Sie saß auf der Kante des Daches, die linke Hand ruhte auf dem Schneefänger, die Rechte drückte die heruntergebrannte Zigarette in der Regenrinne aus.
Ihre Füße steckten in den zerschlissenen Turnschuhen, die sie am liebsten trug, und baumelten locker über dem Abgrund. Unten konnte sie vorbeifahrende Autos hören. Unwillkürlich musste sie lächeln. "Ständig in Eile, gehetzt von tausend unbedeutenden Dingen." dachte sie, und hatte fast Mitleid mit den Menschen, die noch so viel Leid und Schmerz vor sich hatten, und sich dessen nicht einmal bewusst waren.

Das würde sie nun alles hinter sich lassen. Sie zögerte den Moment bewusst hinaus, wie ein Kind, das vor einem Stück Schokolade sitzt, unfähig, es zu essen, weil es den Geschmack so vergöttert.

„Das Beste hebt man sich bis zum Schluss auf.“ hatte ihre Mutter immer gesagt. Ihre wundervolle Mutter, die sich immer geduldig ihre Sorgen und Beschwerden angehört hatte, und dann nach Lösungen suchte. Die Mutter, mit der sie immer verhandeln konnte, wenn sie noch eine Stunde länger draußen bleiben wollte. Die mit Kakao und Keksen ins Zimmer kam, wenn ihre Tochter Liebeskummer hatte, und sagte: „Willst du darüber reden?“
Mami, die immer ein offenes Ohr für alle Probleme eines heranwachsenden Mädchens hatte, und die das beste und leckerste Essen der Welt kochen konnte.
Mami...die nicht bemerken wollte, dass ihre Tochter auf einmal gar nichts mehr aß...die nict wahrhaben wollte, dass ihr kleines Mädchen ihr nichts mehr erzählte und beim Anblick von Kakao und Keksen nur die Nase rümpfte. Die Mutter, der scheinbar alles egal war...denn sonst wäre sie da gewesen. Ihre Mama, die immer alles wusste, war mit einem Schlag völlig machtlos. Denn sie konnte de Geister nicht verjagen. Die Geister im Kopf ihrer Tochter, die sie auffraßen und ihr fast den Verstand raubten. Die ihr das Lachen und das Essen verboten. Die Stimmen in ihrem Kopf, die ihr unentwegt sagten, sie sollte nicht am Leben sein. Jeder ihrer Atemzüge wäre unrecht. Sie solle verschwinden. Ganz langsam, so dass es niemand bemerkt. Es ist ganz leicht, sagten die Stimmen. Sie müsse doch nur nichts essen, dann würde sie von ganz allein verschwinden.

Anfangs sträubte sie sich. Sie wollte doch Leben! Doch was für ein Leben kann das sein, wenn man die Kontrolle über den eigenen Kopf verliert? Nun hatte sie aufgegeben, und ihr Schicksal war unumgänglich. Es gab kein Zurück. Es gab keine Hoffnung mehr.
Sie zündete sich die nächste Zigarette an, sog den Rauch tief ein und ließ ihn in einem fast senkrechten Strahl in den Himmel steigen. Innerlich war sie nun völlig ruhig. Alles war gut. Bald schon würde sie über die Wolken gleiten, ganz leicht, wie eine Feder...einfach in Luft aufgelöst, so wie die Geister es ihr gesagt haben.

Ein letztes Mal zog sie an ihrer Zigarette, schnippte sie lässig vom Dach und schloss die Augen.
Kein Gedanke ging ihr mehr durch den Kopf, als sie sich vom Schneefänger abstieß und ihm entgegeneilte. Dem Tod, der seit jeher ihr treuer Begleiter gewesen war.


© Julia N.


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Kurzgeschichte/ Auszug




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