Geröll mit sich führte. Er hatte große Teile der Stadt überschwemmt, bevor er seinen Weg in den größeren Fluss gefunden hatte. Großmutter erwähnte sogar Menschenopfer, die das Hochwasser gefordert hatte. Pilzsammler, die durch das Tal bergauf gewandert waren, konnten sich nicht rechtzeitig vor den Fluten retten. Danach wurde am Oberlauf des Baches ein Staudamm gebaut, um die Gefahr zu bannen. Kommende Jahre zeigten aber, dass selbst dieser Damm noch keinen ausreichenden Schutz bot. Auf der Holztour wurde der Weg durch das Steinbachtal aber nicht eingeschlagen, da er zu schmal war, um auch dem Langholzwagen genügend Platz zu bieten. Den beiden Kindern war das nur recht, denn sie hatten Großmutters Erzählung gut im Gedächtnis behalten. Immer, wenn es bei Wanderungen durch das Steinbachtal ging, erfüllte sie ein heimliches Grausen und sie waren bemüht, das Tal schnell zu durchqueren und weiter oben wieder zu verlassen. Man fuhr also nicht durch das Tal, sondern um die `Windecke', von der man eine gute Aussicht auf die im Tal liegende Stadt und die sie umgebenden Dörfer des Gebirgsvorlandes hatte. Nach der zweiten Windecke war das steilste Stück erreicht. Robert, der bis hier den leichten Wagen gezogen hatte, wurde nun vom Onkel abgelöst. Nachdem man das Forsthaus hinter sich gelassen hatte, ging es nur noch ein kleines Stück bergan und dann verlief die Straße fast eben. Das Ziel war ein neuer Holzeinschlag in der Nähe eines weiteren Forsthauses.

Schon aus der Ferne konnte man das Denkmal mit dem auf einem Sockel liegenden Hirsch erkennen. Hier, die Inschrift buchstabierend, stellten die beiden Kleinen ihre gerade in der Schule erworbenen Lesefertigkeiten unter Beweis. Robert las den Namen des Forstwirts vor, dem das Denkmal gewidmet war.

``Warum hatte er so viele Vornamen?'' wollte Cäcilie wissen. Der Onkel wusste zu antworten:

``Er hat sie selten benutzt und sich immer nur Wilhelm nennen lassen.''

``Was hat er getan, warum hat man ihm ein Denkmal errichtet?'' fragte Robert.

Der Onkel dachte nach:

``Er war ein Jäger und Forstwirt.''

``Hat er hier im Forsthaus gewohnt?''

``Nein, ich glaube nicht'', antwortete der Onkel, ``aber die Landschaft hier, oberhalb des Tals, hat ihm besonders gut gefallen. Deshalb war er mehrere Male hier und hat seinen Studenten erklärt, wie der Wald aufgeforstet und gepflegt werden soll.''

Die Kinder gaben sich mit den Antworten zufrieden und Cäcilie begann langsam, das auf der Tafel an der Rückseite geschriebene Gedicht vorzulesen. Das Gedicht war lang und Robert, etwas ungeduldig geworden, begann gleich das Ende des Gedichts in höherem Tempo zu lesen:

``und biete einst dem Lebensmüden ein stilles Grab als letztes Ziel.''

``Ist denn dies sein Grab?'' wollte er wissen.

``Nein, aber vielleicht hat er sich das gewünscht, weil es hier so schön und ruhig ist'', wurde ihm erklärt.

So ruhig war es an diesem Tage aber nicht. Aus der Ferne war das Kreischen von Sägen zu hören und nun bog man zum Holzeinschlag ab, der nach einigen hundert Metern erreicht wurde. Ein Waldarbeiter zeigte, welche der von den alten, in hellem Grau schimmernden Buchen, abgesägten Äste und Zweige genommen werden durften. Und dann begann die Arbeit. Die dicksten Äste wurden ausgesucht. Gerade sollten sie sein und lang, damit sie dann auf dem Wagen eine gute Fuhre ergaben. Die dünneren, seitlichen Zweige wurden mit Äxten entfernt.

Während die Erwachsenen arbeiteten, ließen sich die Kinder auf einer etwas entfernteren Waldwiese in sicherem Abstand zum Spielen nieder. Mitten durch die Wiese zog sich ein kleiner Bach, an dem violette Herbstzeitlose wuchsen. Das Mädchen wollte sofort damit beginnen, einen Strauss zu pflücken, aber Robert hatte davon reden hören, dass die Pflanzen giftig sein sollten und warnte das Mädchen.

