Der Mai war zu Ende gegangen und die Schwalbenmutter hatte vier hübsche gesprenkelte Eier in ihr Nest gelegt. Dann wurde es wärmer und als ein paar Wochen vergangen waren, schlüpften vier weiße Schwalbenkinder aus den Eiern, sie hatten dunkle Federn auf dem Kopf, doch die konnte man kaum sehen, wenn man in das Nest hineinblickte, denn die kleinen Vogelkinder sperrten ihre Schnäbel so weit auf, dass die offenen Mäulchen alles andere verdeckten.

Den Schwalbeneltern war klar, diese offenen Mäulchen mussten unausgesetzt gefüttert werden, und so brachten sie Würmchen, Käferchen und Raupen zum Nest, bis die Jungvögel stark genug waren, um das Fliegen zu lernen. Drei der Geschwister hatten den Bogen schnell heraus und folgen den Eltern bei ihren Flügen durch die Weiten des Himmels.

Nur eines, das kleine Schwälbchen Manni, blieb ängstlich im Nest hocken und dachte gar nicht daran, seine Flügel zu gebrauchen.

„Was ist denn, Manni? Willst du uns nicht folgen, fliegen ist wunderbar, die Erde sieht von oben aus wie ein blauer Edelstein. Komm doch mit uns, wir wollen zusammen durch den Himmel fliegen!“

„Ich will das nicht“, erwiderte Manni, „um ehrlich zu sein, ich kann es auch nicht“.

„Aber deine Flügel sind genau so groß und stark wie unsere, du musst es nur versuchen! Fliegen ist für uns Vögel doch – ehrlich gesagt – so einfach wie Atmen“.

„Es geht einfach nicht“, zwitscherte Manni.

„Aber warum denn nicht, du hast es ja noch nicht mal probiert“.

„Ich habe Höhenangst!“ jammerte Manni.

„Höhenangst?!“ riefen alle drei Geschwister und die Eltern laut im Chor. „Höhenangst ist bei einem Vogel gar nicht möglich. Das gibt es einfach nicht! Keiner hat jemals davon gehört, dass eine Schwalbe Höhenangst haben kann“.

„Dann haben sie eben mich noch nie getroffen“, sagte Manni leise und senkte beschämt das Köpfchen.

Noch nie hatte sich etwas in der Schwalbenkolonie schneller verbreitet, als die unglaubliche Neuigkeit, dass der kleine Manni ein Ausnahmevogel, eine Unmöglichkeit, ja fast so etwas wie ein Monster war.

Höhenangst! Das war für einen Vogel einfach unvorstellbar. Das war so ähnlich wie ein Jagdhund ohne Beine, oder eine Eule ohne Augen. Höhenangst! Damit konnte keiner etwas anfangen. Und so begann etwas, was meistens geschieht, wenn einer anders ist als alle anderen – man begann Manni zu verspotten, und Jakob, der am besten von allen Schwalben dichten konnte, reimte ein Lied, das bald alle Schwalben sangen, sobald Manni sich sehen ließ:

Wer krabbelt da im Laub umher
Wer ist es? Ja wer ist es? Wer?
Es ist der Manni, dieser Wicht,
Denn fliegen, fliegen
Durch den Himmel,
Kann er nicht,
Der arme Wicht,
Der doofe doofe Schwalbenkrümel.

So etwas und noch vielen anderen Spott musste sich der arme Manni täglich anhören. Und dann hoben sich alle anderen in den Himmel empor, lachten ihn von oben aus, um dann wieder auf dem Dachsims der großen Chemiefabrik zu landen.

Die Chemiefabrik war der beliebteste Landeplatz für die Schwalben, denn sie hatte ein flaches Dach, das sogar um einen halben Meter wie ein Vordach über die Hausmauern herausragte, so dass man sich im Schutz dieses Daches perfekt seine Nester bauen konnte. Und da der Besitzer der Chemiefabrik die Schwalben liebte, ließ es sie gerne unter seinem Dach ihre Nester bauen. Oft stellte er den Schwalben sogar Schüsselchen hinaus, in denen Nusskerne, Brotkrumen und andere Leckereien für sie bereitlagen.

Ja, Dr. Schnurr führte seine Fabrik vorbildlich und achtete streng darauf, dass der Umwelt mit allem, was darin zwitscherte und flatterte kein Schaden zugefügt wurde. In seiner Fabrik wurden Chemikalien hergestellt, wobei sich ein Gas entwickelte, das die Arbeiter sorgfältig in Fässer leiteten, die anschließend versiegelt wurden, damit ja niemand durch das Gas vergiftet wurde.

