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Ich wünsche allen Lesern nun viel Spaß bei einem wunderbaren Kurztrip in die Fantasy!

Max‘ großer Traum war es schon immer mit einem Schiff zur See zu gehen. So oft er konnte, stand er im Hafen und sah zu, wie die großen Schiffe im Auftrag des Königs mit Waren beluden wurden. Dabei vergas er oft die Zeit und kam erst spät, wenn es fast schon dunkel war, nach Hause. Seine Eltern bekamen davon nichts mit, da sie bis in die Nacht arbeiten mussten, um für die Kinder und sich zu sorgen. Sein Vater war Schmied und konnte jeden dreckigen Klumpen Metall in ein wunderbares Schwert verwandeln. Jedoch blieb ihm nach der knochenharten Arbeit kaum noch Zeit für seine Familie. Max‘ Mutter arbeitete auf dem Feld, erhielt aber auch nur einen kargen Lohn. Manchmal dachte sich Max heimlich, wäre es besser, er würde auch schon arbeiten. Er könnte so seine Eltern etwas entlasten. Doch dafür war er noch viel zu jung.
Eines Tages ging er nach der Schule nicht gleich nach Hause, sondern nahm einen Umweg über den Hafen. Sein Lieblingsplatz war ein kleiner Steinhaufen hinter der Kaimauer. Dort sah ihn niemand und er konnte ungestört vor sich hin träumen. Doch zu seiner großen Überraschung, war sein kleines Versteck heute schon besetzt. Ein ganzer Möwenschwarm hatte sich dort niedergelassen. Jemand musste Fischreste über die Mauer geworfen haben – genau auf seinen Lieblingsplatz! Die Möwen zu vertreiben würde auch nichts bringen. Der ganze Steinhaufen war bereits voll mit Möwendreck und roch schrecklich nach altem Fisch.
Anstatt also heute alleine seinen Gedanken nachzuhängen, ging er ein wenig am Hafen spazieren. Ab und zu sah er ein bekanntes Gesicht und grüßte es, wie zum Beispiel die alte Fischfrau, die seinen Eltern immer ein Stück vom frischen Fang übrig ließ. Am Hafenende angekommen, dort wo die kleineren Boote standen, hörte er schon von weitem, wie sich zwei Männer lauthals stritten. Max verlangsamte seinen Schritt und lauschte.
„Du wirst niemals deine Güter verschiffen können! Schau dir doch nur deine Mannschaft an! Die paar Männer die du finden konntest, sind ausgesprochene Halunken!“, schrie der erste Mann wütend.
„Ich brauche nur noch zwei Tage um eine bessere und vollständige Mannschaft auf die Beine zu stellen! Es sind die Gewässer, die ich besegeln soll, auf die sich keiner traut! Man sagt, auf der Route lauern schlimme Gefahren!“, antwortete der kleinere der beiden Männer ungeduldig.
„Ach so ein Seemannsgarn!“, erwiderte der erste Mann barsch, „Ich geb‘ dir noch zwei Tage, aber wenn du bis dahin keine Crew zusammengestellt hast, bist du das letzte Mal im Auftrag des Landes gesegelt!“
Der kleinere Mann zuckte bei diesen Worten zusammen. „Ich werde mich bemühen, sagte er mit bibbernder Stimme. „Sobald die Sonne am zweiten Tag untergegangen ist, sticht mein Schiff die Cortissa mit einer kompletten Mannschaft in See!“
Mit durchdringenden Augen schaute der größere Mann den kleineren an: „Ich nehme dich beim Wort, sonst bist du am dritten Tag kein Kapitän mehr!“. Damit drehte er sich um und ging schnellen Schrittes die Straße entlang.
Der kleine Mann zitterte am ganzen Leib. Erst jetzt erkannte Max den Kapitänsanzug, den der zitternde Mann trug, da er seinen Hut nur in den Händen hielt. Das lederne Gesicht schien von der Sonne ausgemergelt zu sein. Der Kapitän war ein wahrhaft alter Mann. Er schritt langsam auf den Steg hin zu seinem Schiff und redete mit sich selbst: „Wie soll ich nur innerhalb von zwei Tagen eine Mannschaft zusammenstellen? Niemand traut sich diese Gewässer zu besegeln… Ach herrje. Meine liebe Cortissa, wie schön wäre es, ein letztes Mal mit dir die Weltmeere zu besegeln. Gleich morgen früh werde ich mit der Suche anfangen und -“
Jetzt war der Kapitän zu weit weg und Max konnte ihn nicht mehr verstehen. Doch das war auch nicht schlimm, denn alles Wichtige hatte er gehört.
An diesem Abend konnte Max nicht einschlafen. Er dachte immer und immer wieder über die Worte des alten Mannes nach. Er wäre sofort bereit, an Bord der Cortissa die Weltmeere zu besegeln. Als Max endlich einschlief, träumte er von dem kleinen aber prachtvoll herausgeputzten Schiff und wie er Seite an Seite mit dem Kapitän an Deck steht. Der alte Mann lächelte ihn zutiefst freundlich an, schüttelte seine Hand und sagte in einem höchst feierlichen Ton, er hatte noch nie so einen tapferen Matrosen an Bord. Und als Dank vermache er ihm hiermit sein Schiff – die Cortissa. Mit einer ausschweifenden Handbewegung zeigte er auf das blankpolierte, in der Sonne glänzende Deck. Max sah nun auch die anderen Matrosen auf dem Oberdeck stehen und wie sie wild in die Hände klatschten.
