1. Kapitel
Es war ein dunkler Morgen, dunkel gerade deswegen, weil es der erste Morgen war, seit Sophia das Haus ihrer Eltern voller Trotz verlassen hatte und durch die Straßen von Berlin zog. Ganz alleine, wie sich von selbst versteht. Denn sie kannte hier niemanden. Niemanden außer sich selbst. Und ihren drei Mitbewohnern, aber selbst die schienen ihr fremd.
Sie wusste selbst nicht mehr genau, wie es dazu gekommen war. Vermutlich war der Streit zwischen ihren Eltern ein Auslöser gewesen. Einer dieser ewigen, nervigen Streitereien, die das eigene Gemüt ermüden. Jeden einzelnen Tag ihres Lebens. An eine streitfreie Zeit konnte sie sich kaum noch erinnern. Sie war es leid gewesen, zwischen ihren Eltern zu stehen. Außerdem hatte sie es satt gehabt, mit in die Streitigkeiten hineingezogen zu werden.
Immer, wenn ihre Eltern sich angebrüllt hatten, hatte sie sich unter ihre Bettdecke verkrochen, mit Kopfhörern, um alles zu übertönen. Später dann war sie zu ihrer Freundin geflüchtet, bis sich deren Eltern über ihre ständige Anwesenheit beschwert hatten. Schließlich hatte es ihr gereicht. Sie hatte weder den Eltern ihrer Freundin zur Last fallen, noch sich ständig mit ihren eigenen auseinandersetzen wollen.
Dann kam ihr 18. Geburtstag. Die Volljährigkeit hatte ihr die Möglichkeit gegeben, sich einen neuen Freiraum zu erkämpfen. Einen Freiraum, den sie zuvor nie für möglich gehalten hatte. Sie wollte raus in die Welt, wollte Musik machen, sich durch Menschenmengen treiben lassen. Eine eigene Wohnung, ein eigenes Leben. Das war ihr Traum.
Bei der Wohnungssuche musste sie feststellen, dass sie die Bezahlung völlig außer Acht gelassen hatte. Bis sie keinen festen Job hatte, konnte sie den Traum eines eigenen Heimes völlig vergessen. Wie naiv sie doch gewesen war!
Deswegen war sie in Berlin in der WG eines guten Freundes untergeschlüpft, mit dem Versprechen, sobald wie möglich einen Job und eine eigene Wohnung zu finden. Erik, ihr Freund, und seine Mitbewohner Paul und John hatten nach einigen Diskussionen zugestimmt, sodass sie zwei Wochen nach ihrem 18. Geburtstag sang- und klanglos ihre Sachen gepackt und verschwunden war.
Sie schlenderte die dunklen Gassen entlang. Ohne irgendein Ziel. Die Nacht über hatte sie kaum schlafen können. Es war die erste Nacht in ihrer neuen Heimat gewesen. Die Wohnung war ihr so leer vorgekommen, die Bewohner so fremd. Erik hatte sich ihr gegenüber so merkwürdig verhalten. Als sei sie eine Last, ein Gift. Irgendwie hatten sich ihre Erwartungen nicht erfüllt, jedenfalls nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie fühlte sich nicht besser als zu Hause. Ihre Flucht hatten die Probleme nicht gelöst. Vielleicht hatte sie sich auch nur etwas vormachen wollen. Vielleicht hatte sie nur ihre eigenen Gefühle unterdrücken wollen.
Sie betrat einen kleinen Kiosk, in ihrer Tasche die letzten paar Euro, die sie in bar besaß. Der Verkäufer blickte sie mit seinen übermüdeten Augen an. „Guten Morgen, kleine Lady“, grummelte er in seinen Bart. „Was kann ich für sie tun?“ „Diese Zeitschrift bitte.“ Sie legte die Frauenzeitschrift auf den Tresen, zahlte sie und verließ den Kiosk wieder. Dann begann sie durch die Seiten zu blättern. Es waren hübsche Frauen in engen Kleidern abgebildet. Von oben bis unten modisch gekleidet. Die reine Perfektion. Ein Schminktipp nach dem anderen. Gesunde Ernährung. Sie schlug die Zeitschrift wieder zu. Es war nichts, was sie sonderlich berührte. Warum hatte sie sie überhaupt gekauft?