``Heute bauen wir ein Wasserrad'', schlug er deshalb vor, um die Kleine von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie war sofort einverstanden und er begann zu erklären, wie sie es machen wollten.

``Gut, dass ich mein Taschenmesser mitgenommen habe'', sagte er.

Sie beratschlagten lange, wie sie die Flügel des Wasserrades herstellen sollten. Dann sammelten sie Steine und Holzstücke, die ihnen geeignet erschienen. Die Kinder waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie zuerst nicht hörten, wie sie gerufen wurden:

``Kommt zum Essen'', rief die Mutter schon zum wiederholten Male.
``Heute sind wir zum Essen eingeladen'', sagte sie, nachdem die beiden Kinder herbeigelaufen waren.

``Bei wem denn?'' fragten die beiden verwundert.

``Bei einem Wirte, wundermild, da bin ich heut zu Gaste'', antwortete der Onkel.

``Ach du'', sagte die Mutter, ``das werdet ihr gleich sehen,
wir müssen aber noch ein Stückchen laufen.''

Sie gingen wieder in Richtung des Bachs, an dem sie auf der Wiese gespielt hatten, aber zu seinem Unterlauf.

``Hier riecht es aber merkwürdig'', fand Robert.

``Unser Essen wird doch nicht angebrannt sein'', scherzte der Onkel.

Der rauchige Geruch wurde stärker und stärker, bis die Kinder den Rauch bemerkten, der in schlanken Säulen aus einem Erdhügel aufstieg.

``Das ist ein Kohlenmeiler'', erklärte der Onkel.

``Was ist denn ein Kohlenmeiler?'' fragte Cäcilie.

Und der Onkel erklärte:

``Ein Kohlenmeiler ist ein mit Erde, Gras und Moos luftdicht
bedeckter Holzhaufen, der von einem Köhler in Brand gesetzt
wird, um Holzkohle zu erzeugen.''

Und dann kam auch die Familie des Köhlers herbei, das Ehepaar und zwei Jungen, etwas älter als Robert und Cäcilie. Die Köhlerfrau war eine von Mutters Schulfreundinnen. Die beiden Jungen erklärten den Ankömmlingen, dass sie im Sommer während der Schulferien mit den Eltern im Wald wohnen durften und zeigten den beiden die aus kegelförmig aufgestellten Fichtenstämmen gebaute Hütte, deren Dach aus Grassoden bestand und in der sie schliefen. Der ältere der beiden Köhlerjungen führte Robert und Cäcilie zum Meiler und erklärte ihnen seines Vaters Arbeit.

``Wenn wir mit einem neuen Meiler beginnen'', sagte er, ``wird
ein Schacht aus Stangen errichtet, die senkrecht in den Boden
gesteckt werden. Rundherum werden Holzstücke aufgeschichtet.
Darauf kommt ein Dach aus trockenem Laub, Heu oder Stroh. Zum
Abschluss wird der Meiler mit Erde, Gras und Moos luftdicht
verschlossen. Und dann zünden wir den Meiler an.''

Robert und Cäcilie staunten, vor allem deshalb, weil ihr Lehrmeister so genau Bescheid wusste. Die beiden durften ihrem Vater bei der Arbeit helfen. Wie interessant das war! Der Köhlersohn, ganz im Bewusstsein der Bedeutung seiner Erklärungen, fuhr fort:

``Die Aufgabe des Köhlers ist es, während der folgenden Tage
den Meiler weder erlöschen noch ihn durch zu viel Luftzufuhr
abbrennen zu lassen, er darf nicht zuviel Luft bekommen,
alles muss stimmen, sonst haben wir am Ende keine Holzkohle,
sondern nur Asche.''

``Wie kann denn die Luftzufuhr reguliert werden?'' fragte Robert
den Köhlerjungen.

``Wir bohren Löcher in den Meiler, mal größere, mal kleinere,
mehr oder weniger Löcher. An der Farbe des Rauchs erkennen
wir, ob zu viel oder zu wenig Luft herankommt. Wenn alles
fertig ist, wird der Meiler mit Wasser abgelöscht. Das Wasser
holen wir vorher aus dem Bach. Wenn wir nicht genau aufpassen,
wird der Meiler zu heiß und alles Holz verbrennt.''

Jetzt wollten die Kinder noch wissen, wozu Holzkohle gebraucht wird. Auch darüber wussten die beiden Jungen Bescheid und gaben ihr Wissen stolz weiter.

``Nun ist unser Essen fertig'', sagte die Köhlerfrau.