Am nächsten Morgen, als Max‘ Mutter ihn aufweckte, konnte er sich kaum noch an seinen Traum erinnern, außer dass es ihn unglaublich stolz gemacht hat, an Bord des Schiffes zu sein. Doch er wusste nicht mehr, was er da genau gemacht haben sollte. Trotzdem ließ ihn dieses Gefühl den ganzen Morgen nicht los und in der Schule konnte er sich nicht richtig konzentrieren. Gleich nachdem der Unterricht vorbei war, stürmte er aus dem Klassenzimmer – direkt zum Hafen. Er wollte unbedingt sehen, wie weit der alte Kapitän mit seiner Suche nach geeigneten Matrosen vorangekommen war. Am Steg angekommen sah Max schon eine lange Schlange. Von weitem sah er bereits den Kapitän viele Männer wieder wegschicken, aber einigen vereinzelten Personen die Hand schütteln. Als Max näher kam, hörte er, wie der Kapitän einen schlaksigen großen Mann an Bord der Cortissa willkommen hieß und ihm mitteilte, er soll morgen um 18Uhr am Hafen eintreffen, da das Schiff eine Stunde später auslaufen würde.
Max suchte sich einen ruhigen Ort, von dem er die Männer beobachten konnte. Sollte er es wagen? Sollte er auch vorstellig werden? Während er so nachdachte, wurde die Schlange immer kürzer und der Kapitän packte seine Sache zusammen, bis er schließlich ging. Geknickt lief Max nach Hause. Vielleicht war es auch besser so. Was sollten bloß seine Eltern sagen? Er konnte doch nicht einfach verschwinden. Diesmal kam er früher zu Hause an. Max war sehr hungrig, da er den ganzen Tag in der Schule vor Aufregung kaum einen Bissen gegessen hatte. Aber zu Hause gab es nichts zu essen. Es war Monatsende und das Geld der Eltern war zur Neige gegangen. Max fand noch einen schon recht gelben Apfel, aß ihn und legte sich hungrig ins Bett. Die Nacht verlief nicht so ruhig, wie die vorherige. Max drehte sich im Schlaf und wachte sogar einmal kurz nach Mitternacht auf. Als schließlich die ersten Sonnenstrahlen in sein Zimmer leuchteten und das Ende der Nacht verkündeten, stand er auf. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Kam das daher, weil er gestern so wenig gegessen hatte? Jedenfalls redete er es sich ein, aber insgeheim wusste er, dies würde kein normaler Tag werden. Als Max‘ Mutter in sein Zimmer kam, war er schon angezogen und bereit zum losgehen. Seine Mutter blickte ihn verwundert an. Ihr Sohn stand nie freiwillig so früh auf. Max schaute sie an und sagte: „Wunder dich nicht! Ich kann auch schon recht erwachsen sein. Dazu gehört es auch, alleine aufzustehen.“ Er drückte seine Mutter, gab ihr einen Kuss auf die Wange und verließ das Haus. Nach den ersten Schritten, drehte er sich noch einmal um und betrachtete mit gemischten Gefühlen sein Zuhause. Irgendwie wusste er, er würde es für eine lange Zeit nicht mehr wiedersehen.

In der Schule behandelten sie das gleiche Thema wie gestern. Max fand alles fürchterlich langweilig und schaute ständig auf die Uhr. Wenn nur endlich der Unterricht vorbei wäre. Er wollte so schnell wie möglich wieder zum Hafen, um sich die Crew der Cortissa anzuschauen. Als endlich die erlösende Glocke den heutigen Schulschluss ankündigte, raste Max mit klopfenden Herzen zum Hafen. Der Kapitän hatte längst seinen gewohnten Platz am Steg eingenommen und empfing wohl bereits seit dem Morgengrauen Männer die bereit waren, mit ihm in See zu stechen. Doch noch immer schickte er einige davon wieder nach Hause. Max fand die Auswahl, die der Käpt‘n traf sehr spannend. Warum schickte er einige der Männer wieder zurück? Die Sonne schien in wenigen Minuten unterzugehen und bald hörte er auch schon von hinten die hastigen Schritte des einen Mannes, mit dem sich der Kapitän vor zwei Tagen so gestritten hatte. Max drehte sich um und sah wie der edel gekleidete Mann mit einem ernsten Gesicht immer näher kam.
„Und sag, hast du deine Mannschaft zusammenstellen können? Konntest du 20 kräftige und gesunde Männer finden, die mit dir und der Cortissa segeln wollen?“
„Werter Herr“, antwortete der Schiffsführer in einem ruhigen Ton, „es war wirklich schwer in der Kürze der Zeit solche geeignete Männer zu finden. Viele die sich meldeten, waren krank oder hatten Frau und Kinder – Eigenschaften die niemanden zu einem guten Seemann werden lassen. Entweder sie stecken den Rest der Crew mit ihrer Krankheit an oder leiden elendig an Heimweh. Mir ist es daher nur gelungen 19 tüchtige Männer zu finden und hoffe inbrünstig, auch so die Reise antreten zu können!“ Der Kapitän schaute dem größeren Mann tief in die Augen, doch es schien als hätte dieser eh nicht damit gerechnet, die Cortissa je wieder in See stechen zu sehen.
„Unfähig warst du also eine Mannschaft aufzustellen!“, knurrte er. „Du weißt ganz genau, man benötigt für die Cortissa mindestens 20 Mann an Bord und dann darf auch kein einziger zu keiner Zeit ausfallen.“ Er schaute den Kapitän verärgert an. „So kann ich dich nicht segeln lassen! Mit nur 19 Mann ist das ordnungsgemäße Verschiffen der Waren nicht gewährleistet! Ich muss dich und deine Crew daher bitten, das Schiff wieder zu verlassen.“
Der Kapitän machte große Augen. „Aber Herr, bitte!“, flehte er, „ich kenne das Schiff und könnte -“
„Nein!“, unterbrach ihn der große Mann, „20 Mann oder die Cortissa wird nicht in See stechen!“
Max hatte genug gehört. Das war seine große Chance! „Nehmen Sie mich als 20. Matrosen!“, rief er ihnen entgegen.
