Tante Mary winkte schon von der Veranda aus, als ich aus meinem Wagen stieg. Ich hatte sie wohl seit sicher 10 Jahren nicht mehr gesehen. Sie war in der Zeit kaum gealtert oder zumindest konnte sie es gut verstecken. Als Kind war ich oft bei ihr, da meine Eltern ständig auf irgendwelchen Geschäftsreisen waren. Tante Mary war kinderlos und ihr Mann hatte sie früh verlassen, sie heiratete nicht wieder, behielt auch den Namen und lebte so von den großzügigen Alimenten, welche ihr Mann mit einem Konzern verdiente. Godhot Services hieß die Firma, benannt nach der Familie, irgendein internationaler Dienstleister.
Tante Mary war reich, aber sie zeigte es nicht. Sie trug immer schlichte, einfache Klamotten und besaß nur wenig Schmuck. Das Haus war großzügig für eine Person, aber sie hätte sich ohne Probleme eine Villa leisten können.
Die einzige Leidenschaft, die sie hatte, war es Puppen zu sammeln. Diese scheußlichen, scheußlichen Puppen. Als Kind hatte ich immer Angst davor und traute mich nachts nicht zur Toilette. Zwischen dem Gästezimmer und der Toilette befand sich das Wohnzimmer, in dem die Puppen auf einer riesigen Vorrichtung saßen und blind ins Leere starrten. Es waren damals schon über fünfzig Puppen und jedes Jahr wurden es mehr. Vielleicht waren es nun weit über hundert, ich war gespannt.
Grund meines Besuchs bei Tante Mary war nur indirekt ein familiärer. Ich brauchte einen Schlafplatz, da ich auf ein spezielles Seminar gehen würde. Es befand sich 12 Stunden von meiner Heimat entfernt und das Häuschen meiner Tante lag fast in der Mitte, 12 Stunden fahren, das würde ich nicht schaffen, 6 waren schon schlimm genug. Morgen würde ich hinfahren, dann dort einen Tag in einem Hotel übernachten und dann wieder zurück hierher und dann ganz nach Hause. Ich studiere in einem fortgeschrittenen Semester Medizin und im Rahmen des Studiums wurde mir eine Vortragsreihe in dieser Stadt empfohlen. Es ging um seltene Krankheiten und Anomalien, ich war also eher wegen des Interesses, als wegen der praktischen Anwendung dort. Ich wollte ein Landarzt werden, in irgendeinem Dorf, dreißig, vierzig Jahre vorbeiziehen lassen und dann den Lebensabend genießen. Alles mit der Ruhe war die Devise. Das Stadtleben bekam mir nicht, ich glaube wirklich nicht, dass der Mensch dafür geschaffen ist.
Ich zog meinen kleinen Koffer von der Rückbank und schritt auf meine Tante zu. »Matthias, schön dich zu sehen«, sagte sie und umarmte mich herzlich. Sie lächelte, fragte wie die Reise war. währendem wir zusammen reingingen. Der Flur grenzte direkt an ihr Schlafzimmer, an die Toilette und an das Wohnzimmer, bei dem das Gästezimmer lag. Ein Blick ins Wohnzimmer verriet mir, dass die Puppen mittlerweile den gesamten Raum bevölkerten. Überall saßen sie, auf den Tischen, auf den Stühlen, überall. Und ihr »Altar« stand immer noch an gleicher Stelle, bevölkert von einem Puppenstaat.
Und ganz oben saß ihr König, in einem samtbezogenen kleinen Sesselchen. Lukas. Die hässlichste aller Puppen. Tante Mary hatte sie schon ewig, es war so ziemlich die erste und sie saß in einer seltsam gekrümmten Position, untypisch im Vergleich zu den restlichen Puppen. Tante Mary sammelte vor allem Puppen die Babys ähnelten, mein Vater hatte mal erwähnt, dass es vielleicht an ihrer Kinderlosigkeit läge, woraufhin er allerdings nur einen bösen Blick von meiner Mutter erntete.
Die Puppe war schon da, als Tante Mary und ihr Mann, Konrad hieß er, noch zusammen waren und war somit wahrscheinlich nicht nur eine der ältesten, sondern sicher die Älteste.
Tante Mary brachte mich in das Gästezimmer, das aufmerksam hergerichtet worden war. Hier waren keine Puppen, alle waren sie im Wohnzimmer aufgestellt worden, wahrscheinlich einfach nur um sicherzugehen, dass kein Gast sie kaputt machen könnte.
Ich legte meine Sachen ab und aß mit Tante Mary nur noch etwas Abendbrot, da es schon spät war und legte mich danach ins Bett. Nach ein paar Stunden Schlaf, stand ich um kurz vor acht Uhr wieder auf. Ich müsste in zwei Stunden den Weg zur Vortragsreihe antreten, würde dort für zwei Tage bleiben und dann hier wieder stoppen, bevor ich zurückfahren würde.
