Der Legende zufolge ist einst, vor vielen unzähligen Jahren, ein heller Stern auf die Erde gefallen, der einige Löwen, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befanden, mit Sternenstaub überzogen hat. Seither gibt es weiße Löwen, die die Weisheit der Sterne in sich tragen. Sie sind Glücksboten und Friedensbringer für uns Menschen.
Die alten Völker wussten das und schützten und ehrten diese wunderschönen Tiere. Doch die Zeiten wandelten sich, Habgier und Profitsucht wurden immer stärker. Die Menschen vergaßen die alten Legenden und die Bedeutung der weißen Löwen. Sie jagten sie, bis nur noch wenige von ihnen übrig waren.
Doch es lag Hoffnung in der Erde begraben, denn…

Vor langer Zeit streifte ein stolzes Rudel durch ein fernes Gebiet in Südafrika, das Timbavati hieß. Das Rudel bestand aus einer wunderschönen Löwin, namens Mia, einem prachtvollen Löwen mit einer langen weiß schimmernden Mähne und vier weiteren Junglöwen. Der Anführer dieses Rudels, das war aber jener große eindrucksvolle Löwe, dessen Mähne im Glanz der Sonne so hell leuchtete, als hätten sich unzählige Sterne darin verfangen. Sein Name war Thor.
Thor war ein strenger und doch sehr gütiger Anführer. Er bewachte sein Rudel mit aufmerksamem Blick und lächelte in sich hinein, wenn einige Junglöwen ausgelassen miteinander tobten und ihre Kräfte erprobten.
In letzter Zeit jedoch wurden seine Augen trauriger. Er wurde nachdenklicher und sein Gesicht schien voller Sorge zu sein. Mia bemerkte dies, doch ließ sie Thor die Zeit, um von ganz allein von seinen Sorgen zu erzählen. Eines Abends, als Thor und Mia nebeneinander unter einem Baum lagen und schweigend den Junglöwen beim Spielen zusahen, öffnete Thor sein Herz und erzählte, was ihn schon lange beschäftigte.
"Mein Herz ist voller Trauer", begann er mit seiner tiefen und sanften Stimme zu sprechen. "Der Wind, der die Stimmen unserer Ahnen trägt, hat mir eine Botschaft gebracht." Thor machte eine Pause und sah Mia direkt in die Augen. "Wir werden dieses Land, unsere Heimat, verlassen müssen. Und es wird sehr bald sein."
"Aber wohin willst Du uns führen? fragte Mia erschrocken. "Dies hier ist unser Zuhause. Hier gehören wir hin!" Besorgt blickte sie zu den Junglöwen und dann wieder zurück zu Thor. Sie wusste, dass es keinen Sinn machte, mit Thor zu diskutieren. Er beschloss nie etwas, ohne vorher alle Möglichkeiten abgesucht zu haben.
"Wir werden zu unseren Urvätern zurückreisen, fort von dieser Welt, unsichtbar für die Menschen, die nach uns jagen. Gleich morgen bei Sonnenaufgang werden wir die Reise antreten. Dies ist unsere letzte Nacht hier." Traurig nahm er einen tiefen Atemzug.
"Warum?", fragte Mia, und es war nicht mehr als ein Flüstern, das zu hören war.
Nachdenklich blickte Thor in die Ferne. "Es werden zu viele kommen, die unsere Botschaft nicht verstehen. Sie werden die Geheimnisse, die in unseren Augen zu lesen sind, mit Waffen zerstören. Sie werden uns verraten, verkaufen und uns unserer Freiheit berauben. Sie werden uns unser Leben nehmen und mit uns die alte Legende, die in uns ruht, dem Tode weihen." Bedrückt sah er zu Mia. "Das darf ich nicht zulassen, Unser Geheimnis muss weiterleben. Zum Wohle aller. Unser Rückzug dient dem Schutz unseres Erbes. Das verstehst Du doch."
Mia nickte schwach. "Natürlich", sagte sie. "Nur hatte ich gehofft, dass uns dieser Tag nicht so schnell begegnen würde. Ich hatte gehofft, dass die, die unsere Botschaft entschlüsseln, an Kraft gewinnen würden."
"Es ist noch nichts verloren, Mia. Auch das hat mir der Wind erzählt. Doch zunächst muss die Welt durch sehr schwere und rauhe Zeiten. Es wird sehr viele Verluste und sehr viele Tränen geben. Doch aus diesen Tränen wird auch etwas Neues entstehen. Hoffnung. Auch für uns."
Mia sah, wie sich Thors Augen mit Tränen füllten - etwas, was sie vorher noch nie an ihm gesehen hatte. Sie rückte nah an ihn heran und schmiegte ihr Gesicht in seine prächtige Mähne.
"Dies Mia", sagteThor mit fester Stimme, "Dies sind Tränen der Hoffnung und des Glaubens. Sieh her!" Behutsam rückte er von Mia ab, damit sie in seine Augen sehen konnte. Fasziniert sah sie, wie aus Thors letzter Träne ein großer wunderschöner Kristall entstand, der lautlos auf die erwärmte Erde Timbavatis fiel.
"Dies ist mein Geschenk für die Menschen und gleichzeitig auch meine Hoffnung"; sagte Thor, während er behutsam mit seiner großen Pranke eine kleine Mulde in die Erde grub und den Kristall dort hinein schob. Aufmerksam sah Mia ihm zu, wie er den Kristall nun mit der roten Erde zudeckte, so dass nichts mehr von ihm zu sehen war.
"Eines Tages", sagte Thor, während er weiter Erde über den Kristall gab. "Eines Tages wird die Seele des Menschen neu erwachen. Die Menschen werden erkennen, wie falsch sie gehandelt haben und erneut nach uns suchen. Doch nicht, um uns zu jagen, wie es heute der Fall ist. Sondern um unserer Botschaft zu lauschen, zu verstehen und ein neues Leben zu beginnen."
Thor sah auf den Fleck Erde, unter dem der Kristall begraben war. "Eines Tages wird ein besonderer Mensch diesen Kristall finden. Und während er ihn in seinen Händen hält, werde ich seinem Herzen meine Geschichte erzählen. Das wird die Zeit unserer Rückkehr sein - eine Zeit voller Hoffnung für uns alle."
Mia verstand und legte sich nah zu Thor. Gemeinsam betrachteten sie zum letzten Mal die Schönheit ihres Landes.
Als die Sonne die Erde Timbavatis küsste, sah man in weiter Ferne ein Rudel weißer Löwen in die Unendlichkeit verschwinden. Das Brüllen des weißen Löwen ertönte zum letzten Mal und ließ die Erde erschüttern.