Beide Männer schauten verwundert auf. Die Augen des Kapitäns begannen vor Freude zu glühen, doch der andere Mann erwiderte nur spöttisch: „Du? Du willst Matrose werden? Junger Mann nimm es mir nicht übel“, dabei beugte er sich runter und betätschelte den Kopf von Max, als wäre dieser noch ein Kleinkind, „aber du hast doch keine Ahnung, was dich erwartet und was ein Matrose alles können muss, geschweige denn, wie ein Schiff aufgebaut ist.“
Doch in den ganzen Jahren, die Max am Hafen verbrachte, hatte er vielmehr erfahren, als er es selbst gedacht hätte. So erklärte er den beiden, wie ein Schiff funktioniert, was zum Beispiel Backbord und Steuerbord ist, wo ein Schiff sein Bug und sein Heck hat, erläuterte die tägliche Arbeit eines Matrosen und erklärte, warum er als Seemann geradezu geeignet ist. Er war kerngesund und hatte weder eine Frau noch Kinder.
Da mussten beide Männer schmunzeln. Gleichzeitig waren sie aber auch erstaunt, wie viel Max wusste und dass es ihm wirklich ernst war.
„Ja und deine Eltern, was sagen die dazu?“, wollte der Große wissen.
Daraufhin erklärte Max, sie hätten in der Familie kaum etwas zu essen und wie gerne er seinen Eltern daher unterstützen würde.
Die Männer staunten nicht schlecht. Obwohl Max noch recht klein war und sehr jung aussah, wirkte er viel reifer als andere Kinder in seinem Alter. Und er war bereit, große Verantwortung zu übernehmen. Der edle Mann war sichtlich beeindruckt und nickte dem Kapitän zu. Dieser strahlte, schüttelte die Hand von Max und sagte im würdevollen Tonfall: „Gut mein Junge, willkommen an Bord der wunderschönen Cortissa!“
Max‘ Herz machte einen Sprung und mit erhobenem Haupt stolzierte er den Steg entlang zum Schiff. An Deck angekommen blickte er zurück zum Hafen. Da sah er die alte Fischverkäuferin, winkte ihr und rief ihr aus vollem Halse zu, sie soll seine Eltern grüßen. Er hätte als Matrose angeheuert und würde in einiger Zeit mit viel Geld zurückkommen! Die Alte musste zweimal hinschauen, bis sie Max erkannte und staunte nicht schlecht. Daraufhin eilte sie zum Steg, winkte mit einem Taschentuch und wünschte ihm alles Glück der Welt.
Die beiden Männer verabschiedeten sich und der Kapitän rief kurz darauf, die Mannschaft soll sich in Bewegung setzen, die Cortissa würde sofort ablegen.
Max fühlte sich so glücklich. Endlich konnte er das machen, wovon er schon so lange träumte!
Plötzlich ging alles ganz schnell. Die anderen Matrosen gesellten sich zu ihm an Deck und stellten sich in einer Reihe auf. Der Kapitän erteilte jedem einzelnen Befehle und so gingen die Männer schnell an die Arbeit. Zum Schluss beugte er sich zu Max hinunter: „Und du mein Junge, durch dich kann meine liebe Cortissa wieder die Meere beschiffen – dafür danke ich dir, aber trotz allem musst auch du deine Aufgaben an Bord erledigen, da wir jede Menge Waren auf einer nicht ungefährlichen Route für den König verschiffen müssen. Die Arbeit wird dir sicherlich nicht immer Spaß machen, aber sie ist sehr wichtig und schließlich wirst du am Ende ja dafür entlohnt.“
Max konnte es nicht abwarten. Er wollte unbedingt wissen, wofür er eingeteilt werden sollte. „Kapitän, was sind meine Arbeiten?“, fragte er ungeduldig.
„Mein Junge“, antwortete dieser bedächtig, „du bist hier das Gehilfe für alles.“
Max schaute den Kapitän fragend an.
„Mach nicht solche großen Augen! Das ist eine wichtige Aufgabe. Du musst dich in allen Bereichen des Schiffes auskennen. Du müsstest im besten Falle jeden Matrosen auf dem Schiff ersetzen können. Seh‘ deshalb dem Koch eine Weile zu, wie er das Essen anrichtet. Klettere hoch zum Ausguckposten und lerne, was dir die Wolken über das Wetter verraten und schließlich musst du auch mir über die Schulter schauen, wie ich meine Berechnungen für die Schifffahrt durchführe und meine Pläne anordne. Zweimal die Woche schrubbst du aber auch das Deck, reinigst die Kajüten, kontrollierst die Segel nach Flicken und testest die Taue. Eine Menge Arbeit kommt auf dich zu, aber eben auch ein großes Abenteuer!“
Max war noch begeisterter als vorher. Eine bessere Arbeit hätte er sich nicht vorstellen können! So lernte er am besten alle Mitglieder der Crew und ihre Aufgaben kennen.
„Nun aber“, rief das Schiffsoberhaupt in die schwarze Nacht hinein und drehte sich dabei von Max weg, „ist es Zeit, uns auf das Meer zu konzentrieren!“
Die Cortissa setzte sich ruckartig in Bewegung und glitt gemächlich aus dem Hafenbecken.