Ich hatte meiner Tante eine Puppe gekauft als Dankeschön, dass sie mich hier schlafen ließ. Es war eine extrem wertvolle Puppe, ein Sammlerstück. Normalerweise könnte ich mir so etwas nicht leisten, aber das Fachgeschäft bei uns in der Stadt musste zu machen und gab die Puppen weg, die nicht einmal mehr annähernd den Einkaufspreis rechtfertigen konnten. Man erzählte sich, der Verkäufer hatte beim Pokerspielen eine Pechsträhne gehabt und würde nun irgendeinem zwielichtigen Kerl Geld schulden. Was die Leute immer so erzählen. Wahrscheinlich war einfach nur der Laden pleite gegangen, weil kaum jemand noch Puppen sammelte. Jedenfalls bekam ich für gerade einmal 30 Euro eine ganz besondere Puppe. Handgefertigt, aus einer limitierten Serie. Ebenfalls eine männliche Kleinkindpuppe, die waren besonders selten. In einem hölzernen Kiste mit Glaseinsatz lag sie auf einem samtenem Untergrund. Das würde Tante Mary gefallen, da war ich mir sicher. Ich legte es auf das Bett und ging dann raus zu Tante Mary, die schon am Tisch saß und Kaffee trank. »Tante Mary, kannst du kurz mitkommen.« »Natürlich, was ist denn los?« »Nichts, komm einfach kurz mit.« Tante Mary folgte mir ins Zimmer und erblickte die Puppe. »Matthias... Matthias, die Puppe, sie ist wunderschön.« »Sie ist handgefertigt, limitiert.« »Ich kenne diese Puppe, ach Gottchen, sie muss ein Vermögen gekostet haben. Ach Matthias, vielen, vielen Dank dafür.«
Sie lächelte und schien überglücklich zu sein. Sie packte die Puppe aus der Kiste und zog sie heraus. »Wir werden ein ganz besonderes Plätzchen dafür finden.« Ich folgte ihr langsam ins Wohnzimmer und sah zu wie Tante Mary Platz bei den anderen Puppen schaffte. »Das ist jetzt sicher eins meiner wertvollsten Stücke«, sagte sie während sie gerade ein paar Puppen näher zusammenrückte und den Platz unter der hässlichen Puppe - Lukas - freimachte. »Ich dachte einfach, ich kauf sie dir, damit du endlich die hässliche Puppe da oben wegräumen kannst, habe extra darauf geachtet, gleiche Haarfarbe, ähnlicher Teint.« »Welche meinst du?«, fragte Tante Mary und ihr Lächeln erstarb. »Ich meine Lukas.« »Lukas? Ich kann Lukas doch nicht weggeben. Ich habe ihn doch schon so lange«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Ach Tante Mary, wirklich?«
»Ja, wirklich. Ich kann Lukas nicht weggeben. Auf keinen Fall.« »Diese Puppe ist so hässlich, sie gehört auf den Müll, sie verschandelt deine ganze Sammlung«, versuchte ich sie zu überzeugen. Für einen Moment war es ganz ruhig und dann sagte sie, leise aber bestimmt: »Scher dich raus aus meinem Haus.« »Tante Mary, aber...« »SCHER DICH RAUS VERDAMMT!«, schrie sie und warf die Puppe, die ich ihr geschenkt hatte, mit einer solchen Wucht auf den Boden, dass der Kopf vom Körper getrennt wurde und durch das Zimmer geschleudert wurde.
Ich nahm hastig meinen Koffer und verließ das Haus so schnell es ging. So wütend hatte ich meine Tante noch nie erlebt.
Bevor ich den Motor meines Autos startete, schaute ich noch einmal über meine Schulter, zurück zum Haus, aber meine Tante konnte ich nirgendwo erkennen. Was sie wohl so sehr verärgert hatte? Ich verstand es nicht, war sogar regelrecht wütend über diese Behandlung. Nachdem viele böse Gedanken meinen Kopf passiert hatten, zwang ich mich zu beruhigen. Ich entschied mich, nach dem Mediziner-Vortragsreihe zu ihr zu fahren und mich zu entschuldigen. Vielleicht hing sie an Lukas so sehr, weil sie noch aus der Zeit stammte, als sie mit ihrem Mann zusammen war oder vielleicht war es ein ganz besonderes Stück, welches von unschätzbarem Wert war. Ich kannte mich schließlich mit dem Sammeln von Puppen nicht im Geringsten aus.
Ich hatte sie beleidigt, mehr noch, tief verletzt, und auch wenn ich es nicht nachvollziehen konnte, wollte ich mich unbedingt dafür entschuldigen.