Es sollte eine lange Zeit vergehen, bis ein kleiner Junge, Lenny, diesen Kristall finden und an sein Herz halten sollte. Und während er Thors Geschenk fest an seine kleine Brust drückte, hörte er die sanfte, tiefe Stimme des weisen Löwen, die zu ihm sprach:“In Deinen Händen ruht der Stern, der Dich zu den weißen Löwen von Timbavati führen wird. Weiße Löwen sind Sternenkinder des Himmels. Suche sie und beschütze sie. Denn Du hörst ihre Stimmen und kannst in den Menschen die alte Legende wieder zum Leben erwecken.“

Für Lenny, so klein er damals auch gewesen sein mag, war das ein Weckruf, ein Signal, das ihn seither begleiten sollte. Er begann alles über die weißen Löwen zu sammeln. Später, als er älter wurde, studierte er die alten Legenden und Sagen. Und es war vom Schicksal vorbestimmt, dass er eines Tages ein Löwenjunges retten sollte, das von seiner Mutter verlassen wurde.
Es war schneeweiß. Und Lenny gab ihm den Namen „Thor“.
Diese Freundschaft zwischen den beiden ist so außergewöhnlich, wie die Legende um den weißen Löwen selbst…und ebenso real.


© Anne Sioulis


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Beschreibung des Autors zu "Die Träne der Weißen Löwen"

Eine kleine Kindergeschichte über die alte Sage der Weissen Löwen von Timbavati.




Kommentare zu "Die Träne der Weißen Löwen"

Re: Die Träne der Weißen Löwen

Autor: Divagirl   Datum: 13.01.2014 19:47 Uhr

Kommentar: Schön, ich mag Katzen und somit auch Löwen. Und die Wahrheit ist unverkennbar in diesem Text, das wir die Tiere nicht jagen und töten sollte, sondern ihnen zuhören und versuchen zu verstehen was sie von uns wollen. Denk ich.

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