Max schnallte seine Schultasche, die er immer noch bei sich trug, auf den Rücken und machte einen Rundgang über das Schiff. Dabei entdeckte er die Schlafkoje für die Matrosen. Er nahm sich die letzte freie Holzpritsche, rollte die am Fußende liegende Decke aus und fiel in einen tiefen zufriedenen Schlaf.

Jeder neue Tag an Bord war für Max ein echtes Erlebnis. Er lernte die Männer besser kennen und sie akzeptierten ihn trotz seiner jungen Jahre, was er mit größter Zufriedenheit feststellte.
„Eine Crew muss zusammenhalten“, so hatte ihm das der schlaksige große Mann gesagt, den er noch vom Hafen aus beobachtet hatte.
Jeden Tag lernte Max mehr über die Schifffahrt. Er war sehr eifrig und wissbegierig. Sogar der Kapitän wurde ab und an vom langen Erklären müde. Doch Max sog jedes Wort auf und merkte sich alles. So vergingen erst Wochen, später Monate und bald schon ein ganzes Jahr. Die Crewmitglieder konnten sich nun völlig aufeinander verlassen und segelten die Cortissa sicher über die Meere. Der Kapitän war mit seiner Mannschaft sehr zufrieden und lies alle seine Männer deshalb eines schönen Nachmittags auf Deck zusammenkommen. Er wollte eine frohe Botschaft verkünden.
Jeder einzelne war schon gespannt, da sie sonst selten alle gleichzeitig an Deck kamen.
„Werte Crew“, begrüßte der Kapitän seine Mannschaft und strahlte dabei, „ich kann mich über die auf dem Schiff geleistete Arbeit nicht beklagen! Alles läuft wunderbar. Deswegen, ja deswegen habe ich eine Überraschung für uns!“
Die Männer schauten abwechselnd sich und den Kapitän an. Was hatte dieser nur vor?
„Lasst mich schnell was holen.“ Mit diesen Worten verschwand ihr Schiffsführer, kam aber kurz darauf zurück, wobei er ein großes schweres Fass knarzend über die Holzplanken rollte. „Das, meine Männer, das ist ein Weinfass. Mit einem wirklich guten Tropfen! Ich finde, fleißige Arbeit muss belohnt werden. Schon morgen erreichen wir, wenn der Wind günstig steht, unseren Zielhafen, demnach befinden wir uns hier in sicherem Gewässer und – “, der Kapitän setzte zu einer Spannungspause an und atmete tief durch, „außerdem habe ich heute Geburtstag! Deshalb wird heute Abend gefeiert!“
Als die Männer das hörten, fingen sie an freudig zu grölen, warfen die Hände in die Höhe und wünschten dem Kapitän im Chor das Beste zum Geburtstag.
„Knabe“, rief der Kapitän zu Max, „geh und hol die Becher!“
Woraufhin Max unter Deck eilte und mit einer Kiste voller Metallbecher zurückkam.
Die Männer stürzten sich auf ihn und fingen sofort mit dem Trinken an. Max nahm sich als letzter einen Becher und füllte ihn randvoll. Er hatte noch nie Wein getrunken, aber wenn er den Männern so gut schmeckt, dann musste er ihm ja auch schmecken.
Doch schon beim ersten Schluck, merkte er wie bitter so ein Wein sein kann und stellte seinen Becher zurück. Sollen die anderen das Fass leertrinken, wenn sie mehr Spaß daran haben als er.
Die Sonne ging langsam unter und bald schon wurde es dunkel. Drei Matrosen fanden sich zusammen und trugen alte Seemannslieder vor. Manche Männer fingen an zu tanzen oder führten spielerisch Schwertkämpfe auf. Ein anderer erzählte von früher und wie er eine Meerjungfrau geküsst hat. Nur glaubte ihm keiner und alle mussten darüber herzhaft lachen. Als das erste Fass leer war, holte der Kapitän zur Freude aller ein zweites Fass aus seiner Kajüte. Die Männer langten kräftig zu und die Geschichten aus dem Leben der Matrosen wurden immer abenteuerlicher. Doch umso später es wurde, desto schlechter verstand Max, was die Männer erzählten. Sie fingen an zu lallen und konnten beinahe nicht mehr gerade aus laufen. Mittlerweile war ihm der Spaß vergangen. Einige der Männer waren mitten an Deck eingeschlafen. Da machte es sich Max zur Aufgabe, jeden zu seinem Schlafplatz zu bringen. Als die letzten unter größter Mühe in die Koje wankten, räumte Max das Deck auf. Er wollte noch ein wenig die Ruhe der Nacht genießen, bevor er sich schlafen legt. Am besten kletterte er dazu in den Ausguckposten. Ganz oben, hoch über dem Schiff, da fühlte sich Max immer frei. Hier konnte er an alles denken und niemand störte ihn. Manchmal waren ihn die Nächte an Bord sogar noch lieber als die Tage. In Ruhe betrachtete er die Sterne. Wie schön deutlich sie zu erkennen waren. Seit einiger Zeit kannte er sogar schon ein paar Sternbilder und konnte so feststellen, in welche Himmelsrichtung sie segelten. Doch im Moment stand die Cortissa still. Heute hatte jeder einen freien Tag. Eine feine Sache von dem Kapitän seinen Geburtstag zu feiern und uns alle auf Wein einzuladen, auch wenn er nur Saft und Wasser getrunken hatte.
Max beobachtete so gedankenverloren die Gestirne. Die Nacht war wolkenlos und es sollte wohl auch morgen ein schöner warmer Tag werden. Als Max aber seinen Blick über das dunkle Meer schweifen lies, entdeckte er in der Ferne ein Schiff.