Sie nahmen auf Baumstämmen, die in Sitzhöhe durchgesägt waren an einem Tisch mit einer dicken Holzplatte Platz. Das Mittagsmahl war auf einem offenen Holzfeuer in einem Kupferkessel, der an einem Gestell über dem Feuer hing, gekocht worden.

``Es gibt Wildschweingulasch'', erklärte die Köhlerfrau, während sie die Portionen in die Teller verteilte. Das war ein besonderes und seltenes Gericht, Robert hatte noch nie Wildschweingulasch gegessen. Niemand erkundigte sich nach der Herkunft des Wildschweins, sondern allen schmeckte das Essen sehr gut und sie aß en mit groß em Appetit. Selbst Cäcilie, die sonst beim Essen groß e Zurückhaltung übte, verlangte, nachdem sie ihren Teller geleert hatte, noch etwas mehr.

Nach dem Essen stimmten die Mutter und der Onkel das Lied vom `Jäger aus Kurpfalz' an und alle fielen in den Gesang ein, andere Lieder, die vom Wald und der Jägerei handelten, folgten. Die Herkunft des Wildschweins blieb im Ungewissen.

Schweren Herzens verabschiedete man sich zu guter Letzt von den `Carbonari'. Etwas verlegen bat die Köchin um absolute Verschwiegenheit und die Erwachsenen versprachen, mit niemandem über das Wildschwein zu sprechen. Zurück ging es zum Holzeinschlagplatz, um die Arbeit dort fortzusetzen. Es war schon ein beachtlicher Stapel von langen Buchenstangen zusammengetragen worden. Nun mussten sie noch fachgerecht auf dem Langholzwagen gestapelt werden. Zuletzt wurde der hohe Stapel mit Ketten und Seilen gesichert. Am späten Nachmittag, die Sonne war dabei, am Horizont zu versinken, war die Arbeit beendet. Die Kinder fanden, dass dies ein sehr schöner Tag war. Die Erwachsenen wussten, dass noch eine letzte Anstrengung bevorstand. Sie zogen und schoben die Holzfuhre talaufwärts. Am Denkmal des alten Försters war das schwerste Stück Arbeit bewältigt. Von da an war der Weg eben und der Wagen konnte mit geringerem Kraftaufwand gezogen werden. Während die Erwachsenen mit der Holzfuhre beschäftigt waren, liefen die Kinder neben dem Wagen her. Nach der Einmündung des Waldweges in die Straße, die hinunter ins Tal führte, rollte der Wagen fast von selbst. Cäcilie war vom Laufen ermüdet und beklagte sich, dass sie nicht mehr laufen könne. Die Mutter hatte Mitleid und hob sie auf den Wagen, wo sie auf zusammengelegten Säcken einen weichen Sitzplatz bekam. Nach der Kreuzung, an der nach links die Straße zum Berghotel abbog, wurde das Gefälle stärker und der schwerbeladene Wagen musste gebremst werden. Dazu wurde eine Buchenstange auf ein Hinterrad gedrückt, das auf diese Weise gebremst wurde. Heute war dies Mutters Aufgabe. Einer der beiden Onkel hielt die Lenkstange des Wagens mit beiden Händen. Da das Gefälle immer stärker wurde, mussten beide, die Bremserin und der Lenker, immer größere Kräfte aufbringen, um den Wagen sicher ins Tal zu führen. Tante, Onkel und Robert gingen hinter dem Wagen. Sie mussten schon kräftig ausschreiten, um das Tempo des talwärts rollenden, schwer beladenen Langholzwagens zu halten. Plötzlich hörte man ein Krachen und dann nochmals krachende, knirschende Geräusche von zersplitterndem Holz. Die Bremsstange war gebrochen. Verzweifelt versuchte die Mutter das verbliebene, kürzer gewordene Stück der Bremse zwischen Ladung und Rad zu verkeilen, um weiter bremsen zu können. Aber wieder zersplitterte das Holz. Indessen war der Wagen schneller geworden und drückte mit seiner Last talwärts. Der Onkel versuchte, den Wagen an der Lenkstange zu halten. Es gelang ihm jedoch nicht, ihn zum Stehen zu bringen und er begann zu laufen und wurde immer schneller. Mutter und Tante schrieen auf. Cäcilie saß oben auf dem Wagen, stumm vor Schreck, mit weit aufgerissenen Augen. Der Onkel lief, vom Gewicht des Wagens getrieben, immer schneller. Den anderen gelang es nicht, den Wagen einzuholen und ihn zu halten. Jetzt war das Wegstück mit dem größte Gefälle erreicht. Der immer schneller werdende Onkel überlegte, dass er den Wagen nicht würde halten können und dachte nur noch an das Kind, das angstvoll auf der Fuhre saß. Der Abstand des Wagens von den anderen hatte sich vergrößert. In dem Augenblick, in dem der Wagen in vollem Tempo um die Straßenecke bog und den Blicken der anderen entschwand, hörte man ein gewaltiges Krachen und die Geräusche zersplitternden Holzes. Die beiden Frauen schrieen erneut auf und rannten zur Unglücksstelle. Das erste, was sie bemerkten, war der Onkel, der die kreidebleiche Cäcilie in seinen Armen hielt. Erleichtert atmeten sie auf, das Kind war unversehrt. Der Langholzwagen lag auf der Seite im Graben zwischen der Straße und der steil aufragenden Felswand. Der Onkel hatte in der Kurve die Lenkstange losgelassen und mit einer schnellen Wendung nach dem Kind gegriffen.

