„ICH HASSE EUCH! ALLE meine Freundinnen haben ein neues Handy! Und ich laufe mit diesem Teil vom letzten Jahr rum. Das ist so unfair!“, hörte ich, irgendwo draußen auf der Straße, ein Mädchen schreien. Ich belächelte sie in Gedanken. Sie hörte sich jung an, keinen Tag älter als 20. „Was war das denn?“, fragte Paul mit großen Augen. „Das Mädchen, das gerade so laut war, hat sich anscheinend mit ihren Eltern gestritten. Sie möchte ein neues Handy haben.“, erklärte ich es dem Kleinen. Die anderen starrten mich ungläubig an. Kurz darauf sah ich die Traurigkeit in ihren Gesichtern. „Ich hatte noch nie ein Handy.“, flüsterte eine dreizehnjährige namens Sara betroffen. „Und das ist nichts, wofür du dich schämen musst!“, entgegnete ich und legte das Märchenbuch beiseite. „Ich weiß, dass ich euch eigentlich heute etwas vorlesen wollte. Aber anstatt euch jetzt von Traumschlössern und Königen zu erzählen, würde ich euch gerne verstehen lassen, wieso ich jede Woche hierherkomme.“, begann ich fragend. 9 Augenpaare schauten mich an und Neugier blitzte in ihren Augen auf. Und nachdem ich jedes blasse Gesicht einzeln betrachtet hatte, fing ich an zu erzählen.

„Ich wollte immer reich sein. Als Kind habe ich immer Prinzessinnen gemalt und war genauso wütend auf meine Eltern, wenn sie mir keine teuren Klamotten kaufen wollten. Als ich älter wurde, habe ich mich mit ihnen gestritten, weil alle anderen mehr Taschengeld bekommen haben als ich. Versteht mich bitte nicht falsch, ich bin behütet aufgewachsen, aber ich habe es als Ungerechtigkeit empfunden. Ich befürchte, ich habe nicht weniger verwöhnt geklungen als das Mädchen von eben, wenn ich meine Eltern angeschrien habe. Erst als ich mehr Geld verdient habe, als ich ausgeben konnte, habe ich mich gefragt: was bedeutet Reichtum? Die Ironie ist, dass ein kleiner Junge, der so alt war wie ihr ungefähr, mir eben das gezeigt hat.
Vielleicht sagt euch die „Königsallee“ etwas. Sie befindet sich in Düsseldorf, hier in Deutschland. Dort sind viele teure Geschäfte, dicht aneinander. Läden, in denen ein Kleid schnell 3000€ kosten kann. Ich ha…“.“WAS? 3000€?“, wurde ich von vielen kleinen aufgeregten Stimmen unterbrochen. „Ja, genau. Und viele Dinge kosteten sogar noch weitaus mehr Geld. Aber lasst mich erzählen.“, lächelte ich den Kindern zu und wartete, bis sie sich wieder beruhigt haben.
„Also, ich habe dort eine kurze Zeit lang gearbeitet und obwohl es nur zwei Wochen waren, so sollte mich diese Stadt prägen. Was genau ich gemacht habe, ist an dieser Stelle egal. Wichtig ist nur, dass man am Tag mit vielen Leuten redet, von denen manche unfreundlich sind, einige hingegen wieder sehr nett. Aber man hört mehr als hundert Mal am Tag den Satz „Ich habe keine Zeit!“, und das von allen möglichen Menschen. Nachdem mir dieser Satz in Dauerschleife in meinem Kopf schwirrte, brauchte ich eine Pause. Ich setzte mich auf eine Parkbank, direkt an der Königsallee und dachte über diese 4 Worte nach. Während ich das tat, beobachtete ich die Menschen, die so gestresst und starr durch die Straßen liefen. Aber ich bemerkte in diesen Stunden noch andere Sachen: warme Frühlingsluft, die mit meinen Haaren spielte, vorsichtige Sonnenstrahlen auf meiner Haut und die ersten Blumen, die von Vögeln umtanzt wurden. Es breitete sich in mir eine solche Stille und Ruhe aus, dass mir etwas Weiteres fast nicht aufgefallen wäre: an diesem Tag fuhr ein kleiner Junge ein paar Mal an einem Mülleimer vorbei, der ungefähr fünf Meter von mir entfernt stand. Er schaute sich in einem kleineren Umkreis auch um, setzte sich dann aber wieder auf sein Fahrrad und verschwand für eine gewisse Zeit. Irgendwann wurde ich neugierig und als ich ihn das sechste Mal seinen „gewohnten“ Radius umkreisen sah, stand ich auf und ging zu ihm herüber. „Hey du, kann ich dir helfen? Hast du etwas verloren?“, begrüßte ich ihn. Er zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. Leise antwortete er:“ Nein, danke. Ich sammle nur Pfandflaschen.“
Verwirrt schaute ich ihn an. „Wieso?“, fragte ich perplex. „Weil ich Hunger habe.“

„Er war einer von uns!“, sagte Paul bedacht. „Da hast du vollkommen Recht, mein Schatz. Und obwohl das noch nicht lange her ist, hat das alles auf mich einen sehr unwirklichen Eindruck gehabt. Bis zu diesem Zeitpunkt, war ich einer von diesen „Ich-habe-keine-Zeit“-Menschen!“, antwortete ich. „Erzähl weiter!“, baten die Kinder, also fuhr ich fort.