Ein Schiff! Warum hatte sie es nicht schon vorher gesehen? Nicht aufregen, sagte er sich immer wieder. Der Kapitän hatte noch gesagt, sie segeln in sicheren Gewässern. Es kann sich also nicht um ein feindlich gesinntes Schiff handeln. Wir sind doch so nah am Hafen! Er holte ein kleines Fernrohr aus seiner Tasche und versuchte auszumachen, von welcher Flotte dieses Schiff kommen konnte. Max ärgerte sich. Es war zu dunkel, um die Fahne zu erkennen. Eigentlich müssten die bunten Farben der Flagge zu sehen sein. So weit war das Schiff nicht mehr entfernt. Oder heißt das, die Flagge hatte gar keine bunten Farben? Max linste durch sein Fernglas. Ach du Schreck! Er hatte Recht. Es handelte sich nicht um eine Länderflagge. Es war eindeutig eine schwarze Piratenflagge! Als Max bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte, fing er an sich die Lunge aus dem Hals zu schreien.
„PIRATEN! PIRATEN! Alle Mann an Deck!“ Sooft er das auch wiederholte, niemand kam aus dem Schiffsinnern heraus. Max‘ Herz raste, als er vom Ausguck herunterkletterte, um nachzusehen, wo die Mannschaft blieb. Als er die Tür zum Schlafraum öffnete, trat ihm ein miefiger Geruch entgegen. Es roch vor allem nach ausgedünstetem Alkohol und die Luft war so dick, man hätte sie schneiden können.
„ALLE AUFSTEHEN! PIRATEN!“, rief Max in die Schlafkammer hinein. Doch keiner der Männer bewegte sich. Max verstand die Welt nicht mehr. Konnten sie alle wirklich so tief schlafen? Er versuchte einige Crewmitglieder wachzurütteln. Doch bis auf ein leises Murren und ein „Max, geh weg, will schlafen“, bekam er nichts aus den Männern heraus.
Der Kapitän! Er musste den Kapitän holen. Eilig rannte er die Treppen hoch und nahm immer gleich zwei oder drei Stufen auf einmal, bis er endlich vor dessen Kajüte angekommen war. Energisch hämmerte er mit seinen Fäusten gegen die Tür. „Käpt‘n! KÄPT‘N! PIRATEN!“, rief er immer wieder. Doch in der Kajüte rührte sich nichts. Gar nichts geschah.
Max sah verängstigt zu, wie das Piratenschiff näher kam. Er sah es jetzt schon mit bloßen Augen. Was sollte er nur tun? In kurzer Zeit würden die Piraten die Cortissa kapern! Die Cortissa war sein großer Traum. Sie konnte doch nicht so einfach in die Hände der Piraten fallen! Er überlegte angestrengt. Auf die Hilfe der Mannschaft und des Kapitäns musste er wohl oder übel verzichten. Was konnte er ohne die Männer bewerkstelligen? Alleine wäre er niemals fähig, das Schiff zu steuern. Außerdem waren die Piraten schon so nah dran, sie würden die Cortissa viel zu leicht einholen. Mit Schweißperlen auf der Stirn lief Max auf dem Deck hin und her und sah sich dabei ganz genau um.
Da! Eine große Dose voller Schmierfett stand in der Ecke. Die Piraten würden versuchen an der Außenwand des Schiffes hochzuklettern. Wenn er das Schmierfett großzügig am Geländer und an der Außenwand verteilen würde, überlegte Max, hätten es die Piraten schon erheblich schwieriger mit dem Klettern. Dazu brauchte er noch schnell einen Lappen. Weit und breit war aber kein Lappen in Sicht. Es half nichts. Max riss sich ein großes Stück Stoff aus seinem Hemd heraus, tunkte es immer wieder in die Dose mit Schmierfett und verteilte es so schnell wie möglich am Rand der Cortissa. Zum Schluss rieb er damit noch Teile des Vorderdecks ein. Als er so über das Schiff hastete, kamen ihm wieder die lockeren Dielen in den Sinn, die eigentlich schon vor einigen Wochen repariert werden sollten. Doch in diesem Moment kamen sie ihm nur Recht! Mit Leichtigkeit riss er mehrere Löcher in das Deck. Auf dem Schiff war es so dunkel, die Piraten würden die Löcher niemals sehen. Manche davon waren so groß, sogar ein gestandener Mann passte komplett hindurch. Über diese großen Löcher spannte Max Fischernetze, die sobald sie sich mit Masse füllten, durch einen Flaschenzug nach oben gezogen und einige Meter über dem Boden schweben würden.
Nun musste Max sich vorsichtig auf dem Schiff bewegen, da er sonst in seine eigenen Fallen getappt wäre oder gar auf dem Schmierfett ausrutschen würde. Glücklicherweise kannte Max die Cortissa so gut, wie seine eigene Westentasche und sprang gekonnt über die Hindernissen. Nichtsdestotrotz würde all das nicht 20 oder mehr Piraten hindern, das Schiff zu übernehmen. Max‘ Gedanken rasten. Da erinnerte er sich an einen Nachmittag in der Schule, wo er einen wirklich gehässigen Mitschüler mit einer Steinschleuder in die Flucht geschlagen hatte. Die Steinschleuder hatte ihn damals davor bewahrt, auf dem Schulhof verprügelt zu werden. Das konnte er hier genauso gut machen. Aus der Küche holte sich Max den ganzen Besteckkasten und sortierte in Windeseile alle Löffel heraus. Damit kletterte er den Schiffsmast bis zum ersten Querbalken hoch. Mit einem langen Gummi spannte er die Löffel, die er mit kleinen Kieselsteinen belud, fest. Sollte er jetzt den Gummi lösen, würden alle Löffel ihre Ladung mit voller Wucht auf das Vorderdeck abladen. Erneut schaute Max auf das Meer und sah, wie die Piraten sogar schon ihre Beiboote herunterließen, mit denen sie einer nach dem anderen, heimlich zum Schiff segeln wollten.
