Es ist Sonntag Morgen. Ich muss heute Nacht nicht arbeiten.
Und ich musste auch gestern Nacht nicht arbeiten. Also liege
ich wach. Um sechs Uhr morgens. Viel zu früh. Lange vor
meiner Zeit. Gestern Abend war ich mit Alex und Bettina
Tapas essen. Und danach noch auf einen Selbstmörder in einer
Kneipe aus besseren Tagen. Und jetzt liege ich wach. Viel zu
früh. Lange vor meiner Zeit. Montag Nacht muss ich wieder
arbeiten. Und ich liege wach. Um sechs Uhr morgens. Mein
Rhythmus ist durcheinander. Ich mag meine Arbeit. Und
darüber bin ich froh. Das war nicht immer so. Und doch
wächst mit jedem Gedanken an Montag Nacht mein Unwille heute
überhaupt das Bett zu verlassen. Also liege ich da. Wie
gelähmt, antriebslos und entwickle eine Phantasie. Eine
Phantasie dazu, wie ich es umgehen kann morgen arbeiten zu
gehen. Ganz simpel. Ich gehe zum Arzt und lasse mich krank
schreiben. Wenn ich mich über die linke Seite dehne, fühlt
sich meine rechte Seite an, als wäre sie drei Zentimeter zu
kurz. Vom Spann bis zur Augenbraue. Dazu Hals, Gelenk,- und
Rückenschmerzen. Das entspricht der Realität. Das ist der
Ausgangspunkt einer Phantasie die weit über physische
Symptome hinausreicht. Und je länger ich liege und den
Morgen beim Grauen ignoriere, je weiter lasse ich mich
treiben. Wie ein abgestorbener Ast auf dem Fluss meiner
Unlustgefühle. Wie zusammenhangloses Laub in einer Pfütze
aus Antriebslosigkeit. Lasse mich von meinen Gedanken
tragen. Hinüber in eine bessere Welt.
Es fängt damit an, dass ich meinem Hausarzt meine
Beschwerden schildere und krank geschrieben werde. Meine
Schilderungen allerdings geben ihm Grund zur Sorge.

Ähnliches hatte er erst vor ein paar Tagen bei einer älteren
Dame gesehen. Er möchte mich nicht verunsichern, rät mir
aber dringend ein Hirnscan machen zu lassen. Wenn es mir
passen würde,... ein Studienkollege arbeitet in der
Radiologie der Uniklinik und er könnte veranlassen, dass ich
noch am selben Vormittag dran komme. Es dürfte mir
allerdings nichts ausmachen ein bisschen zu warten. Ich
nicke zustimmend und denke: alles besser als arbeiten. Als
einige Stunden später der Scan abgeschlossen ist sind die
Sorgen meines Hausarztes bestätigt. Ob ich eine Nacht hier
bleiben könne werde ich gefragt. Ich bleibe. Alles besser
als arbeiten. Auf dem Scan sind Schatten zu erkennen und im
Zusammenhang mit den geschilderten Symptomen deutet das auf
einen Hirntumor hin. Ich bin auf Anhieb verliebt. Auch wenn
diese Diagnose fürs erste nur ein Verdacht ist. Es würde
mich zumindest nicht überraschen falls sie sich
bewahrheitet. Zu viele dunkle Gedanken habe ich in meinem
jungen Leben gedacht. Für zu viele Stunden andere Menschen
idealisiert und mich mit fremden Maßstäben gemessen. Zu
viele Zigaretten geraucht. Und zu viele Stunden untätig und
in einer Zuckerwattewolke aus dunklen Mächten versunken auf
der Couch verbracht. Imgrunde ist es mir allerdings egal, in
welches Organ sich der Krebs eingenistet hat. Alles besser
als arbeiten.
Es dauert einen Moment bis ein freies Bett für mich gefunden
ist. Ich bin Kassenpatient. Der Arzt in der Uniklinik fragt,
ob es jemanden gibt, den er benachrichtigen soll. Aus
irgendeinem Grund kann ich an genau dieser Stelle meiner
Phantasie nicht mehr sprechen. Ich gebe ihm mein Handy und