``Halt dich an mir fest'', hatte er geschrieen und Cäcilie hatte sich an ihn geklammert. Das alles hatte sich in nur wenigen Sekunden abgespielt. Alle waren erleichtert und kümmerten sich um Cäcilie, die immer noch schreckensbleich war und im Straßengraben saß.

Nachdem die Ladung ganz vom Wagen heruntergenommen worden war, stellte sich heraus, dass der Wagen noch fahrtauglich war. Er wurde auf die Strasse zurückgebracht und mühevoll wieder beladen. Wie war es nur zu dem Unfall, der einen verhängnisvolle Ausgang hätte nehmen können, gekommen? Die Mutter hatte nicht, wie es üblich war, eine Buchenstange zum Bremsen verwendet, sondern eine aus Fichtenholz, die zwar gerade gewachsen war, aber nicht die Stabilität einer frischen Buchenstange hatte. Nun, nach dem Unfall, wurde der Wagen beidseitig gebremst. Als man endlich im Tal angekommen war, lag die Stadt schon in tiefem Dunkel.

Die Kinder dachten über diesen ereignisreichen Tag nach. Sie hatten viel Neues gesehen und gelernt. Sie hatten aber auch erlebt, wie der schönste Augenblick plötzlich umschlagen und in größ tem Schrecken und tiefster Verzweiflung enden kann. Dieses Mal war dank des beherzten Handelns des Onkels schließlich doch noch alles gut ausgegangen.

Die Jahre waren ins Land gegangen. Cäcilie und Roberts Freundschaft überdauerte die Zeiten, auch jene, in denen Jungen und Mädchen lieber unter ihresgleichen blieben. Viele ihrer Mitschüler hielten sie für Geschwister. Man war den Anblick des Paares gewohnt und stellte keine lästigen Fragen.


