Ernsti, oder Ernest, ist nun tot. In den letzten zwei Monaten habe ich ihn von Zeit zu Zeit besucht, zu Hause und im Spital, aber auch viel durch Gerhilds Erzählungen mitbekommen. Gerhild war ja eine von den vier Frauen, die ihn in der schwersten Zeit als halbe Krankenschwestern betreut haben.

Ernest hat sich in diesen zwei Monaten in wunderbarer Weise verwandelt, langsam und unaufhaltsam. Er ist transparent geworden für seinen verborgenen goldenen Kern. Offenheit, Dankbarkeit, Liebe traten immer stärker hervor, und ein immer deutlicheres Wissen darüber, wohin er jetzt gehen würde.

Parallel dazu sprach er auch von Fahrten ins Sommerhaus, vom Schifahren im nächsten Winter.

Die entscheidende Tiefe bekam er, als die Leber nicht mehr wollte, als er keine weißen Blutkörperchen mehr besaß. Wenige Stunden vor seinem Tod, in der Intensivstation, zerfiel sein Körperinneres immer mehr, doch als er mich beim Verabschieden zum letzten Mal anblickte, leuchtete in seinen Augen in strahlender Freude das unzerstörbare Leben, von dem er schon ganz stark ergriffen war.

Durch die elenden Schmerzen hindurch ein Erkennen, ein Bewusstsein jenseits aller Schmerzen. Ein wunderbarer, strahlender Weg zum letzten Atemzug, und danach Frieden auf seinem Gesicht.

Ernest und ich haben in diesen Wochen und besonders beim Abschiednehmen wortlos über die letzten Dinge miteinander gesprochen, und wir haben einander viel gesagt, miteinander viel erlebt. Es gibt keine Worte, die das ausdrücken können, aber was ich niedergeschrieben habe, wird mir eine Gedächtnisstütze sein.

Welche Probleme haben wir Überlebenden angesichts dieses unzerstörbaren Lebens, das in jedem von uns vorhanden ist, das uns eint, das das Einzige ist, was von uns übrig bleiben wird?

Wir, sein Freundeskreis, haben eine neue Qualität des Umgangs miteinander gewonnen.


© Werner Krotz


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Beschreibung des Autors zu "Der Übergang"

Am 27. Februar 1995 habe ich in meinem literarischen Tagebuch aufgeschrieben, wie ein sterbenskranker Freund und ich seinen Übergang zu dem Leben nach dem Tod erfahren haben.

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Kommentare zu "Der Übergang"

Re: Der Übergang

Autor: noé   Datum: 16.02.2014 10:57 Uhr

Kommentar: Das ist ein kurzer, aber ein sehr eindringlicher Text, eindringlich, weil er eindringt ins Herz und in die Tiefe des Gefühls...
noé

Re: Der Übergang

Autor: IDee   Datum: 16.02.2014 17:51 Uhr

Kommentar: Hallo,
ein ganz wunderbarer Text, gefühlvoll und ohne Schnörkel.
Beste Grüße
IDee

Re: Der Übergang

Autor: Angélique Duvier   Datum: 16.02.2014 19:08 Uhr

Kommentar: Hallo Werner, deine Geschichte hat mich zutiefst berührt,da ich sehr ähnliches bei/mit meinem Vater erlebt habe, auch er hat kurz vor seinem Ende viel geredet, über seinLeben,seine Träume,seine Gedanken, auch ich kann es nicht in Worten wiedergeben, es wird jedoch immer in meinem Herzen sein.
Vielen Dank, dass du diese Geschichte mit uns geteilt hast!
Herzliche Grüße, Angélique Duvier

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