„In diesem Moment verstand ich nicht richtig, was er damit sagen wollte. Aber ich wollte ihn verstehen und den Grund, wieso er Hunger hatte. Ich stellte mich erstmal vor und hielt ihm die Hand hin. Zaghaft nahm er sie und flüsterte seinen Namen. „Ich bin Tom“. „Es freut mich, dich kennenzulernen, Tom. Du hast gesagt, du hättest Hunger. Wieso hast du Hunger? Bekommst du bei deinen Eltern nichts zu essen?“, fragte ich ihn und er schüttelte mit dem Kopf. Ich wollte ihn nicht noch mehr drängen, er machte auf mich einen sehr verstörten Eindruck. Also nahm ich ihn erstmal mit in eine Bäckerei. „Was möchtest du essen?“, lächelte ich ihm zu. Langsam zeigte er auf die Ablage mit den trockenen Brötchen. Das machte mir die Situation etwas klarer. Ich bestellte für ihn viele verschiedene Brötchen, Laugenstangen und ein paar Kekse, gab ihm ein Wurst-Brötchen auf die Hand und steckte den Rest zusammen mit zwei Pfandflaschen und meinem restlichen Geld in eine Tüte. Wir setzten uns zurück auf „meine“ Bank und ich sah ihm zu, wie er innerhalb von einer Minute das ganze Brötchen verschlang. „Hat es dir geschmeckt?“, fragte ich ihn. „Ja. Danke. Ich… Ich hab seit zwei Tagen nichts Richtiges mehr gegessen.“, antwortete er und ein paar Tränen rollten über seine kleinen Wangen. „Meine Mama sitzt immer am Küchentisch, egal wie spät es ist. Sie trinkt dieses komische Zeug, das ist nicht Cola oder so. Das sieht meistens aus wie Wasser aber riecht ganz schrecklich. Und Papa, der ist irgendwann mal weggegangen und muss sich verlaufen haben. Er hat nicht zurückgefunden. Mama sagt, dass sie immer da sitzt, weil sie doch auf Papa warten muss, falls er wieder zurückkommt. Damit er weiß, dass Mama ihn nicht vergessen hat!“, sprudelte es mit einem Mal aus Tom heraus. Traurig blickte es mich an. Ich werde diesen Blick nie vergessen. Durch ihn habe ich mein ganzes Leben in Frage gestellt und das mit einem Mal. In diesem Moment habe ich mich gefühlt, als wäre ich noch ein sehr kleines Kind und wüsste nichts über die Welt, dabei dachte ich immer, ich wäre schon fast erwachsen. Aber ich riss mich zusammen, denn ich wollte nicht, dass Tom merkte, wie sehr mir das zu schaffen machte. Also redete ich noch ein bisschen weiter mit ihm, darüber, wie alt er denn eigentlich wäre, in welche Klasse er ginge, mit was er sich den Tag vertrieb. Was ich hören wollte war wahrscheinlich, dass er Spaß an der Schule hatte und gerne in seiner Freizeit mit seinen Freunden spiele. Und kaum hatte ich meine Fragen ausgesprochen war es, als könnte ich die Antworten schon sehen, bevor er sie aussprach. Tom war 10 und ging in die zweite Klasse. Er konnte sich in der Schule nie konzentrieren, denn sein Bauch hat immer geknurrt und deswegen war er so schlecht. Den Tag vertrieb er sich so, wie ich ihn kurz davor kennengelernt hatte: alleine und auf der Suche nach Pfandflaschen. Entsetzt hörte ich mir seine Geschichte an und mit jedem Wort, das aus diesem kleinen, unschuldigen Mund kam, wollte ich lauter schreien. Aber ich konnte die Fassung nicht vor ihm verlieren. Nach einiger Zeit verabschiedete Tom sich von mir, er „müsse noch ein paar Flaschen zusammensammeln und dann zurück zu Mama“. Wir umarmten uns lange, bevor er wieder auf sein Fahrrad stieg und davonfuhr. Mit glitzernden Augen drehte er sich nochmal um und schrie mir:„ DANKESCHÖN!“ entgegen. Und kaum war er um die Ecke gebogen, konnte ich mich nicht mehr halten. Ich weinte und weinte und konnte nicht mehr aufhören. Als ich mich schließlich beruhigen konnte, fand ich mich immer noch auf der Parkbank wieder, inmitten von hunderten und tausenden Menschen, die hetzten und zwischen ihrer goldenen Kreditkarte nur Zeit für eine Zigarette oder ihr Handy fanden, sonst nichts. Hatten sie Tom nicht auch gesehen? Er kann doch nicht mal der Einzige sein, der das macht! Wo schauen diese Menschen hin?
Und ich glaube, dass ich, umhüllt von meiner Trauer und meinem Selbsthass, noch nie so klar in meinem Leben war wie in diesem Moment.
Reichtum bedeutet nicht, dass man ein Kleid für 3000€ kaufen kann. Oder das man für sein Mittagessen 120€ ausgibt. Das man 5 Jahresmieten eines „Durchschnittsbürgers“ in einem Monat für Klamotten ausgibt. Reichtum bedeutet, dass man Frühlingsluft riecht, Sonne zu schätzen weiß und die Vögel hört. Es bedeutet, jemanden zu fragen, ob man ihm helfen kann. Reichtum ist Nächstenliebe und Bescheidenheit, Dankbarkeit und Unbeschwertheit. Reichtum ist nicht sagen zu müssen „Ich habe keine Zeit“. Reichtum ist glücklich sein.“