Das Abschlussjahr der Oberschule war herangerückt und mit ihm die Abiturprüfungen. Cäcilie fürchtete sich vor den schriftlichen Prüfungen in Mathematik. Robert versicherte immer wieder, dass sie nichts zu befürchten hätte. Sie hatten regelmäßig gemeinsam gelernt, Cäcilie verstand immer besser, worum es bei den verschiedenen mathematischen Themen ging und ihre Zensuren hatten sich verbessert. Aber das genügte nicht. Ihr sehnlichster Wunsch war, nach der Schule Medizin zu studieren. Das wollten viele, viel mehr als es Studienplätze in der Medizin gab. Es sollen sogar mehr als zehn Bewerber auf einen Studienplatz gekommen sein. Die Bewerber hatten alle gute Schulleistungen und die Auswahlkriterien wurden härter und härter. Zunächst einmal musste man sehr gute Zensuren in allen Fächern haben, auch in Mathematik. Man musste sich in der Jugendorganisation, der fast alle angehörten, engagieren und sich für die Klassengemeinschaft, die meist identisch mit der Jugendgruppe war, verantwortlich fühlen. Dazu gehörte, Mitschülern mit schwächeren Leistungen beim Lernen zu helfen, aber auch interessante, gemeinsame Aktivitäten in der Freizeit zu organisieren. Mitarbeit in einer Jugendorganisation einer der christlichen Kirchen war eher nachteilig. Wissen ist allemal besser als Glauben, hieß es. Aber wenn wir heute etwas noch nicht genau wissen, so dürfen wir doch daran glauben, dass wir es morgen besser wissen werden, wurde auch gesagt. Für den Erfolg der Bewerbung war es gut, aus einer Arbeiter- oder Bauernfamilie oder einer, die dafür galt, zu kommen, wenn nicht, musste man noch etwas besser sein. Man sollte viele Interessen haben, in einer Sportgemeinschaft mitmachen, aber ebenso gemeinsam musizieren oder die Theater besuchen, man sollte nicht egoistisch sein, sondern auch an andere denken und hilfsbereit sein. Es war schwierig, allen diesen Anforderungen gerecht zu werden, nicht aber für Cäcilie, sie schaffte alles mit Bravour. Mit einer Ausnahme, wie sie immer noch meinte, ihren Problemen mit der Mathematik. Mitunter wollte sie verzweifeln, wenn sie orientierungslos im Meer von Formeln und Figuren herumruderte. Aber dennoch blieben ihr zwei rettende Ufer: Novalis' `geheimes Wort', durch das eines schönen Tages hoffentlich das `ganze verkehrte Wesen' fort fliegen würde. Sie verehrte den Dichter der Romantik und war froh, dass er offenbar ebenso wie sie seine Schwierigkeiten mit der Mathematik hatte. Das war tröstend, aber nicht hilfreich. Verlässlicher und konkreter hingegen war Roberts Hilfe. Fast jeden Nachmittag hatte sie mit ihm geübt. Sie hatten sich die Aufgaben beschafft, die in den Vorjahren gestellt worden waren und berechneten Grenzwerte von Funktionen, differenzierten und integrierten, berechneten Anstiege von Tangenten und Flächeninhalte unter Kurven. Sie ermittelten Extremwerte und fragten, welcher Quader wohl bei gleichem Volumen die kleinste Oberfläche hätte. Cäcilie konnte die Gleichung einer Geraden durch zwei gegebene Punkte angeben, den Schnittpunkt von Geraden berechnen und den Winkel, den sie bildeten. Aber immer wieder gab es Probleme, zu denen sie absolut keinen Zugang fand, diese verflixte Rotwein--Weißwein--Geschichte zum Beispiel. Robert hatte ihr zwar versichert, diese Aufgabe würde zum Abitur nicht gestellt werden, aber sie wollte zu gern wissen, wie Robert auf die Lösung gekommen war. Jemand hat zwei Gläser mit gleichen Flüssigkeitsmengen, von Rotwein in dem einen und Weißwein in dem anderen, gefüllt. Nun nimmt man einen Teelöffel Rotwein und mischt ihn unter den Weißwein und einen Teelöffel des Gemischs wieder zurück in das Rotweinglas. ``Ist mehr Weißwein im Rotweinglas oder mehr Rotwein im Weißweinglas?'' so lautet die Frage. Cäcilie versuchte das Problem durch eine Rechnung zu lösen. ``Die Antwort ist einfach, da gibt es nichts zu rechnen, es ist genau so viel Rotwein im Weißwein wie Weißwein im Rotwein'', hatte Robert gesagt. Aber, warum? Cäcilie sah das nicht ein und konnte es nicht glauben. Das war doch keine Lösung! Sie bestand auf ihrer Rechnung, die ihr aber nicht gelingen wollte. Dann waren sie in den Keller gegangen, wo Cäcilies Eltern einige Flaschen Rotwein und Weißwein aufbewahrten. Obwohl Robert erneut versicherte, dass diese Aufgabe im Abitur nicht gestellt werden würde, bestand sie darauf, dass er zwei Flaschen öffnete und sie führte das Experiment durch. Wie sollte man nun aber das Problem lösen? Man müsste die Gemische verkosten und dann probierten sie zuerst ein Schlückchen Weißwein und dann vom Rotwein, um zu erfahren, wie sie ungemischt schmeckten. Dann kamen sie zum Rot--Weißwein--Gemisch. Das war wahrhaftig ein schwieriges Problem. Das Experiment musste wiederholt werden, aber die Lösung war in weiter Ferne, sie probierten weiter und gaben es schließlich auf. ``Du wirst wohl recht haben'', sagte sie ernüchtert, aber nicht mehr ganz nüchtern. Jetzt war ein neues Problem entstanden: die beiden geöffneten und angetrunkenen Flaschen. Wie sollte sie das ihren Eltern erklären? Wenn die Aufgabe so leicht, nur durch Nachdenken zu lösen war, wie sollte sie ihrem Vater klar machen, warum sie trotzdem die experimentelle Methode bevorzugt hatten. Vater hatte den Wein von seiner Frankreichreise mitgebracht und hatte gemeint, die Flaschen würde er zu einem besonderen Anlass öffnen. `Vielleicht zum bestandenen Abitur?' versuchte sie zu raten. Die Flaschen und ihr Inhalt mussten verschwinden. Robert protestierte, als sie darum bat, er möge den Wein draußen ausgießen.

