Es ist Nicos großer Tag. Endlich würde er die Rache bekommen, auf die er schon so lange wartet. Dafür, wie sie ihn ansehen, dafür, wie sie über ihn sprechen, für die Sticheleien, für die Übergriffe, für alles. Den Schlüssel für den Waffenschrank seines Großvaters hat er vorgestern geklaut. Nico weiß, dass es nicht Jagdsaison ist, es wird dem Großvater sowieso nicht auffallen, wenn das Jagdgewehr fehlt.
Er frühstückt normal mit seiner Mutter, das ist ihr wichtig seit Vater tot ist. Abendessen und Frühstück. Sie reden nicht viel. Es ist sein großer Tag, alles andere ist irrelevant. Die Mutter erzählt von der Arbeit, er hört nur halb hin und löffelt sein Müsli. Danach geht er hoch, duscht und zieht sich an, holt aus dem Schrank die Tüte mit dem Gewehr, oben drauf sind verschiedene Kunstmaterialien, nur falls die Mutter fragt, warum er so eine Tüte mit zur Schule nimmt. Sie fragt nicht.
Er läuft zur Schule, sie ist keine zehn Minuten von ihm entfernt. Er hört laut Musik und denkt nur noch an später, an das Ende. Er kommt bei der Schule an und schließt die Tüte in seinen Spind ein. Er beruhigt sich etwas, schaut sich um. Verschlafene Schüler, die über irgendwas reden, vielleicht über ihn, auf jeden Fall zum letzten Mal. Sein Plan ist einfach – er will warten, bis die große Pause ist, dann sein Gewehr holen und rausgehen und alle Idioten erledigen. Danach die Lehrer im Lehrerzimmer. Weiter weiß er nicht. Darüber denkt er nicht nach. Er weiß nur, dass er schnell sein muss.
Er geht in das Klassenzimmer, letzte Reihe, allein wie immer, und wenig später erscheint Herr Köhler pünktlich vor der Klasse. Nico kann sich nicht konzentrieren. Er spürt wie seine Hände schwitzen. Aber niemand bemerkt ihn, niemand beachtet ihn. Herr Köhler redet über irgendwelche Stochastikaufgaben und Nico ist nur froh, dass er ihn nicht drannimmt. Unter seinem Tisch ballt Nico seine Hände zu Fäusten, irgendwas, um dem Druck standzuhalten. Sein Herz hämmert, so hat er sich noch nie gefühlt. Die Uhr an der Wand bewegt sich langsam, er will früher loslegen, aber er weiß, dass die große Pause, die beste Zeit ist. Sein Plan ist perfekt, das weiß er, er hat Monate lang darüber nachgedacht. Schließlich ertönt die Klingel für die Fünfminutenpause. Alle gehen raus, gehen auf Toilette und so weiter, aber er bleibt sitzen, starrt auf den leeren Tisch vor sich, verfolgt die Kratzer mit seinen Augen, irgendetwas, um sich abzulenken. Die Leute kommen zurück, der Unterricht geht weiter. Er hat nicht mal einen Block oder auch nur einen Kugelschreiber dabei und niemandem fällt es auf. Er ist nur der Unbekannte, das ist der beste Fall, sonst ist er Abschaum. Aber morgen würden die Zeitungen voll sein und nicht nur die regionalen, sondern überall. Er denkt über die Schlagzeilen nach, denkt daran, wie seine Mutter und der Rest der Familie reagieren wird. Er fragt sich, ob seine Mutter traurig sein wird. Ob sie weinen wird. Doch dann schreckt er auf, aber nicht nur er, sondern alle. Schüsse. Schreie. Und Nico braucht einen Augenblick, um zu realisieren, was gerade passiert. Und er weint. Die Leute rennen aus dem Klassenzimmer, aber er sitzt einfach nur und weint und schließlich kommt ein anderer Junge in das Zimmer, eine Pistole in der Hand und starrt den weinenden Nico an. Er kennt ihn flüchtig. Zwei Klassen unter ihm, sein ganzes Gesicht ist von Akne zerfressen.
Nico will schreien, aber kein Ton kommt aus seiner Kehle. Er will schreien, wegen dieser Ungerechtigkeit, aber er sitzt stumm da, starr, weint und sieht zu, wie der Junge seine Waffe hebt und abdrückt. Schmerz. Dann ist alles dunkel.


© Daniel Spieker


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