Sie erhoffte sich Inspiration von allen Seiten. Aber sie suchte an der falschen Stelle. Sie vermisste den Kontakt zu Menschen. Zu aufregenden Menschen. Musikern auf der Straße, im Club. Noch besaß sie nicht das nötige Geld, um sich abends in eine Kneipe zu setzten und ins Leben einzutauchen, doch sie würde es schaffen, da war sie sich sicher.
Zurück in der WG legte sie sich auf das Schlafsofa. Kaum hatte sie sich in die weichen Kissen eingekuschelt, flog ihr eines mitten ins Gesicht. Erik ließ sich ohne zu zögern neben ihr nieder. „Hey“, neckte er sie. „Willst du etwa wieder den ganzen Tag faulenzen? Du weißt, Träume alleine sind nutzlos.“ „EY.“ Sie warf das Kissen zu ihm zurück. „Ich faulenze nicht, ich denke über mögliche Strategien nach.“ „Nicht denken, machen“, seufzte Erik und setzte sich auf. „Was denkst du; ich schiebe uns eine Pizza in den Ofen und du überlegst, wo du heute Nachmittag nach einem Job fragen könntest.“ Sophia verdrehte die Augen, stimmte aber mit einem Nicken zu und drehte sich so zur Seite, dass sie Erik nicht mehr anschauen musste. Sie wusste, er meinte es nur gut mit ihr, aber sie mochte es nicht, wie er sie zurecht wies.
Eine halbe Stunde später stürzten sich beide über ihre frisch gebackene Tiefkühlpizza. Sophia wusste, dass sie Erik eine Antwort schuldig war. „Nun“, überlegte sie laut, „ich dachte, ich frage im Restaurant hier fast um die Ecke nach, ob ich dort kellnern kann. Das ist zumindest ein Anfang. Und solange ich hier wohne, habe ich es nicht weit.“ Erik wirkte für einen kurzen Augenblick besänftigt. „Freut mich, dass dir etwas eingefallen ist. Aber du weißt, dass Paul und John gerne wieder ihre Ruhe hätten, und nicht noch einen Monat einen heimlichen Mitbewohner. Du, Sophia, ich will dir gerne helfen, aber ich wohne hier nun mal nicht alleine, ich kann nicht machen, was ich will.“ Seine Reaktion stach Sophia dann mitten ins Herz. „Das verstehe ich“, erwiderte Sophia zwischen zwei Bissen Pizza. Sie hatte recht gehabt. Schon wieder stand sie zwischen zwei Stühlen. Wann hörte das endlich auf? „Und ich habe auch nicht vor, euch ewig eine Last zu sein. Glaube mir, in zwei Wochen habe ich genug für eine Monatsmiete gespart und dann geht’s los mit der eigenen Wohnung.“ Wie zuversichtlich sie zu diesem Zeitpunkt noch war. Und wie sehr sie mit ihren Gedanken doch daneben lag.


© Lola Lay


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Beschreibung des Autors zu "Frisch verzaubert 1.Kapitel"

Um ihrem Alltag zu entkommen, flüchtet Sophia in die Großstadt und versucht, ein neues Leben zu beginnen. Doch ihre neuen Begegnungen führen sie in eine ganz neue Welt.

All die Personen in der Geschichte sind frei erfunden. Da ich noch nicht genau weiß, wohin die Geschichte führt, konnte ich sie noch keiner festen Kategorie zuordnen.

Ich freue mich sowohl sehr über positives Feedback wie auch konstruktive Kritik.
Viel Spaß beim Lesen!

Eure Lola




Kommentare zu "Frisch verzaubert 1.Kapitel"

Re: Frisch verzaubert 1.Kapitel

Autor: Sandro N   Datum: 12.09.2017 20:24 Uhr

Kommentar: Schöne Geschichte.
Nicht zu lang das Kapitel, aber trotzdem voller Inhalt.
Und gut geschrieben.
Da will mir einfach keine konstruktive Kritik einfallen;)
Freue mich schon auf Kapitel 2.
Gruß, Sandro

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