``Die Flaschen müssen teuer gewesen sein'', fand er, ``selbst in Frankreich ist Wein nicht billig''.

Und dann hatte er noch mehr vom Weißwein getrunken. ``Er ist sehr gut gekühlt'', stellte er fest. Ihr hatte der Rotwein besser geschmeckt. Auf einer Kiste im Keller hatten sie gesessen und sich immer wieder von dem Wein eingeschenkt, vom Weißen, wie vom Roten. Sie hatte sich so leicht gefühlt und wollte Robert immer wieder umarmen und küssen. Schließlich war der Wein ausgetrunken und das zweite Problem damit gelöst. Robert hatte dann die leeren Flaschen mitgenommen und weggeworfen. Sie war in ihr Zimmer gegangen, hatte sich hingelegt und war gleich eingeschlafen. Robert musste sich bemühen, nicht zu schwanken und nicht zu wanken, wagte es aber nicht, nach Hause zu gehen. Was sollte Mutter von ihm denken? Auf dem nahen Tannenkopf sank er auf eine Bank und schlief ein. Als er erwachte, schmerzte sein Kopf und mit brummendem Schädel ging er heimwärts.

So hatten sie sich intensiv auf die Abiturprüfung vorbereitet und der Prüfungstag rückte heran. Robert versicherte ihr wieder und wieder, dass sie es schaffen und auch diese Prüfung mit vollem Erfolg abschließen würde. Cäcilie blieb skeptisch. Die Prüfungsarbeit wurde im weißen Saal, der kleinen Aula der Schule, geschrieben. Die Abiturienten waren rechtzeitig eingetroffen und hatten in dem Raum, in dem Tisch-- und Stuhlreihen aufgestellt worden waren, Platz genommen. Roberts Blick fiel durch die weit geöffneten Fenster über die Terrasse in den Park mit seinen alten Buchen. Er war ganz ruhig. Was sollte schon passieren? Er kannte die Aufgaben, die in den Vorjahren gestellt worden waren. Bestimmt würde die Klausur denen der vergangenen Jahre ähneln. Vor einigen Jahren, offenbar hatte die mit der Aufgabenstellung beauftragte staatliche Kommission nicht mit gebührender Sorgfalt ausgewählt, hatte es ein Desaster gegeben. Die Prüfungsergebnisse waren so schlecht gewesen, dass man sich, auch auf Druck von Eltern und Schülern, hatte entschließen müssen, die Prüfung mit anderen Aufgaben zu wiederholen. Das warf ein schlechtes Licht auf das Bildungswesen und durfte sich keinesfalls wiederholen. In den Folgejahren wurden Schwerpunkte gesetzt. Das hatte zu besseren Ergebnissen geführt.