Die Fahrt zu dem Gebäude in dem die Mediziner-Vortragsreihe stattfinden würde, war noch mal weitere 6 Stunden entfernt und sollte gegen 16 Uhr beginnen. Nicht nur das schlechte Gewissen ließ mich den festen Entschluss fassen mich bei ihr, wenn ich zurückkäme zu entschuldigen, auch der Umstand, dass ich mir ein Hotel suchen müsste oder dazu gezwungen wäre, 12 Stunden am Stück zu fahren.
Die Fahrt ging langsam vorüber und das Fahren strengte mich deutlich an. Der Zug oder irgendein Reisebus wäre sicher die bessere Wahl gewesen, aber sei's drum. Glücklicherweise fand ich in der Stadt schnell das Gebäude in dem die Vortragsreihe stattfand. Ich quetschte mich noch in eine Parklücke und lief zu Fuß weiter. Ich war genau 15 Minuten vor Beginn der Vorträge angekommen. Der Einlass lief schon seit einer Dreiviertelstunde, aber das machte mir nichts aus.
Beim Eingang stand ein gelangweilter aussehender Mann. »Guten Tag, haben Sie die Papiere dabei?«
Man brauchte einen besonderen Wisch um teilnehmen zu dürfen, entweder man war anerkannter Mediziner irgendwo, oder hatte von einem Professor etwas in der Art ausgestellt bekommen.
Ich nickte und fummelte an meiner Tasche herum und zog ihn heraus und drückte ihn dem Mann in die Hand. »Vielen Dank.« Er sah sich das Papier nicht mal an und gab es mir wieder. Ich hätte ihm also auch irgendeinen Gemeindebrief oder ähnliches in die Hand drücken können.
Heute wäre ein Vortrag über ALS, über seltene Krebsarten und neuartige Behandlungsmöglichkeiten sowie ein paar weitere kürzere Vorträge über andere extrem seltene Krankheiten, teilweise Einzelfälle. Morgen wären es wieder spezielle Krebsarten, teilweise historische Untersuchungen von Einzelfällen aus der Geschichte. Diese interessierten mich besonders. In der Vorhalle standen die vielen Mediziner und redeten miteinander, manche liefen umher, als endlich die Türen geöffnet wurden und die Leute langsam hereingingen.
Ich fand glücklicherweise einen Platz von dem aus ich gut sehen konnte. Nur wenige Minuten später kam auch schon der erste Redner und begrüßte uns: »Willkommen bei unserer kleinen zweitägigen Vortragsreihe über seltene Krankheiten, neue Behandlungsmöglichkeiten und weiteres. Wie sie sicherlich wissen...« Das Vorwort zu den Vorträgen zog sich etwas, sicherlich eine halbe Stunde, als dann die ersten Krebsarten behandelt wurden. Der ALS Vortrag wurde abgesagt. Es ging nun vor allem um Hirntumorarten und deren Behandlung, die noch weitgehend unerforscht waren. Zu jedem Vortrag gab es auch ein paar Beispiele, die direkt namentlich genannt und mit Bildern veranschaulicht wurden.
Als wir zu dem Vortrag über »Lithopädion in den letzten hundert Jahren« kamen, war ich gespannt. Ich hatte das Thema vor Jahren irgendwo einmal gehört, aber konnte mich nie näher damit beschäftigen. Die letzten Sätze des Sprechers ließen mir das Blut in den Adern gefrieren und regungslos starrte ich abwechselnd auf den Redner und die gezeigten Bilder.
»Bekannte Fälle von einem Lithopädion sind extrem selten. Momentan sind zwei Fälle bekannt von lebenden... Müttern, dieser Steinkinder, also Kindern, die in der Gebärmutter der Mutter versteinern. Da ist einmal Margaret Smith, deren Steinkind 1950 von einem Ärzteteam operativ entfernt wurde und die das Steinkind in die Obhut der Forschung gegeben hatte. Sie ist mittlerweile bald 90 Jahre alt. Der andere Fall zeigt wie seltsam die Rechtslage zu der ganzen Thematik ist. Die nächste Frau bekam ihr Steinkind 1982 operativ entfernt, nahm es nach einem Rechtsstreit mit nach Hause und ließ es von einem Puppenmacher in Zusammenarbeit mit einem Steinmetz bearbeiten, anmalen und zu einer Puppe werden lassen. Es steht nun immer noch bei Frau Mary Godhot zu Hause. Lukas heißt die Puppe.« Kopfschüttelnd drückte der Mann ein Bild bei der Präsentation weiter und zeigte die Puppe. In diesem Moment stand ich auf und verließ das Gebäude, während mein Herz aus dem Takt zu schlafen schien. Ich entschied mich, mich bei Tante Mary nicht zu entschuldigen, mich allgemein nie wieder zu melden. Zu verstörend waren die Bilder, zu verstörend der Gedanke.


© Daniel Spieker


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