An einer alten, einsam stehenden Kapelle auf de Klippen von La Coronne an der Côte d` Azur steht Leonardo. Er blickt hinunter in die kleine Bucht. Die Sonne geht langsam auf. Leonardo möchte heute alleine sein. Er hat vieles falsch gemacht, jedoch will er die Zeit auf gar keinen Fall zurückdrehen. Fehler zu begehen hat einen Sinn. Es ist ein Prozess des Reifens. Gerade er ist ein Kandidat, der das benötigt.

Leonardo spürt die frische Morgenbrise und bekommt Gänsehaut. Die Wellen peitschen an den Felsvorsprung unter ihm. Die weiße Gischt bewegt sich zurück, während sich schon die nächste Woge bildet. Ein immer wiederkehrender Vorgang. Ein Auf und Ab wie im Leben.



Er denkt an seinen Großvater.

Ist er ihm im hohen Alter zu wenig beigestanden?

War ihm vor dessen Tod die turbulente Jugend wichtiger?

Sein Verstand macht sich Vorwürfe.

Das Herz schlägt schneller.

Die Wellen des Meeres sind inzwischen meterhoch.



Er denkt an seine Frauengeschichten.

Hat er im Rausch oft mit den Gefühlen anderer gespielt?

Konnte er jemals wahre Liebe entwickeln?

Sein Verstand schimpft mit ihm.

Das Herz schwelgt in Glück und erinnert sich mit Freude.

Das Mittelmeer beruhigt sich ein wenig, da der Wind nachlässt.



Er denkt an seine besten Freunde.

Hat er mehr genommen als gegeben?

Ließ er sich mit Chaoten ein und vernachlässigte die echten, ehrlichen Weggefährten?

Sein Verstand zieht eine durchschnittliche Bilanz.

Das Herz kehrt zu zwei bestimmten Menschen zurück.

Mit dem Meeresrauschen mischt sich das Kreischen der Seemöwen.



Er denkt an seine Eltern.

Wie oft hat er sie enttäuscht?

Kann man geborgener und behüteter aufwachsen

Oder haben sie auch manches vergeigt?

Sein Verstand gibt niemandem die Schuld für irgendwas.

Das Herz lacht und weint zur selben Zeit.

Am Strand tauchen die ersten Touristen auf und streiten sich

Schon am frühen Morgen.

Das machten Leonardo´ s Mutter und Vater selten.

Der Wasserspiegel des Meeres steigt ein bisschen an

Als möchte es den Menschen weniger Raum lassen

Für Neid, Missgunst und Ärger.



Er denkt an die Leute, die ihm im Laufe des Lebens begegnet sind.

Vorgesetzte, Kollegen, Mitpatienten und Lehrer.

War er immer höflich?

Hat er sich unterdrücken lassen oder reagierte er gar zu offensiv?

Sein Verstand lobt ihn.

Das Herz ist unzufrieden und tobt.

Das Meer glättet sich und ist ungewöhnlich ruhig.

Die Wolken ziehen vorbei wie diese Begegnungen.



Er denkt an seine große Liebe.

War er von Anfang an ehrlich zu ihr?

Hätte er mehr unternehmen müssen und vor allem:

Spürte sie seine Zuneigung?

Gab er sich hin oder verletzte er sie etwa?

Sein Verstand geht in eine Testphase.

Das Herz ist verwirrt wie Leonardo´ s Seele.

Im Meer kann man Schaumkronen erkennen.

Sie verschwinden und wieder neue entstehen.

Ist es mit Chancen und Möglichkeiten nicht genauso?



Herz und Verstand sind fast nie im Einklang.

Wie die Ozeane sind ihre Zustände abhängig

Von der Umgebung und der Zeit.

Wunden heilen, doch die Erinnerung bleibt.

Leonardo´ s Tag am Meer geht zur Neige.

In der Taverne wird nochmals Kaffee aufgebrüht.

Danach fährt er zurück in seine Berge.

Die bewundert er für ihre Standhaftigkeit.

Er ist felsenfest davon überzeugt, nun im Gebirge

Wieder Fuß zu fassen und sein Seelenleben zu reparieren.

So etwas erfordert viel Zeit und Geduld. Die hat er.

Die Berge und das Meer sind auch nicht in einer Woche entstanden.


© Roman Reischl


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Kommentare zu "Das Meer"

Re: Das Meer

Autor: noé   Datum: 03.05.2014 7:46 Uhr

Kommentar: Hu-wow!
Sehr (schön) tiefgründiger Text!
Auch die Aufbereitung gefällt mir.
noé

Re: Das Meer

Autor: Mondpoet   Datum: 03.05.2014 8:01 Uhr

Kommentar: Vielen herzlichen Dank! :-)

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