„Und wegen Tom bist du hier?“, fragte Sara mich. „Tom ist der Grund, weshalb ich damit angefangen habe, etwas verändern zu wollen. Aber jeder Einzelne von euch ist ein Grund, weshalb ich geblieben bin!“, antwortete ich. „Stellt euch vor, alle wären „Ich-habe-keine-Zeit“-Menschen. Und jeder würde nur an sich denken. Keiner würde für euch da sein und ihr wärt immer noch auf euch alleine gestellt. Niemand würde bedenken, dass die Antwort auf Krankheiten wie Krebs vielleicht in den Gedanken von jemandem ist, der keinen Zugriff auf Bildung oder ein „normales“ Leben hat. Nein, ich kann nicht anders. Wenn euch keiner hört, dann bin ich da und halte das Mikrofon.“


© hatschitag


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Beschreibung des Autors zu "Ich wollte immer reich sein"

Ich schreibe nicht so oft Kurzgeschichte, aber ich hoffe, sie findet trotzdem Gefallen. Bin sozusagen gerade in der Übungsphase. Ich würde mich aus diesem Grund noch mehr über Kritik freuen als sonst. Diese Geschichte ist mir übrigens wirklich widerfahren, aus diesem Grund liegt sie mir noch mehr am Herzen. Ich danke euch

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Kommentare zu "Ich wollte immer reich sein"

Re: Ich wollte immer reich sein

Autor: Angélique Duvier   Datum: 05.05.2014 19:01 Uhr

Kommentar: Deine Geschichte ist sehr berührend, mit viel Tiefe und Herzenswärme geschrieben!
Liebe Grüße,
Angélique

Re: Ich wollte immer reich sein

Autor: rose   Datum: 05.05.2014 19:06 Uhr

Kommentar: Schöne Arbeit :-)

Re: Ich wollte immer reich sein

Autor: Karsten Stapelfeldt   Datum: 05.05.2014 20:57 Uhr

Kommentar: Also für die "Übungsphase", ist das wirklich eine sehr gute Kurzgeschichte. Mir fallen so auf anhieb nur drei Kritikpunkte ein:

1. Das Mädchen, das am Anfang nach einem neuen Handy schreit, soll so knapp 20 sein, redet aber von allen in ihrer Klasse. Auch wenn es nicht ausgeschlossen ist, das man mit 20 noch zur Schule geht, sollte man sich in dem Alter doch eigentlich nicht mehr so benhemen.
Allerdings befürchte ich, dass dies auch ein wahrer Teil deiner Geschichte seinen könnte, daher kannst du es auch ruhig so lassen. ;)
2. Der Satzt "Ich weiß nicht, ob ihr den Begriff Dienstleistungsberuf gearbeitet habt." klingt irgendwie komisch oder unvollständig für mich. Kann aber auch sein, dass das soeine regionale Redensart ist.
3. Den Satz am Ende "Niemand würde bedenken, dass die Antwort auf Krankheiten wie Krebs vielleicht in den Gedanken von jemandem ist, der keinen Zugriff auf Bildung oder ein „normales“ Leben hat." finde ich auch irgendwie schwierig fomuliert, obwohl natürlich klar ist was du meinst. Die Antwort ist ja nicht schon vorher in den Gedanken, es gibt nur leider viele, die das Potentiall hätten eine Antwort zu finden, aber dieses Potential nicht entfalten können, weil der Zugang zu Bildung fehlt oder nicht ausreichend gewährt wird.