Genau in dieser Schrecksekunde kam Max noch eine grandiose Idee. Er wusste bereits seit langem, Seemänner fürchteten nur eins noch mehr als einen Sturm auf dem Meer – Gespenster! Nicht umsonst gab es so viele Geschichten über den Klabautermann, einen Schiffsgeist der meist unsichtbar umher spukt. Max rannte abermals in die Küche und nahm sich die große weiße Schürze vom dicken Koch. Er wollte die Piraten mit einem selbstgebastelten Klabautermann verjagen. Das war seine Trumpfkarte, wenn alles andere nicht funktionieren sollte. Schnell wickelte er die Schürze um ein altes Kissen, schnitt die überstehenden Ecken ab und malte ein Gesicht darauf. Auf dem Weg nach oben stolperte er über einen Hut. Den hob er auf und setzte ihm den Klabautermann fest auf den Kopf. Hastig band er die Figur mit einem Tau an den Mast und verbarg sie hinter einem großen Segel, wo sie nicht gleich erkannt wurde. Mit dem langen Tau konnte Max fast perfekt den Flug des Klabautermannes über das Schiff steuern, indem er das dicke Seil hoch und runter zog. Max konnte sich gerade noch verstecken, da hörte er schon wie die Piraten in ihren Beibooten heran paddelten und sich über die Cortissa lustig machten.
„Arr, schaut euch das an Männer. Ruhig liegt das Schiff da und keine Menschenseele an Bord rechnet mit uns. Harhar!“
„Los wirf die Enterhaken! Im Handumdrehen haben wir das Schiffchen unter Kontrolle. Diese blöden schlafenden Matrosen. Glauben, sie segeln hier in sicheren Gewässern!“
„Ja, harhar, so blöd muss man erst einmal sein!“
Grölendes Gelächter übertönte fast das Klinken der Enterhaken, die sich am Geländer festkrallten. Doch Max spitzte seine Ohren und zählte mit: ein Haken, zwei Haken, drei Haken…
Am Ende konnte Max zwölf Enterhaken ausmachen! Oh je, das waren eine Menge Piraten! Wahrscheinlich würden sogar mehrere Piraten an einem Seil hochklettern. Max hoffte die ganze Zeit, das Schmierfett würde seine Wirkung nicht verfehlen.
Schon kurz darauf hörte er den ersten Piraten fluchen: „Was ist das für eine glitschige Außenwand? Arr! Meine Stiefel finden keinen Halt!“
„Ich komm nicht hoch!“, hörte Max das Gebrüll aus einer anderen Ecke.
Einer der Piraten lachte seine Kameraden aus: „Was seid ihr nur für Seemänner, schaut her, wie ich es mache!“ Doch sein Lachen hielt nicht lange an. Seine Hände rutschten am Außengeländer ab und er fiel mehrere Meter tief hinunter ins Wasser. Man hörte nur noch einen lauten Schrei, bevor ihn das Meer mit einem genüsslichen Schmatzen verschluckte. Die anderen Piraten staunten nicht schlecht und fluchten aus vollem Halse. Schließlich aber fanden sie eine Stelle, die nicht so gut eingefettet war und kletterten alle auf das Deck. Sogar der Pirat, der vorher ins Wasser gefallen war, erschien in seinen nassen Sachen an Bord und schaute sich grimmig um. „Was soll das hier? Was war das für Zeug am Geländer?“, schrie er mürrisch in die Runde. „Lasst uns mit dem Plündern anfangen!“
Es schien als wüsste jeder der Piraten genau, was er zu tun hatte und so setzten sie sich gleichzeitig in Bewegung. Es dauerte nicht lange, da rutschten die ersten Männer auf dem schmierigen Boden aus und fielen krachend hin. Ihre Versuche wieder aufzustehen, schlugen fehl. Max musste schmunzeln. Diese grimmigen Piraten sahen jetzt aus wie viel zu groß geratene Stehaufmännchen.
„Bewegt euch äußerst vorsichtig Männer!“, rief ein besonders furchteinflößender Pirat mit einer Augenklappe den anderen zu. Doch sein erster Schritt, ging in eine von Max‘ Fallen und so zappelte er schon Sekunden später in einem Netz hoch über dem Deck. Rot vor Wut brüllte er alle zusammen, sie sollten ihm doch schnellstmöglich helfen.
Die Piraten setzten sich in Gang, um ihn zu befreien, aber einer nach dem anderen rutschte auf dem Schmierfett aus oder verfing sich in einer Falle. Mittlerweile herrschte ein großes Durcheinander an Bord und die Piraten wurden in ihren wüsten Beschimpfungen immer lauter. Es dauerte also nicht lange, bis der Kapitän der Cortissa aufwachte und schlaftrunken an Oberdeck erschien.
„Männer was macht ihr denn für Lärm? Geht schlafen, wir haben morgen noch einen langen Tag vor uns!“, rief der Kapitän, da er erst gar nicht bemerkte, dass es sich nicht um seine Crew handelte.
Ein Schlachtruf der Piraten rüttelte den Kapitän schließlich wach.
„GREIFT IHN AN, MÄNNER!“, brüllte ein im Netz gefangener Seemann. Die wenigen Piraten, die noch nicht außer Gefecht gesetzt waren, zuckten ihre großen Säbel und rannten auf das Oberdeck zu.