zeige auf die drei ICE Nummern; in case of emergency.
Wahrscheinlich will ich einfach, dass er anruft. Die erste
ist die Nummer vom Hotel. Sie müssen wissen, dass ich nicht
arbeiten komme. Damit sie noch jemanden finden können, der
die Nachtschicht übernimmt. Die zweite Nummer auf der Liste
ist die vom Tierheim. Jemand muss zu mir nach Hause und
meinen Kater raus holen. Wer weiß, wie lange ich im
Krankenhaus bleiben muss. Die dritte Nummer auf der Liste
ist die von meinem Therapeuten. Er muss wissen, dass ich
nicht zur nächsten Sitzung kommen kann. Ich schreibe den
Namen meines Therapeuten auf einen Zettel und daneben die
Notiz, dass ich den Stationsarzt für das Gespräch mit ihm
von seiner Schweigepflicht entbinde. Ob ich möchte, dass
sonst noch jemand benachrichtigt fragt er mich. Und ich
antworte mit der besten Lüge des Tages. Nein sage ich. Keine
Frau, keine Kinder. Beide Eltern tot. Einzelkind. Keine
Freunde. Nur die drei Nummern auf der Liste, bitte! Es fühlt
sich an wie ein Triumph. Warum kann ich lediglich vermuten.
Es geht um mein Leben. Es geht um mein Sterben. Ich möchte
nicht, dass meine Familie und meine Freunde davon erfahren.
Vielleicht möchte ich sie schützen. Das ist möglich. Eine
Möglichkeit, die tief unterhalb meines Bewusstseins liegt.
Das Gefühl des Triumphs käme daher, dass ich, selbst in
einer lebensbedrohlichen Situation, noch Möglichkeiten finde
meine Nächsten zu schützen. Ich enthalte ihnen die Wahrheit
vor. Ich sorge dafür, dass sie sich nicht sorgen müssen. Mir
ist klar, dass diese Art von Schutz unaufrichtig ist. Doch
so bin ich erzogen. Die Wahrheit ist nichts was man
ausspricht. Die Wahrheit ist etwas, wovor man sich zu
fürchten hat. Die Wahrheit ist,... grausam und brutal .

Wahrheit vernichtet! Das ist der einzige Schutz den ich
kenne. Lüge, um dich frei zu fühlen! Dabei ist es
bestenfalls Selbstschutz. Und als solcher spiegelt er
Aspekte meines Lebens wieder die mir vertraut sind. Der
Kreis beginnt sich zu schließen. Das Sterben beginnt. Keine
zwei Stunden nachdem ein Verdacht ausgesprochen wurde der
sich im Verlauf der nächsten Tage sehr wahrscheinlich in
mein Todesurteil verwandeln wird, wächst zusammen mit einem
Tumor in meinem Gehirn die Gewissheit, dass ich schon als
kleiner Junge wusste was es mit dem Sterben auf sich hat.
Nur dass ich das wusste wusste ich nicht.
Ich liege also im Krankenhaus mit einer ungewissen Zukunft
und einem Schatten im Gehirn. Ich verleugne meinen Vater,
meine Schwestern. Meine Freunde. Es ist mir egal, ob sich
Arbeitskollegen um mich als Menschen sorgen. Das Unternehmen
für das ich arbeite ist so wunderbar in unser
Wirtschaftssystem integriert, ist so herrlich corporate
strukturiert, dass die Ersetzbarkeit eines jeden einzelnen
Mitarbeiters zum Selbstverständnis und gewissermaßen zur
Firmenphilosophie gehört. Die jungen Kollegen und
Kolleginnen, die diese Erfahrung in der Praxis bis jetzt
noch nicht machen konnten werden meine Entscheidung früher
oder später sicher zu schätzen wissen.
Ich möchte nicht, dass jemand von meinem Zustand erfährt.
Ich möchte mich nicht schwach und verletzlich zeigen müssen.
Ich kann mich nicht schwach und verletzlich zeigen. Eine Art
Gendefekt. Dabei gibt es wenig, wovon ich in Bezug auf mich
selbst so überzeugt bin. Nichts erscheint mir wirklicher als
die Tatsache, dass ich schwach und verletzlich bin. In
diesem Punkt war mein Leben bis hier hin eine einzige Lüge.

Ich wollte immer der Große sein, der Starke. Ein Macher!
Mein Gefühl und meine Selbstwahrnehmung hätten in den
unzähligen stillen und einsamen Momenten allerdings niemals
weiter von diesem Wunsch entfernt sein können. Und seit
einiger Zeit gesellt sich hierzu immer öfter das Gefühl,
dass die meisten Menschen diese Scharade schon längst und
viel viel einfacher durchschauen, als ich mir vorstellen
kann. Und mit diesem Gefühl innerhalb meiner Phantasie
wächst eine andere Phantasie.
Es ist die Phantasie, dass meine Familie und meine Freunde
Mitleid mit mir haben. Sie sehen durch meine Maske hindurch.
Einfach so. Und sie sehen hinter der Maske etwas, das sie
gerne haben; etwas, das sie lieben. Es tut ihnen Leid, um
meinetwillen, dass ich mich nur so selten ohne Maske zeige.
Es tut ihnen Leid, weil ich das, was sie hinter meiner Maske
vermuten ganz offensichtlich selbst nicht sehen kann. Und
dieses Mitleid befähigt sie dazu meine Scharade mit
zuspielen. Niemand traut sich, meine Maske einfach herunter
zu reißen und mir ins nackte Gesicht zu schreien, was er
wirklich in mir sieht. Menschen haben für andere Menschen
keine Bedeutung. Menschen haben für andere Menschen keine
Bedeutung zu haben. Und selbst wenn es so sein sollte bleibt
es bis auf weiteres Teil des menschlichen Codex diese
Bedeutung für sich zu behalten. Als sei es verboten dem
entsprechenden Menschen zu sagen, was er einem bedeutet. Als
würde man damit den Ausschluss aus der Menschengemeinschaft
riskieren.
Diese Phantasie lässt mich annehmen, dass Mitleid eine der
schlechtesten Eigenschaften ist zu der Menschen fähig sind.

