Seit er sich erinnern konnte hatte sich der Platz am Ende der Sackgasse hinter hohen Holzplanken, Stahlsäulen und Netzvorhängen versteckt gehalten. Aber irgendetwas war anders an diesem Morgen gewesen. Ja richtig, es war plötzlich so ruhig. Zu ruhig.

Die Sonne schien sengend auf ihn herab und er hatte den Schulranzen abgenommen, den ihm seine Mutter vor Minuten noch fest auf den Rücken geschnürt hatte und als ob Peter die Schuld an dem schwülen Wetter dem wehrlosen Gepäck zuschieben wollte hatte er ihn hinter sich auf dem Boden her geschleift, dass es auf der menschenleeren Straße nur so gequietscht, geklackert und gerattert hatte. Nach dem Motto: Je lauter desto lustiger.

Er kannte den Weg in die Vorschule auswendig. Es war ja gleich um die Ecke und noch einen Block weiter. Meistens ging er aber einen längeren Weg um den Block herum. Dort gab es mehr Bäume und Gebüsch. Manchmal konnte er Käfer und lange Stöcke finden, die er dann heimlich bei sich herumtrug. Wahrscheinlich wäre er wie jeden Morgen auf diesem Weg direkt in die Vorschule gegangen, wenn nicht plötzlich die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen und ihn von der Gasse heraus geblendet hätte.

Die Holzplanken waren verschwunden. Nur noch ein paar Stahlsäulen auf dem Boden erinnerten ihn daran, dass diese Gasse bis vor kurzem noch vollkommen finster und staubig gewesen war. Peter konnte sich nicht vorstellen dass jemals ein Sonnenstrahl die unregelmäßigen befleckten Pflastersteine berührt haben könnten, die den Boden der Gasse bedeckten.

Heute glitzerten sie sogar im Licht des frühen Morgens so grell, als ob sie mit tausenden kleinen Diamantensplittern versehen waren.

Was aber endgültig Peters Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte war das, was sich am Ende der Gasse befand: ein funkelnder neuer Spielplatz mit den faszinierendsten Kletterlandschaften, Klettergerüsten und anderen Spielgestellen, die unter den Sonnenstrahlen golden glänzten.

Es hatte noch nie einen Spielplatz in seiner Nähe gegeben. Als Opa noch da war, hatte er ihn ab und zu in einen Spielplatz im anderen Ort mitgenommen gehabt, aber auch nur selten.

Viel überlegen musste er nicht. Ein paar Minuten Verspätung macht ja nichts. Man muss ja sowieso immer ein bisschen warten bis die Stunde beginnt.

Seit diesem Morgen ging er zum Erstaunen seiner Mutter immer ein paar Minuten früher aus dem Haus. Er kam auch etwas verspätet von der Schule und erklärte seiner Mutter, dass er mit den Kindern noch ein bisschen gespielt hätte. Das mit dem Spielplatz verschwieg er ihr.

Die Uhr hatte gerade zum Mittag geschlagen und die Mutter in ihrem Sessel unsanft aus dem Schlaf gerissen. Nachdem sie sich gefasst hatte, hatte sie erschrocken nach Peter gerufen, war in sein Zimmer hochgerannt und hatte es leer vorgefunden.

Nach einigen vergeblichen Telefonanrufen und weiteren langen Minuten rannte sie aus dem Haus, hastete um den Block und blieb stehen, als sie ein Schluchzen vernahm.

In einer dunklen Gasse zusammengekauert saß Peter auf dem Boden und presste seine letzten Tränen aus den Augen.

Mit wundgeriebenen Augen schaute er auf, sah sie an und schluchzte: „Er ist weg…“

„Was ist passiert. Was ist weg?“ Die Mutter hatte ihn in den Arm genommen und schaute ihn voller Sorge an.

„Der Spielplatz – er war einfach weg. Ganz plötzlich.“

„Wovon redest du? Du weißt, dass es hier weit und breit keinen gibt.“

Peter drehte sich um, löste sich von der Umarmung seiner Mutter und zeigte auf die mit Baustellresten verdeckte Mauer.

„Die Wand“, schluchzte er mit den Fäusten in den Augen, „die war weg. Jetzt ist die wieder da.“

Verwirrt und besorgt drückte die Mutter seine Arme zur Seite und wischte ihm die Tränen vom Gesicht während Peter weiter schluchzte.

„Da war ein Spielplatz. Gestern. Und vorgestern und vorvorgestern auch.“

Sie sah ihn eine Weile verstört an und mit einem Mal ahnte sie, was los war.

„Schau“, sagte sie, während sie mit ihrem Kopf in Richtung Mauer nickte, „die Mauer ist schon immer hier gewesen. Erinnerst du dich, als Opa noch hier war. Er hat sie dir damals gezeigt und dir Geschichten über sie erzählt. Lustige Geschichten von geheimen Orten hinter verborgenen Mauern. Erinnerst du dich?“

Peter erinnerte sich. Aber das Bild des geheimen Spielplatzes, das er noch gestern an dieser Stelle vorgefunden hatte, war zu frisch, dass er nicht erfassen konnte, was genau passiert war.

Heute fährt Peter früh morgens in seine alte Heimat um seine Mutter zu besuchen. Nostalgisch dreht er das Autoradio lauter und es erklingt eine alte Melodie, die er als Kind oft gehört hat. Lächelnd kurbelt er die Fenster seines alten Wagens herunter um den Wind zu genießen. Die leeren Straßen, die herzhaft grünen Bäume, die die Straßen umsäumen, die farbigen Häuser und den Duft vom frisch gemähten Gras hat er all die Jahre vermisst.

Dann bremst er plötzlich und fährt einige Meter zurück. Hastig steigt er aus dem Wagen, wirft die Tür hinter sich zu und läuft fassungslos auf die alte Sackgasse zu, die er all die Jahre lang unbewusst gemieden hatte in dem er den kürzeren direkten Weg in die Schule über die Hauptstraße genommen hatte. Jetzt in diesem Moment erinnert er sich warum.

Die Mauer ist weg und er weiß, dass sein Verstand ihm diesmal keinen Streich spielt. Auch die Pflastersteine wurden erneuert und führen in einen weiten Innenhof hinter die einstige Mauer. Peter lacht und fährt seine Finger durch seine Haare.

Nein, ganz sicher ist das keine Halluzination.

Vor ihm liegt eine kleine Spielplatzeinrichtung mit improvisierten Wippen aus halbierten Baumstämmen, einem Klettergerüst aus Bauteilen der alten Baustelle und Holzschaukeln, die nicht mehr ganz neu, sondern von vielen feuchten Kinderhänden morsch und getrübt, einsam doch einladend auf ihre kleinen Gäste warten.


© Hanna Kim


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Beschreibung des Autors zu "Der Spielplatz"

Eine Kurzgeschichte über Verlust, Hoffnung und Erinnerung.

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