Als der Winter vorüber war und im Wald endlich die ersten Krokusse durch den noch leicht frostigen Boden hindurchbrachen, da fingen auch die Vögel wieder an zu singen. Erst leise noch und zaghaft, doch jeden Tag ein bisschen fröhlicher und lauter. Auch die noch kühlen Tage wurden wieder länger und heller, die Sonne stand leicht wärmend am Himmel und die kahlen Bäume und Sträucher streckten erwartungsvoll ihre Äste und Zweige der noch ungewohnten Wärme entgegen. Die ersten Knospen öffneten sich und langsam breitete sich überall im Gehölz ein zartes Grün aus.

Doch nicht nur über der Erde veränderte sich etwas. Auch unter der Erde war bei den Kaninchen des Waldes jede Menge los. Die ersten Kaninchenkinder wurden geboren, und die Kanincheneltern hatten viel zu tun. Schon vier Wochen später als die Böden langsam wieder grün wurden und die ersten Kräuter und Blumen wuchsen, da konnten auch unsere kleinen Kaninchenkinder das erste Mal ihren sicheren Bau verlassen, und sich die Welt von oben ansehen.

Die älteren Kaninchengeschwister halfen natürlich mit, auf die ganz kleinen aufzupassen. Und so hatten die Kanincheneltern endlich etwas Zeit für sich und konnten ganz in Ruhe zu zweit im Schatten eines Busches liegen und frische Frühlingsluft schnuppern. Eines Morgens, als die Kaninchenkinder wieder munter auf der großen Lichtung im Wald spielten und hüpften, entdeckte einer von ihnen, mit Namen Karli, etwas ganz Erstaunliches.

Erst dachte er, seine Augen hätten ihn getäuscht. Aber nein, ganz richtig. Vor ihm hockte einer, der sah fast aus wie er. Nur, das er etwas größer war, viel längere Löffel und Läufe hatte und er ihn gar nicht kannte.

„Wer bist denn du?“ fragte Karli misstrauisch den fremden, langbeinigen Kerl. „Du bist keiner von uns. Aber du siehst uns ähnlich.“
Der Hase guckte traurig. „Ich bin ein Hase und ich bin von zu Hause weggelaufen. Ich war der kleinste von allen und jeder hat mich geärgert und weil doch bald die Osterzeit beginnt, und mein Volk sich darauf vorbereitet, die Ostereier anzumalen, haben sie mich aus ihrer Mitte weggejagt. Ich sei zu klein und dürfe nicht mithelfen, hieß es. Da wollte ich gar nicht mehr bei ihnen bleiben. Ich habe meine Sachen gepackt und bin fortgegangen. Und ich geh auch nicht zurück.“

„Aber warum bist du denn zu klein?“, fragte Karli.
„Weil ich im November geboren wurde. Ich bin ein November-Osterhase.“
„Ein November-Osterhase? Ach je.“
„Ja“, sagte der Hase. „Meine älteren Brüder und Schwestern wurden alle letztes Jahr im März geboren, und sind jetzt ein Jahr alt. Nur ich als einziger kam noch nach dem Sommer im November zur Welt. So etwas ist ganz selten. Und kommt fast nie vor. Aber ich war dann nun mal da. Und weil ich acht Monate jünger bin, bin ich viel kleiner als meine Geschwister. Nie finde ich jemanden zum Spielen. Kann ich bei euch bleiben?“

„Bestimmt“, sagte Karli. „Komm einfach mit. Ich stell dich den anderen vor.“ Die anderen Kaninchen begrüßten und beschnupperten den Neuen freundlich und hatten nichts dagegen, dass er bei Ihnen bleiben wollte. Der November-Osterhase freute sich. Endlich, zum ersten Mal in seinem Leben, hatte er viele Spielkameraden und es dauerte nicht lange, da hüpfte und tollte er stundenlang mit den Kaninchen auf der Waldlichtung herum. Die Kaninchen und der Hase hatten ihren Spaß. Nachts blieb der Hase zwar draußen, denn Hasen – das müsst ihr wissen - gehen nie unter die Erde. Sie graben auch keine Löcher oder Bauten, sondern suchen sich gut geschützte und verborgene Verstecke im hohen Gras unter den Büschen oder am Feldrand.

