Liebe Studierende und Freunde des Längs-, Quer- und Diagonaldenkens,

immer wieder fällt mir auf, dass wichtige Aussagen, beispielsweise Forschungsergebnisse oder Sachinformationen in teilweise sehr klarer Form zum Ausdruck gebracht werden können.

Aber in vielen Fällen – so scheint es – werden diese Aussage eingehüllt in einen Wortnebel, der zur Erhärtung der Aussage wenig, zuweilen sogar gar nichts beiträgt. Eher ist das Gegenteil der Fall.

Drei Beispiele. Erstens ein Interview in Funk oder Fernsehen:

Ein Medizinwissenschaftler soll sich beispielsweise über die Mortalitätsrate bei einer bestimmten Krankheit äußern.

Bis diese Aussage erfolgt, lässt sich zuerst einmal der Interviewer lang und breit über die grundsätzlichen menschlichen, gesellschaftlichen, politischen und historischen Bedeutung dieses Interviews aus. Darauf angesprochen, würde er vermutlich äußern, dass dem Publikum das Thema in seiner ganzen Breite, die Gründe für die Forschung, die Vorstellung der Persönlichkeit des Wissenschaftlers sowie noch vieles andere zuteil werden müsse, bevor man zum Wesentlichen käme. Das mag teilweise stimmen, in erster Linie macht es jedoch diejenigen ungeduldig und unwillig, die auf die Kernaussage warten.

Aber der Interviewer muss sein Gehalt rechtfertigen, indem er sich in Ausschmückungen vielfältiger Art verstrickt. Der Höhepunkt ist dann, wenn er den Wissenschaftler auch noch wortreich bittet, sich aufgrund der beschränkten Sendezeit kurz zu fassen. Hat sich der dieser dann geäußert, bittet ihn der Interviewer wortreich, das Ganze doch einfacher und verständlicher „für den normalen Zuhörer“ zu formulieren, da dieser ja kein Fachmann sei, und schwierige Fremdwörter wie beispielsweise, „Diskurs“, „kontraproduktiv“ oder „Optimierung“ nicht verstehen könne. Jetzt nimmt der Wissenschaftler Anlauf, diesem Wunsch nachzukommen, was ihm aufgrund seiner Unerfahrenheit mit Laien zu kommunizieren, nur äußerst mangelhaft gelingt. Jetzt schneidet ihm der Interviewer wortreich mit Hinweis auf die beschränkte Sendezeit das Wort ab. Ende des Interviews.

Dem wissbegierigen Zuhörer verbleibt die Aufgabe, aus dieser verbalen Wortwolke die drei Sätze herauszufiltern, in denen das Problem kurz und eigentlich klar nachvollziehbar vom Wissenschaftler formuliert wurde, oder hätte formuliert werden können, hätte er die Gelegenheit dazu gehabt.

Fall zwei. Ein Sachbuch:

Ein Autor, in den meisten Fällen ein Wissenschaftsjournalist, nimmt sich eines Themas an, beispielsweise der Frage, ob sich in der Mitte unserer Galaxie ein Schwarzes Loch befinde.

Die Beschreibung der Tatsache, also ob ja oder nein, würde notfalls ausreichen. Natürlich wären noch einige Sätze zur Entstehung der Schwarzen Loches und der möglichen Folgen für das Fortbestehen der Menschheit hilfreich, die ja gefühlt noch mehr im Mittelpunkt des Universums steht als ein Schwarzes Loch, was natürlich logisch gesehen unmöglich ist, wenn dieser Mittelpunkt bereits besetzt ist. Das ganze nähme etwa 10 Buchseiten in Anspruch.

Mit diesen 10 Seiten wagt sich der Autor natürlich nicht zum Lektorat des Verlages, da dieser minimal ein Sachbuch von etwa 200 bis 300 Seiten erwartet. Jetzt muss der Autor noch mindestens 250 Seiten dazu schreiben. Für den Leser ist die Lektüre dieser zusätzlichen Seiten wenig erbaulich, da er alles, was wichtig ist, bereits nach der Lektüre der wichtigen 10 Seiten erfahren hat. Er liest also halb gelangweilt weiter, da er für das Buch ja über 20 € bezahlt hat, für die er gefälligst auch eine Gegenleistung erwarten darf.