Das war der perfekte Moment für seine Steinschleudern, dachte Max. So sprang er aus seinem Versteck, ohne dass ihn jemand sah und löste den Gummi. Kieselsteine und sogar ein paar Löffel flogen in hohem Bogen über das Deck und trafen die Piraten. Diese schrien vor Schmerzen auf. Sie wussten gar nicht, wie ihnen geschieht und wo plötzlich all die Löffel und Steine herkamen.
Jetzt war es Zeit für seine letzte Überraschung! Max huschte zu seinem Ausgangspunkt zurück und riss das Tau vom Mast ab. Der Klabautermann sauste im Sturzflug auf das Deck zu. Die Piraten wichen panisch vor Angst zurück. Max wusste mit dem Tau richtig umzugehen und er bewegen den Klabautermann über den Köpfen der Piraten wie eine Marionette. Mit großen Augen verfolgten alle den Flug des angeblichen Gespenstes. Im Dunkeln konnte niemand das Kopfkissen oder gar das Tau am Ende ausmachen. Alles in allem wirkte der Klabautermann beinahe echt. Max sah deshalb mit größtem Vergnügen, wie die Piraten ihre Köpfe vor Ehrfurcht senkten und anfingen zu bibbern. Aus den Augenwinkeln konnte er den Kapitän erkennen, der mit erfreutem Gesicht die vor Angst gelähmten Piraten beobachtete und in einem kurzen Augenblick ihm einen schelmischen Blick zuwarf. Der Kapitän hatte ihn also gesehen! Jedoch versuchte er nicht den Rest der Mannschaft zu holen, was wahrscheinlich bedeutete, er vertraute voll und ganz auf Max‘ Klabautermanngeschichte. Das verschaffte ihm ein Gefühl der Sicherheit und des Sieges. Beflügelt von dieser Empfindung, wollte er endgültig die Piraten vom Schiff vertreiben und fing an mit einer tiefen Männerstimme zu sprechen.
„Ich bin der Klabautermann dieses Schiffes! Die Cortissa steht unter meinem Schutz. Solltet ihr nicht sofort verschwinden, kann ich für nichts mehr garantieren!“
„Das geht hier nicht mit rechten Dingen zu!“, rief einer der Seemänner, der kreidebleich war.
„Wir sollten hier schleunigst weg!“, stimmte ein anderer mit weit aufgerissenen Augen ein.
Mit großem Staunen beobachtete Max wie die Piraten schreckhaft zurückwichen und fluchtartig über das Geländer ins Meer sprangen. Nur die drei Piraten, die in den Netzen gefangen waren, konnten nicht hinterher und zitterten vor Angst. „Tut uns nichts, Klabautermann! Wir können hier nicht raus!“, schrien sie dem Gespenst zu und schlotterten dabei am ganzen Leib.
Während Max das Kopfkissen über dem Deck locker hin- und herschwenkte, gesellte sich der Kapitän zu ihm.
„Max, Max, Max! Was für ein guter Matrose du bist!“, sagte er in einem höchst zufriedenen Ton und legte den rechten Arm um ihn. „Noch nie habe ich so einen tapferen, tüchtigen und klugen jungen Mann wie dich kennen gelernt. Ohne eine einzige Waffe anzurühren, hast du ganz alleine die Piraten in die Flucht geschlagen!“
Max‘ Brust schwoll vor Stolz an und er wurde sogar ein bisschen rot.
„Lass den armen Klabautermann los und geh in die Kajüte, da kannst du dich ein wenig von der anstrengenden Nacht erholen“, riet ihm der Kapitän. Zunächst wollte Max dagegen protestieren. Er wollte noch nicht schlafen gehen, aber nur wenige Sekunden später brach eine tiefe Erschöpfung und Müdigkeit über ihn hinein. Die Cortissa war wieder in Sicherheit und nichts sprach dagegen, sich jetzt schlafen zu legen.
„Käpt‘n, was machen wir mit den drei gefangenen Piraten?“, fragte Max, während er ein Gähnen unterdrückte.
„Morgen werden wir sie an Land gehen lassen, doch bis dahin sind sie in ihren Netzen gut aufgehoben. Wirklich wunderbare Fallen, die du da gebaut hast mein Junge!“, dabei klopfte er Max dreimal kräftig auf die Schulter. „Und nun geh schon und schlaf den Schlaf der Gerechten!“
Mit diesen Worten verließ Max das Deck und ging in die Schlafkammer. Ohne sich umzuziehen, legte er sich auf seine harte Pritsche, welche ihm bis heute noch nie so weich vorkam. Gleich nachdem er seine Augen geschlossen hatte, fiel er in einen traumlosen Schlaf.

Erst spät am Nachmittag wachte Max wieder auf. Er wunderte sich warum alle Matrosen schon bei der Arbeit waren und ob er verschlafen hatte. Doch noch bevor er aufstand, erinnerte er sich an die Ereignisse der letzten Nacht.
Schnell zog er ein frisches Hemd an und raste an das Oberdeck. Als ihn einer der Matrosen sah, lies dieser sofort seine Arbeit stehen und fing ganz laut an seinen Namen zu rufen. Die anderen stimmten mit ein und schon bald konnte man einen kräftigen Männerchor weit über das Schiff hinaus seinen Namen rufen hören. Max wusste gar nicht, wie ihm geschah und bevor er auch nur ein Wort an die Männer richten konnte, hoben sie ihn hoch in die Luft.