Das ist mein Triumph.
Eine Art Rache. Mein Vater, meine Schwestern, meine
Freunde,... sie kennen meine Schwächen, sie wissen dass ich
verletzlich bin und bis zu einem gewissen Grad fühlen sie
selbst sich von meinem Misstrauen verletzt. Mein Misstrauen
stößt sie vor den Kopf. Die Unfähigkeit zu meinen Schwächen
stehen und anderen Menschen vertrauen zu können betrachten
sie als meine größte Schwäche. Und jetzt ist er da. Der
Moment, in dem ich meine eigene Verletzlichkeit nicht mehr
verstecken kann. Sie ist zu einer unumgänglichen, zu einer
medizinischen Tatsache geworden. Also muss ich alle
Leitungen kappen. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Es ist
als wollte ich sagen: ihr habt mein falsches Spiel zu lange
mitgespielt. Und jetzt lasse ich euch nicht mehr mitspielen.
Ich nehme euch die Möglichkeit mit dem Wissen um meine
Fassade und der dahinter liegenden Verletzlichkeit und mit
dem Wissen um mein mangelndes Vertrauen Punkte zu sammeln.
Aber für mich geht dieses Spiel jetzt in die Schlussphase.
Wenn ich jetzt einknicke, wenn ich jetzt von meiner
vorgetäuschten Stärke abrücke werde ich scham, schmerz,- und
liebevoll in den lodernden Flammen einer Wahrheit
verbrennen, die zu erkennen ich in Lebzeiten nie den Mut
hatte. Wenn ich meine Scharade aufrecht erhalte werde ich
friedlich und unbemerkt gehen können. Gletscher aus
Einsamkeit werden mich langsam zerdrücken und die Kälte
meiner Lügen wird mir Stück für Stück und unbemerkt das
letzte bisschen Kraft zum Weiterleben nehmen. Es wird einen
letzten, einen unbezeugten Kampf geben. Und genau wie
unzählige Kämpfe zuvor werde ich auch diesen letzten Kampf
gegen mich selbst verlieren.

Aber tief im Innern werde diese Niederlage als Sieg
empfinden. Weil niemand da ist, der mich verlieren sieht.
Weil niemand da ist der mit-leidet.
Und in dem Moment, in dem ich in meiner Phantasie diesen
Triumph feiere werde ich traurig. Darüber wie ich in meinem
Bett liege und weiß, dass es nur eine Phantasie ist; dass
ich morgen nicht zum Arzt sondern arbeiten gehen werde. Also
breche ich auf. Packe meinen Computer ein und mache mich auf
den Weg nach Frankfurt. Um zu frühstücken. Und um meine
Phantasie aufzuschreiben.


© urgruende.blogspot.de


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Kommentare zu "Sonntagsphantasie"

Re: Sonntagsphantasie

Autor: noé   Datum: 26.01.2014 7:16 Uhr

Kommentar: Wie allein kann man sein?

Dass es einem - selbst als Phantasie - angenehmer erscheint, alleine zu sterben, als sich sogar vor den nächsten Verwandten die "Blöße" geben zu müssen, schwach und hilfsbedürfig zu sein? Immerhin wäre es ja kein Sekundentod sondern eher das Gegenteil.

Wie am Ende seiner Kräfte muss man sein, dass man - selbst als Phantasie - es vorzöge zu sterben statt arbeiten zu gehen?
Nicht, dass ich DIESEN Aspekt nicht kennen würde.

Identisch: Dem Arztbesuch den Vorzug gegeben vor dem Arbeitsplatzbesuch. Der fremde Arzt hat mir auf den Kopf zugesagt, ich sei soo kurz vor einem Burnout und auf dem besten Weg in die Depression. Er hat mir Tabletten verschrieben, die ich nicht genommen habe, aus Selbstschutz. Und er hat mir Krankschreibungen gegeben für einige Wochen, am Ende waren es sechs. In dieser Zeit habe ich intuitiv meine eigene Kur zur Gesundung entworfen. Mich ins Bett gelegt und in den Schlaf geweint, meine Seele mit Tränen freigespült. So lange und so oft, bis die Tränen weniger wurden und die Tage wieder heller.

Man MUSS nicht mit dem Kopf durch die Wand und ein Programm der Anderen durchziehen, bis von einem selbst nur noch eine Hülle übrig ist. Man DARF schwach sein, auch vor sich selber. Und man darf das Wertvollste schützen, das man hat, sein eigenes Leben.

Ich wünsche Dir einen schwere-losen Tag.
noé

Re: Sonntagsphantasie

Autor: Ralf Risse   Datum: 26.01.2014 7:21 Uhr

Kommentar: Eine schonungslose Selbstreflektion,düster aber mitnehmend.Du hast deine Phantasie sehr gekonnt von der Leine gelassen.
Gruß Ralf

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