Die Lektüre des gesamten Buches erzeugt jedoch einen veritablen Kollateralschaden. Die ca. 240 Zusatzseiten neigen nämlich dazu, die wesentlichen 10 Seiten so zu vernebeln, das man sich ihrer nicht erinnert, wenn man sie nicht noch einmal liest.

Das wiederum erfordert Geduld, da der Autor sie – des Problems bewusst – nicht an den Anfang seines Werkes gestellt hat, sondern sie nachträglich listenreich im ergänzenden Wortschwall versteckt hat. Der Leser hat, da er an der Unversehrtheit seiner Bücher interessiert ist, auch vermieden, die wesentlichen Seiten während der Lektüre auffällig mit einen Kugelschreiber oder zumindest einem Eselsohr zu kennzeichnen. Also ist er mehr oder weniger verpflichtet, insgesamt bis zu 500 Seiten zu lesen, um die wesentlichen 10 Seiten aufzufinden.

Drittes Beispiel, eine Frau telefoniert mit ihrer Freundin, um ihr zu sagen, dass sie eine Viertelstunde später kommt, als ursprünglich vereinbart.

In diesem Fall fällt es besonders schwer, den wesentlichen Satz herauszufinden, da das Telefonat zwei Stunden dauert, und ein Mithörer, der im Nebenzimmer dem Gespräch höchstens ein halbes Ohr gewidmet hat, zwar von vielen interessanten Dingen gehört hat, jedoch kann er sich nicht an eine Zeitangabe erinnern.

Er weiß jetzt, wie man ein Knopfloch umsäumt; wie man Fleisch behandeln muss, damit der Sonntagsbraten nicht zäh wird; wogegen homöopathische Kügelchen helfen; der Zuhörer erfährt ebenfalls, welche Gründe einen ihm unbekannten Wolfgang wohl bewogen haben könnten, eine ihm gleichfalls unbekannte Amelie zu betrügen; ihm werden kühne Spekulationen über die zukünftige Entwicklung des Wetters und ihren Einfluss auf das Wachstum der Bäume vermittelt.

Sehr, sehr vieles erfährt er, weit mehr als er verarbeiten kann. Ob er im Rahmen dieses verbalen Verdauungsprozesses auch den Kernsatz über das verspätete Erscheinen zur Verabredung vernommen hat, kann er leider nicht mehr mit Sicherheit sagen.

In dieser dritten Situation wurde eine Kakophonie von Lauten, eingehüllt in eine durch Verschlusslaute und zuweilen anschwellendes Stimmvolumen erzeugte Aerosolwolke ausgestoßen, deren Reste lediglich mit einem Papiertaschentuch notdürftig vom Telefonhörer entfernt werden können.

Wer aufmerksam acht gibt, wird mit Sicherheit auch noch zahlreichen anderen Situationen begegnen, in denen die abgesonderte Wortmenge in krassem Widerspruch zum übermittelten Inhalt steht.

Da aber alles auf dieser Welt letztlich einen Sinn haben muss, fragen wir uns, wozu diese verbale Diarrhoe nun eigentlich dient. Es fällt nicht leicht, hier eine Antwort zu finden. Es sei denn man reiht sich mit dem Satz „Ich plappere also bin ich“(lat.: blattero ergo sum) in die Nachfolge von Descartes ein.

Das habe ich, wie Sie unschwer erkennen konnten, mit diesem Vortrag ebenfalls getan. Ein Satz hätte gereicht, den Inhalt dieses Vortrages zu formulieren, den im übrigen bereits der bekannte Karl Valentin schon einmal ausgesprochen hat. Nämlich: “Es ist alles gesagt, nur noch nicht von allen“.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, die Sie meinem Wortschwall geschenkt haben. Vor allem aber für Ihre geschätzte Geduld.




© Peter Heinrichs


3 Lesern gefällt dieser Text.


Unregistrierter Besucher


Beschreibung des Autors zu "Über Wortwolken (Episode 30)"

Ein weiterer Vortrag des absonderlichen Querdenkers Prof. Dr. Anatol Schwurbelzwirn

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Über Wortwolken (Episode 30)"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Über Wortwolken (Episode 30)"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.