So mehr hab ich aber nicht zu meckern. :)
Eine wirklich schöne Geschichte.

lG Karsten

Re: Ich wollte immer reich sein

Autor: Mark Widmaier   Datum: 05.05.2014 20:59 Uhr

Kommentar: Eine sehr bewegende und Erkenntnis reiche Kurzgeschichte. Sie hat mir inhaltlich sehr gut gefallen, so dass ich nachfrage, ob ich sie als Deutschlehrer im Unterricht einsetzen darf. Wäre mal was anderes. Ein paar Kleinigkeiten würde ich noch ändern, doch das schreibe ich Dir privat. Ganz allgemein : 10-jähriger Schüler in der zweiten Klasse...da habe ich kurz gestutzt. Unsere Schüler sind mit 10 Jahren in der 4., manchmal sogar in der 5. Klasse.

Liebe Grüße und Kompliment

Mark

Re: Ich wollte immer reich sein

Autor: hatschitag   Datum: 05.05.2014 21:26 Uhr

Kommentar: Rose, vielen lieben Dank für deine netten Worte.

Angélique, Karsten und Mark: erstmal danke, dass ihr meiner Bitte nachgekommen seid. Ihr seid neben Noé und Kreuzblut diejenigen, die mir immer sehr viel Kritik und Komplimente zukommen lassen haben. Ich danke euch für eure ehrlichen Worte, denn nur so wird man besser! Vielleicht hat man es bemerkt, aber ich wusste noch nicht so recht wo ich meine Geschichte enden lassen wollten. In der Definition von Reichtum? Kritik an der Gesellschaft? Irgendwie ein bisschen von allem. Durch eure Hilfe wird es mir das nächste Mal vielleicht leichter fallen, einen Weg zu finden. Ich werde mir eure Kritik sehr zu Herzen nehmen, habt Dank. Lieber Mark: es wäre mir eine Ehre. Ich glaube, das ist eines der größten Komplimente, die ich je bekommen habe. Zu deiner Verwirrung, das Tom in die zweite Klasse geht: er ist oft sitzen geblieben. Ich habe es ja schon geschrieben, diese Begegenung ist mir wirklich widerfahren und es hatte eben den beschriebenen Effekt auf mein Leben. Er konnte sich nicht konzentrieren, weil 'sein Magen immer geknurrt hat'.

Fühlt euch gedrückt von mir und nochmal ein riesiges Dankeschön!

XXX

Re: Ich wollte immer reich sein

Autor: noé   Datum: 06.05.2014 1:13 Uhr

Kommentar: Indirekten Dank für indirekte "Hilfe". ;o))
Wie schon in der PN geschrieben; Immer wieder gern!
Und: Auch öffentlich gefällt mir Deine Geschichte sehr gut, vom Inhalt wie von der Aussage. Was sonst noch zu sagen war, kennst Du schon.
Ruhig weiter so!
noé

Re: Ich wollte immer reich sein

Autor: halifax   Datum: 05.06.2014 11:24 Uhr

Kommentar: Diese Geschichte gefällt mir aus verschiedenen Gründen und wenn es noch dazu ein Erstlingswerk ist, dann ziehe ich den Hut.
Ich bin auch am Anfang meiner "Schreiberei", sozusagen ein Literatur-Novize, daher bin ich noch nicht so gut im "Feedback" geben.
Also, mir gefällt der sozialkritische Hintergrund und deine Selbstreflexionen, die Beschreibung unserer Hektomatikwelt, die Gepflogenheiten viel zu vieler Ellbogentechniker mit ihren "Jeder-ist-sich-selbst-der-Nächste-Getue".
Zwei Sätze haben die Geschichte für mich ein wenig ironisch (super) aufgelockert:
Zitat: "Und Papa, der ist irgendwann mal weggegangen und muss sich verlaufen haben. Er hat nicht zurückgefunden."
Der letzte Absatz ist für mich etwas undurchsichtig, ich kann die Rolle der erzählerin nicht wirklich zuordnen. Macht sie einen Gastvortrag?
Der etwas kryptische Hinweis auf psychosomatische Krankheiten, ausgelöst durch Bildungsentzug, passt irgendwie nicht zu dieser wirklich schönen Geschichte .
Ich war in meiner Kindheit auch ein kleiner "Tom" … vielleicht bin ich deshalb so sensibilisiert für diese Art von Erzählungen …
Liebe Grüsse
halifax

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