Die Lehrer gingen durch die Reihen und korrigierten hier und da die von den Abiturienten gewählte Sitzordnung, um die Abstände zwischen den Prüflingen zu vergrößern oder Schüler umzusetzen. Die Strafe für Abschreiben war der Ausschluss vom Abitur. Die meisten Abiturienten rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Dann eröffnete der Direktor die Prüfung und die gedruckten, für das gesamte Land einheitlichen Zettel mit den Prüfungsaufgaben wurden verteilt. Es wurde dazu aufgefordert, alles durchzulesen. Im Raum herrschte Totenstille. Die konzentrierten Blicke waren auf die Aufgaben geheftet. Man versuchte, deren Inhalt zu verstehen. Robert blieb ruhig, alles war so, wie er es erwartet hatte. Er blickte hinüber zu Cäcilie. Sie saß in der ersten Reihe in der Nähe des Fensters, links vor ihm. Er hatte sie gut im Blick und beobachtete ihre Reaktionen beim Durchlesen. Gott sei Dank, es schien alles in Ordnung zu sein. Nun wurde dazu aufgefordert, für den Fall, dass es Unklarheiten über die Aufgabenstellung gäbe, Fragen zu stellen. Die Aufgaben waren klar und unmissverständlich formuliert, niemand hatte Fragen. Einer der Mathematiklehrer wies noch einmal auf die Prüfungsbestimmungen hin und gab den Zeitpunkt für die Abgabe der Lösungen an. Drei Stunden blieben. Nun wurde intensiv gearbeitet. Robert begann mit der Extremwertaufgabe, stellte die Funktion auf, die das Problem beschrieb, berechnete deren erste Ableitung und davon die Nullstellen und ermittelte den Wert der zweiten Ableitung an den Nullstellen der ersten, alles lief gut. Dann kam er zur nächsten Aufgabe, ein Beweis für eine Aussage über natürliche Zahlen war zu führen. Das war nicht schwierig, Beweise durch vollständige Induktion hatten sie zu Dutzenden geführt. Auch die weiteren Aufgaben bereiteten keine größeren Schwierigkeiten. Nach einer Stunde hatte er alle Aufgaben gelöst. Er nahm sich vor, die Rechnungen noch einmal zu überprüfen. An simplen Rechenfehlern sollte das Ergebnis der Prüfungsarbeit nicht scheitern. Aber es blieb noch viel Zeit. Zunächst blickte er nach vorn zu Cäcilie. Wie ist sie voran gekommen? Auf ihrem Tisch entdeckte er eine Vielzahl von Blättern, ihr Blick ging von einem Blatt Papier zum anderen. Sie schrieb etwas auf ein Blatt, das links von ihr lag, aber schon im nächsten Moment beugte sie sich zur rechten Seite und schrieb auf einem anderen weiter. Sie wirkte nervös. Und nun drehte sie sich auch noch um und suchte seinen Blick. Er nickte ihr aufmunternd zu, aber sie schüttelte den Kopf. Was war geschehen? Die Aufgaben boten keine Überraschungen. Alles hatte er mit ihr geübt. Er widmete sich wieder seinen Lösungen und überprüfte die Ergebnisse. Aber immer wieder musste er in Cäcilies Richtung schauen. Sie war noch unruhiger geworden und als sie sich erneut umblickte, bemerkte er die Tränen. Cäcilie weinte. `Das lasse ich nicht zu', dachte Robert voller Rührung, `ich muss ihr helfen. Sie hat alles gekonnt. Das kann nur die Aufregung sein'. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse, während er seine Lösungen auf einen kleinen Zettel schrieb. Er notierte auch Lösungswege, wobei er nach Wegen suchte, die sich von denen seiner Arbeit unterschieden. Als sie sich wieder nach ihm umdrehte, gab er ihr ein Zeichen. Dann meldete er sich und bat mit vor Aufregung heiserer Stimme, zur Toilette gehen zu dürfen. Draußen überlegte er angestrengt, wie Cäcilie den kleinen Zettel, den er in seiner schweißnassen geschlossenen rechten Hand hielt, bekommen könnte. Zum Schein ging er zur Toilette, kam rasch wieder heraus und wartete in einer Ecke der Eingangshalle. Die Tür zum weißen Saal ging auf und Cäcilie kam heraus. Sie hatte seine Zeichen richtig verstanden. Robert ging los und an ihr vorbei, ohne sie anzusehen. Als sie beide auf gleicher Höhe waren, streifte seine rechte Hand ihre linke. Der kleine Zettel war in ihrer Hand. Er betrat den Raum und setzte sich auf seinen Platz. Niemand hatte etwas bemerkt. Als Cäcilie zurückkam, wirkte sie ruhiger. Sie setzte sich und rechnete weiter. Robert beobachtete sie. Sie wirkte jetzt viel sicherer. Die Anhäufung von Zetteln auf ihrem Tisch war verschwunden. Robert hatte richtig beobachtet. Cäcilie arbeitete konzentriert und begann noch einmal mit der ersten Aufgabe. Nun war ihr wieder alles klar und sie wusste, was zu tun war. Sie stellte die zum Problem gehörige Funktion auf, differenzierte sie bis zur zweiten Ableitung und löste die Extremwertaufgabe in genau der Weise, wie sie es vor der Prüfung viele Male geübt hatten. Dann kam sie zur zweiten Aufgabe und erinnerte sich auch hier daran, wie vorzugehen war, um das Problem zu lösen. Sie fühlte sich jetzt viel besser als vorher. Sie war wie umnebelt gewesen, nachdem sie die Aufgaben durchgelesen hatte und konnte sich an nichts mehr erinnern. Sie war nicht mehr sie selbst gewesen und das hatte ihr am meisten zu schaffen gemacht. Nun konnte sie wieder klar denken.