„Der Held des Tages!“, stimmte der Kapitän mit ein. „Schön! Du bist endlich aufgewacht! In wenigen Augenblicken laufen wir in unseren Zielhafen ein. Dort werden wir die örtliche Gendarmerie bitten, sich um die Piraten zu kümmern und unsere erfolgreiche Schifffahrt ausklingen lassen.“
Als die Sonne langsam unterging erreichten sie den Hafen, wo die Cortissa zwar in kürzester Zeit entladen, jedoch nicht mit neuen Waren beluden wurde. Ein Gemurmel ging durch die Reihen der Matrosen, bis das Schiffsoberhaupt das Wort ergriff: „Männer findet euch auf dem Oberdeck ein! Ich muss euch eine wichtige Neuigkeit mitteilen.“ Der Kapitän räusperte sich, bis sich die Männer wie am ersten Tag stramm an Deck stellten. „Wir sind in unserem Zielhafen angelangt. Für mich war es von Anfang an klar, ich werde die Cortissa nicht mehr in die Heimat begleiten.“
Die Matrosen staunten über diese Worte. Wie konnte ein Kapitän sein Schiff und seine Crew alleine zurück lassen?
„Ruhe bitte! Beruhigt euch doch Männer. Wie ihr wisst bin ich schon sehr alt und ich möchte meinem Körper die Strapazen einer langen Rückreise ersparen. Doch ohne ein Schiffsoberhaupt kann ich die Cortissa nicht in See stechen lassen. Da ich aber leider nicht mit Kindern gesegnet bin, habe ich gehofft, unter euch einen würdigen Nachfolger für mich zu finden!“
Waren die Matrosen am Anfang noch ausgelassen und redselig, da sie sich seit langem auf den Tag an Land freuten, hätte man nun eine Stecknadel fallen gehört. Die Spannung auf dem Schiff war deutlich spürbar und alle warteten auf die nächsten Worte des Kapitäns.
„Ihr habt zusammen ganz tolle Arbeit geleistet und jeder konnte sich auf jeden verlassen! Doch einer von euch ist mir besonders aufgefallen.“ Dabei guckte er in die Runde. Seine Augen schweiften von Matrose zu Matrose, bis sie bei Max stehen blieben. „Max komm bitte an meine Seite.“
Max fühlte sich wie gelähmt. Schwerfällig lief er zum Kapitän und merkte mit zunehmenden Unbehagen, wie die Crew jeden seiner Schritte beobachtete. Sollte er der Nachfolger werden? Das konnte doch nicht sein!
„Mein Junge! Komm schon näher, sonst bist du doch auch nicht so schüchtern! Ich wollte die Gelegenheit nutzen und vor versammelter Mannschaft meine Dankbarkeit für deine Taten in der letzten Nacht ausdrücken! Wir verdanken dir unser aller Leben. Noch nie habe ich so einen tapferen jungen Matrosen an Bord gehabt. Das ist einmalig und daher lieber Max, möchte ich dich zum Kapitän der Cortissa ernennen.“
Der alte Mann griff in die Innentasche seines roten Anzuges und holte eine Papierrolle hervor.
„Das sind die Papiere, die dich zum Inhaber dieses wunderbaren Schiffes machen.“
Max konnte nicht fassen, wie ihm geschieht. Er nahm die Rolle entgegen, bedankte sich mit einem festen, viel zu langem Handschlag und hörte wie die Matrosen anerkennend klatschten.
„Somit“, sagte der alte Mann, welcher kein Schiffsoberhaupt mehr war, „verabschiede ich mich und wünsche der Cortissa noch viele wunderbare Jahre auf den Weltmeeren mit dem jüngsten Kapitän in der Geschichte!“
Max schaute seinem ehemaligen Kapitän beim Verlassen des Schiffes hinterher. Doch bevor dieser an Land ging, drehte er sich noch einmal um.
„Ach Kapitän Max, bevor ich es vergesse: Der gehört jetzt auch dir. Hier fang!“
Noch ehe sich Max versah, flog der prächtige große Kapitänshut in hohen Bogen auf ihn zu.
Er fing ihn mit einem Sprung auf. Vorsichtig setzte er ihn auf den Kopf und musste zu seiner Überraschung feststellen, dass er fast wie angegossen saß.
Alle Männer klatschten begeistert in die Hände und Max strahlte bis über beide Ohren.
„Männer“, sagte er in einem ernsten erwachsenen Tonfall, den er von sich selbst noch gar nicht kannte, „als meine erste Amtshandlung befehle ich euch: Holt mir neue Waren an Bord! Wir wollen voll beladen wieder in der Heimat ankommen! Und danach könnt ihr die Nacht an Land genießen! Gebt euren Lohn großzügig aus. Ich will euch erst morgen früh wieder sehen, dann treten wir die Rückreise an!“
Ein Jubelschrei brach aus und innerhalb von Minuten war kein einziger Matrose mehr an Bord. Max aber wollte die Cortissa nicht verlassen. Mit der Papierrolle in der Hand und dem wunderbaren Hut auf den Kopf lehnte er sich ans Geländer und betrachtete die untergehende Sonne im Meer.
Die letzten Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht und er konnte nicht aufhören zu grinsen.
Die Cortissa war jetzt sein Schiff! Er war so glücklich und hätte die ganze Welt umarmen können.
Das alles hätte er sich nie träumen lassen! Oder doch?!


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Beschreibung des Autors zu "Wer hat Angst vor dem Klabautermann? Ein Seemannstraum wird wahr"

Die Geschichte handelt von einem Jungen auf hoher See, dessen Traum auf abenteuerliche Weise in Erfüllung geht.
Auf meinem Blog kann man sich die Geschichte auch für den Kindle und andere Reader runterladen: http://reichangeschichten.de/wer-hat-angst-vor-dem-klabautermann/

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