So verging die Zeit. Der Frühling zog ins Land und nach ihm der Sommer, und irgendwann kam der Herbst. Der November-Osterhase hatte schöne Monate bei den Kaninchen verlebt, doch jetzt wo es auf den Oktober zuging, musste er daran denken, dass er bald Geburtstag haben würde. Und so bekam er Heimweh.
„Ohne meine Eltern und meine Geschwister Geburtstag zu feiern, das ist schon komisch“, sagte er eines Morgens zu Karli.
Karli schaute ihn eine Weile nachdenklich an, dann grinste er. „Du bist auch ganz schön gewachsen. Schau nur, du bist jetzt doppelt so groß wie ich.“

Der November-Osterhase zuckte merklich zusammen, doch dann schaute er eine Weile an sich hinunter und putzte sich dann ganz bedächtig seine langen Läufe und Löffel.
„Vielleicht kann ich ja doch wieder zurück, jetzt wo ich größer geworden bin? Zu gerne möchte ich beim nächsten Osterfest mithelfen, all die schönen Eier zu bemalen. Aber ich weiß gar nicht mehr, wo ich hergekommen war. Ich hatte mich damals einfach verlaufen. Wahrscheinlich werde ich meine richtige Familie nie, nie wiederfinden.“
Und er begann zu weinen.

„Ach komm schon“, sagte Karli. „Wir können dir bestimmt helfen. Meine Familie wohnt schon seit undenklichen Zeiten hier und meine Großeltern kennen hier in der Umgebung jeden Halm und jedes Blatt. Aber jetzt kommt bald der Winter. Da können wir nicht mehr ausziehen. Du verbringst einfach den Winter bei uns im warmen Bau, und wenn der Frühling wieder einzieht, dann werden wir deine Familie suchen und du kehrst zu ihnen zurück“. Gesagt, getan. Der Hase half den Kaninchen, Moos und Laub zu sammeln, um die unterirdischen Baue auszupolstern und wagte es wirklich zum ersten Mal in seinem Leben, sich unter die Erde zu begeben. Aber zu seinem großen Erstaunen war es gar nicht staubig und eng, sondern recht gemütlich dort und ganz kuschelig warm.

So kam es, dass der Hase gemeinsam mit den Kaninchen den ganzen Winter unter der Erde verschlief und verlümmelte. Den Tieren wurde es nie langweilig. Schöne Geschichten wurden erzählt und Spiele gespielt, um sich die Zeit zu vertreiben. Und als irgendwann die Kaninchenmütter wieder ganz emsig waren und die kleinen Kaninchen geboren wurden, da wusste unser Hase: Bald würde auch draußen der Frühling wieder ins Land ziehen.

Kaum war das erste Grün draußen zu sehen, setzten die Kaninchen ihren Plan in die Tat um. Alle wurden zusammengetrommelt, beratschlagten die Lage und schon am nächsten Morgen wurden die ersten Spähtrupps ausgesandt. Die sollten die gesamte Umgebung außerhalb des Waldes auskundschaften, um herauszufinden, wo die Familie des November-Osterhasen ansässig war. Schon am nächsten Tag kamen sie zurück.
„Deine Familie wohnt weit fort von hier am Rande eines riesengroßen Feldes und alle hatten dich schon seit Monaten gesucht“, erzählten sie aufgeregt. „Du sollst sofort nach Hause kommen, deine Eltern und Geschwister wollen ein großes Fest für dich bereiten.“

Da freute sich der November-Osterhase, der ja nun ein großer stattlicher Kerl geworden war. Er packte seine Siebensachen zusammen und verabschiedete sich von allen, die ihm ans Herz gewachsen waren. Am nächsten Morgen zog er gemeinsam mit zehn Kaninchen los, die ihn begleiteten und ihm den Weg zeigten. Als sie den Wald verlassen hatten und bald schon ihm alt vertraute Wege gingen, da fing das Herz des Hasen vor Freude an zu klopfen und so sprang er los und raste das letzte Stück ganz allein voraus, so ungeduldig war er plötzlich, seine Familie wiederzusehen. Die freute sich auch wirklich sehr. Ein schönes Fest wurde gefeiert, zusammen mit den zehn Kaninchen. Das Fest dauerte den ganzen Tag und die ganze Nacht.

Der November-Osterhase war nun wirklich zu einem besonders großen Hasen herangewachsen. Er war fast der größte von allen und keiner aus seiner Familie lachte ihn je wieder aus. Natürlich durfte er auch zu seinem ersten Osterfest die größten Eier bemalen, was ihn besonders stolz machte. Und so lebte er noch ein langes glückliches Leben. Seine Kaninchenfreunde vergaß er nie. Regelmäßig ging er hin und wieder in den Wald, um sie zu besuchen. Und das war schon etwas Besonderes. Aber das Lustigste war, dass er gelernt hatte sich einen Bau zu graben, und so hatte er es für den Rest seiner Zeit im Winter immer ein bisschen kuscheliger und wärmer als viele seiner Hasengenossen …


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Kindergeschichte zur Osterzeit

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