DER MANN DER IMMER UNRECHT HATTE


stand hinter dem Fenstervorhang seines Zimmers und ärgerte sich über das vergnügte Geschrei der spielenden Kinder auf der Straße.
Frech hüpfte der rote Ball auf und nieder! Frech, frech, frech! Murmeln rollten über den Bürgersteig. Im Rinnstein bimmelte eine Feuerwehr. Ein Mädchen drehte eine Spielmaus auf und ließ sie surrend über die Straße huschen...
Mit einem Griff riss der Mann, der immer Unrecht hatte, die Gardine beiseite, stieß die Fensterflügel auf und brüllte Ruhe! Ruhe! auf die Straße hinunter.
Ein weißes Papierflugzeug sauste an der Nasenspitze des Mannes, der immer Unrecht hatte, vorbei.
Für einen Augenblick herrschte Totenstille auf der Straße. Das freute den Mann, der immer Unrecht hatte, und sein verkniffener Mund zeigte ein gemeines Grinsen, das die Kinder erschreckte.
Dann aber fassten die Kinder erneut Mut, schnitten dem Mann, der immer Unrecht hatte, Grimassen, streckten die Zunge heraus, und tollten mit ungezügelter Lebendigkeit weiter umher. Der Mann, der immer Unrecht hatte, presste verzagt die Lippen aufeinander. Na, wartet nur, murmelte er mit Hinterlist, euch werde ichs zeigen!
Als wenig später wieder der Ball auf der Straße auf und nieder hüpfte, die Murmeln rollten, die Feuerwehr bimmelte und die Maus surrte, wartete der Mann, der immer Unrecht hatte, mit einem Eimer Wasser hinter der Gardine. Unter seinem Fenster stand ein Junge, das Gesicht gegen die Hauswand gerichtet, und rief den anderen Kindern zu: Ochs am Berge - eins, zwei, drei!! - es endete stets damit, dass die Kinder mit ihren schmutzigen Händen die Hauswand beklatschten. Seine Hauswand! - Das sollten sie gefälligst unterlassen! Sonst... Was sonst?! - - -
Dann war es soweit. Fast gleichzeitig erreichten die herbeieilenden Kinder die Hauswand. Da riss der Mann, der immer Unrecht hatte, die Gardine beiseite, stieß die Fensterflügel auf, hangelte den überschwappenden Wassereimer hoch ---, doch - o Schreck! - wurde der Schwung gebremst von dem vorstehenden Fensterbrett, und beinahe der ganze Inhalt floss an der Tapete herunter und verteilte sich im Zimmer. Das war keine schöne Bescherung. Draußen auf der Straße lachten die Kinder. Der Mann, der immer Unrecht hatte, musste schlucken, als er sein Missgeschick bemerkte.
Einen ganzen Tag lang wartete er wieder in Lauerstellung, bis er erneut die Fensterflügel aufstieß. Diesmal war das Glück auf seiner Seite! Ein voller Eimer mit eiskaltem Wasser ergoss sich unerbittlich auf den Gehweg vor seiner Wohnung. Aufgeregt liefen die Kinder auseinander. - Die Straße leerte sich. Endlich hatte der Mann, der immer Unrecht hatte, seine Ruhe.
Hatte er es denen gezeigt? - Nun, er hatte es denen nicht nur gezeigt, er hatte es ihnen auch gegeben!
Zufrieden, doch zugleich auch voller Misstrauen, füllte der Mann, der immer Unrecht hatte, den Eimer mit Wasser und stellte ihn unter sein Fenster. Für den nächsten Angriff war er gerüstet.
Aber an diesem Nachmittag sah er keine Kinder mehr auf der Straße spielen. Früh senkte sich der Abend auf die Stadt herab. In den Fenstern der umliegenden Häuser brannten die Lichter. Fast wünschte der Mann, der immer Unrecht hatte, dass die Kinder noch einmal vor seinem Hause spielen sollten. Zu gern hätte er seinen Triumph erneuert. Aber es kam kein Kind mehr auf die Straße.
Wieder ärgerte sich der Mann, der immer Unrecht hatte.
Missmutig zog er seinen Mantel über, setzte den Hut auf den schmalen Kopf und verließ die Wohnung zu seinem täglichen Spaziergang.
Draußen war es inzwischen sehr dunkel und kalt geworden, so kalt, dass das Wasser vor seinem Fenster zu einer spiegelglatten Eisfläche gefror. So kam es, dass der Mann, der immer Unrecht hatte, ausrutschte und auf den gepflasterten Gehweg stürzte. Er verlor sein Glasauge und verstauchte sich ein Knie. Außerdem bekam er eine, nein, es waren sogar zwei Beulen an der Stirn. Wie kleine Hörner sahen sie aus.
Fluchend humpelte der Mann, der immer Unrecht hatte, zurück zum Hauseingang, knipste das Licht an, und schleppte sich mühsam, mit verbissenen Zähnen, über die Holztreppe zur Wohnungstür des Hausmeisters, schellte und schellte mit zitternden Fingern, klopfte und brüllte, bis man ihm endlich öffnete. Er wolle sich beschweren, schnauzte er dem Hausmeister entgegen, als dieser sich in der Tür zeigte, er sei nämlich soeben auf dem Gehweg vor dem Haus auf Glatteis ausgerutscht, was ihn fast das Leben gekostet hätte; es sei eine Frechheit, eine fahrlässige dazu, den Weg nicht mit Salz zu streuen, wie es sich gehöre, und überhaupt, wer denn eigentlich hierfür die Verantwortung trage?!
Der Hausmeister ging mit seinen Filzpantoffeln zum Schwarzen Brett im Hausflur, auf dem die Liste mit den Namen aller Hausbewohner festgeheftet war. Es ließe sich leicht feststellen, wer in dieser Woche für den Flur- und Straßendienst verantwortlich sei, sagte der Hausmeister und setzte seinen dicken Zeigefinger auf den letzten Namen der Liste. - Wer an diesem denkwürdigen Tage die Verantwortung trug, liegt auf der Hand: es war der Mann, der immer Unrecht hatte.
Als der Mann, der immer Unrecht hatte, dies gewahrte, machte er auf dem Absatz eine plötzliche Kehrtwendung, humpelte fluchend in seine dunkle Wohnung zurück und ärgerte sich schwarz.


© Erhard Schümmelfeder


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Beschreibung des Autors zu "DER MANN DER IMMER UNRECHT HATTE"

Als Ebook im Handel (amazon, Weltbild, ciando etc.) erhältlich unter dem Titel "Der Mann der immer Unrecht hatte".




Kommentare zu "DER MANN DER IMMER UNRECHT HATTE"

Re: DER MANN DER IMMER UNRECHT HATTE

Autor: Moebius97   Datum: 08.09.2011 0:48 Uhr

Kommentar: ja ja, dass ist nur zu trefflich!


Wer eifrig Zorn und Ärger nährt
sich allzeit hartnäckig beschwert
den holt dann eines Tages ganz gewiss
die eigne Wut mit scharfem Biss!

Re: DER MANN DER IMMER UNRECHT HATTE

Autor: Erhard Schümmelfeder   Datum: 08.09.2011 8:28 Uhr

Kommentar: Lieber Moebius,
es freutmich, dass Ihnen meine Gescheichte Gefallen hat. Auf youtube gibt es auch eine filmische Erzählversion hiervon. Ich wünsche einen guten Tag. Ihr E.S.

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