Eines Tages musste Dr. Schnurr verreisen, er hatte gehört, dass in einem Labor im fernen Skandinavien eine Methode gefunden worden war, wie man alle Chemikalien, die in den Hallen der Schnurr-Fabrik hergestellt wurden, noch umweltfreundlicher und auf ganz natürliche Weise herstellen konnte.

Dr. Schnurr war wirklich ein vorbildlicher Fabrikant. Und bevor er sich auf die Reise begab, sagte er zu seinem Vorarbeiter, dass der beim Abfüllen des Gases besondern vorsichtig sein sollte. Der Vorarbeiter beruhigte ihn mit den Worten: „Wir passen auf wie die Luchse, lieber Doktor, sie können ganz unbesorgt fahren und bald gesund wiederkommen“.

_____

Doch dann, eines Tages geschah etwas, was sich keiner hätte vorstellen können, eines der Fässer stürzte um, das Gas mischte sich mit anderen Chemikalien, und nach einer donnernden Explosion stieg eine giftige Gaswolke empor.

Die Schwalben schrien voller Panik: „Höher hinauf! Höher hinauf! Wir müssen der Giftwolke nach oben ausweichen, schließlich sind wir schneller. Wir können ja fliegen“. Und dann riefen sie nach unten: „Manni es tut uns leid, dass du unten bleiben musst, aber wir müssen unser eigenes Leben retten! Es tut uns wirklich leid! Halte durch!“

Mit diesen Worten erhoben sie sich und flogen in den Himmel. Weit, weit hinauf, um die Giftwolke hinter sich zu lassen.

Manni aber dachte: „Wenn die Wolke aufsteigt, weil sie leichter ist als Luft, dann ist es doch am besten, man bleibt unten, verkriecht sich in einer Höhle, schließt den Eingang und wartet ab. Und genau das schlug er den ganz kleinen, noch flugunfähigen Jungvögeln vor, die ängstlich auf dem Boden hockten und nicht wussten, was sie tun sollten.

„In die Höhle! In die Höhle!“, rief Manni und trieb die vor Angst kopflosen Jungvögel vor sich her. Dann rollten sie von innen gemeinsam einen Stein vor den Höhleneingang, der zum Glück die Höhle gut abdichtete.

Inzwischen war draußen das Unheil angebrochen. Die Giftwolke hatte die Schwalben eingeholt und die, welche etwas schwächer waren, und nicht noch höher hinauffliegen konnten, wo die Giftwolke vom Wind in alle Richtungen fortgeweht wurde, die machte das Gift ohnmächtig, so dass hunderte von Schwalben wie Steine vom Himmel fielen und im Laub liegenblieben.

Als Dr. Schnurr von seiner Reise zurückkehrte, sah er überall Schwalben herumliegen, die aussahen als wären sie tot. Als sich einige von ihnen zaghaft bewegten, stellte er ihnen stärkende Nahrung hin, so dass nach und nach alle aus ihrer Ohnmacht aufwachten. Zum Glück hatte das Gift sie nicht getötet. Als sie wach waren, begannen sie laut nach ihren Jungvögeln zu rufen, die nirgendwo zu sehen waren.

_____

Da kam Manni gemeinsam mit den geretteten Vögelchen aus der Höhle. Die Eltern schlossen die Kleinen in ihre Flügel und riefen laut: „Hoch lebe Manni!“, obwohl dieser Hochruf eigentlich gar nicht zu Manni passte, denn dem war in seiner Höhenangst das „Unten“ hundertmal lieber als das „Hochoben“.

Als die Jungvögel dann alle das Fliegen gelernt hatten, erhoben sie sich in die Weiten des Himmels. Doch keiner machte sich von da ab noch jemals über Manni mit seiner Höhenangst lustig. Im Gegenteil, Jakob, der Dichtervogel hatte ein neues Lied geschrieben, das sie gerne gemeinsam sangen, und dieses Lied ging so:

Fliegen ist die reinste Lust,
Das zwitschern wir aus voller Brust.
Doch ist’s okay und macht nichts aus,
Wenn unser Manni bleibt zu Haus.
Denn in der Welt, der reichen, bunten,
Bleibt mancher eben lieber unten.
Jeah! Jeah! Jeah! Unser Manni ist okay!


© Peter Heinrichs


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