Robert hatte keinen Fehler in seinen Gedankengängen und Rechnungen gefunden. Er hielt es nicht für sinnvoll, noch länger zu bleiben, packte alles zusammen, ging nach vorn und gab seine Arbeit ab. Ein kurzer Blick auf Cäcilie beruhigte ihn, sie arbeitete emsig und weltvergessen. Nichts um sie herum schien noch von Interesse zu sein. Robert verließ den Raum und das Schulgebäude und trat ins Freie. Er wollte draußen auf seine Freundin warten und schlenderte in den Park. Er blickte in die Wipfel der alten Bäume und lauschte dem lebhaften Gezwitscher der Vögel. Durch die Bäume und Büsche hindurch blickte er auf die Fenster des weißen Saals, in dem seine Mitschüler saßen und an ihrer Klausur arbeiteten. In wenigen Wochen würde die Schulzeit vorbei sein. Bisher hatte er nur selten daran gedacht, was ihn dann erwartete. Er glaubte fest daran, dass er den Mathematikstudienplatz, um den er sich beworben hatte, auch bekäme. Die Entscheidung war indes noch nicht gefallen. Er hoffte, dass er gemeinsam mit Cäcilie an der gleichen Universität studieren würde, aber vorläufig war noch alles offen. Robert schlenderte an der Pestsäule, einem Denkmal, das dem englischen Arzt Jenner gewidmet war, der die Pockenschutzimpfung eingeführt hatte, vorbei, ging über die neue Brücke in den hinteren Teil des Parks. Die von den Schülern des Abschlussjahres neu angelegten Wege führten ihn zu dem kleinen Teich, auf dem große, dunkelgrüne Blätter der weißen Seerosen schwammen, die sie dort eingesetzt hatten. Er ließ sich am Rand des Teiches nieder, legte sich zurück und blickte in den blauen Himmel.

``Robert'', hörte er seinen Namen rufen. Er musste wohl eingeschlafen sein. Cäcilie stand vor ihm. Er richtete sich auf. Sie setzte sich zu ihm.

``Das werde ich dir nie vergessen'', sagte sie. ``Du hast so
viel für mich gewagt. Stell dir nur vor, wenn uns jemand
beobachtet hätte. Es wäre alles vorbei gewesen, kein Abitur,
kein Studium''.

``Du hast geweint'', sagte er. ``Ich konnte das nicht sehen''.

``Ich weiß'', sagte sie.

Beide schwiegen. Plötzlich wurde Robert klar, was alles hätte geschehen können, wenn sie entdeckt worden wären.

``Was hast du mit dem Zettel gemacht?'' fragte er.

``Ich habe ihn in der Toilette hinuntergespült. Hast du alle
Lösungen aufgeschrieben?''

``Ja, und die Lösungswege, sogar andere als meine eigenen.''

``Das konnte ich nicht'', sagte sie. ``Plötzlich fühlte ich
mich so klein und schlecht und musste den Zettel wegwerfen.
Ich habe ihn nicht angesehen. Als ich wieder auf meinem Platz
vor den Aufgaben saß, verstand ich plötzlich alles. Ich war
ganz ruhig und habe eine nach der anderen gelöst. Mir fiel
alles wieder ein, alles, was wir vorher geübt und gerechnet
hatten. Es war wirklich nicht schwer und alles so, wie du
erwartet hattest. Aber ich bin nicht mehr fertig geworden.
Die letzte Aufgabe fehlt, ich habe sie nicht mehr geschafft.''

Robert dachte nach. Dann sagte er:

``Das macht nichts, vielleicht hast du trotzdem genügend viele
Punkte erreicht''.

``Eigentlich ist mir das nun auch gleichgültig. Ich habe fast
alles gekonnt und fühle mich nun wirklich gut''.

Sie lehnte sich zurück, blickte in den weiten, blauen Himmel, an dem von Westen her kleine weiße Wolken aufzogen und ihren Weg unbeirrt nach Osten nahmen. Sie hatte es geschafft. Andere Hindernisse, auch Abgründe, würden vor ihr liegen. Ihr war davor nicht bange.

Sie erhoben sich und Hand in Hand traten sie langsam den Heimweg an.


© Klaus Denecke


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Beschreibung des Autors zu "Abgründe"

`Abgründe' beschreibt zwei Episoden im Leben der heranwachsenden Cäcilie, die physisch oder moralisch an Abgründe führen. Während das Kind auf die Hilfe der Erwachsenen angewiesen ist, um dem Verderben zu entrinnen, gelingt es ihr als Jugendliche ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

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Kommentare zu "Abgründe"

Re: Abgründe

Autor: noé   Datum: 10.09.2014 2:22 Uhr

Kommentar: Eine fesselnde, sehr gut geschriebene Geschichte, die in den Bann schlägt.
Gefällt mir sehr gut!
noé

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