Ich war nie ein Mensch, der an Spukgeschichten glaubte. Sie sind Legenden aus einer Zeit, in der seltsame Begebenheiten dem Allmächtigen oder viel lieber noch seinem Gegenspieler zugeschrieben wurden. Wir, die wir uns heute zivilisiert nennen, haben durch die Forschung bewiesen, dass viele dieser Vorkommnisse wissenschaftlich zu erklären sind, auch wenn sie sich unserem Auge entziehen und längst noch nicht haben wir den höchsten Wissensstand erreicht, der die ganze Welt beschreibt.
Der Hang des Menschen zum Mystischen jedoch ist weiter ungebrochen. Es ist unser steinzeitliches Erbe, das nach einer übergeordneten Macht schreit, einer Gewalt, die sich unserer Manipulation entzieht und unser Leben bestimmt. Nichts ist dem Menschen so verhasst wie absolute Selbstbestimmung.
Dies war meine feste Überzeugung, bis zu jenen Ereignissen, die meine Meinung stark erschütterten.
Meine Frau und ich waren seit über dreißig Jahren verheiratet und zu unser beider Leidwesen war unsere Ehe kinderlos geblieben. Auch wenn wir diesen Umstand sehr bedauerten, so konnten wir doch behaupten, ein erfülltes Leben zu führen. Meine Frau arbeitete als Innenarchitektin und ich war Lehrer eines angesehenen Hamburger Gymnasiums. An den Wochenenden fuhren wir oft an die Nordsee und verbrachten unsere Zeit mit langen Spaziergängen im Wattenmeer. Wir liebten beide die frische, klare Brise, die der Westwind mit sich brachte und bedauerten die Sonntagabende, an denen wir zurück in die große Stadt fahren mussten.
Als wir beide unsere fünfundfünfzigsten Geburtstage feierten (meine Frau war nur wenige Monate jünger als ich), keimte in uns der Wunsch nach einem eigenen Häuschen am Meer auf. Wir wollten es als Feriendomizil nutzen und später, wenn ich in Pension gehen würde, unseren Lebensabend dort verbringen.
Nachdem wir unsere finanziellen Möglichkeiten überprüft hatten und zur Überzeugung gekommen waren, dass wir uns ein kleines, schmuckes Haus ohne größere Anstrengungen leisten konnten, kauften wir einen einfachen Kotten, der sich noch in recht gutem Zustand befand und die Restaurierung sich in Grenzen hielten.
Meine Frau, die ihren Beruf sehr gut verstand, plante den Ausbau, dass es uns im Ruhestand an nichts fehlen würde. Nur wenige Monate nach dem Erwerb konnten wir unser neues Domizil nutzen.
Das Haus stand auf einem Hügel im Marschland und vom Fenster aus sahen wir die Deiche mit ihren langen Spazierwegen. Die See dahinter trug uns den herben Duft des Salzwassers zu und bei geöffnetem Fenster vernahmen wir die Schreie der Möwen. Zum ersten Mal fühlten wir uns nicht mehr als Besucher, wir verlebten den Urlaub und die Wochenende in unserem eigenen Haus.
Das nächste Dorf war zu Fuß in einer halben Stunde, mit dem Auto aber in zehn Minuten zu erreichen. Von der Südseite unseres Kottens sahen wir des Abends die Lichter am Horizont brennen. Dies waren unsere nächsten Nachbarn. Bauern des Marschlandes, viele von ihnen bereits seit Generationen hier ansässig und auch wenn die jungen Leute in die Stadt zogen, so blieben doch genügend Menschen zurück, um diese Tradition nicht sterben zu lassen.
Das Dorf besaß nur ein Gasthaus und hier war es, als ich das erste Mal von den seltsamen Geschichten hörte.
Unser Neffe Felix, nun bereits ein Mann, der auf die vierzig zuging und in Hamburg eine gut laufende Baufirma führte, kam zu Besuch und wir beiden Männer entschlossen uns am Abend, ein Bier trinken zu gehen.
Die Dorfschänke war ein altes, einstöckiges Fachwerkhaus, mit einfachen, groben Holztischen und fahler Beleuchtung. An den Wänden hingen Fischereiutensilien und die Zeichnungen alter Segelschiffe, die in früherer Zeit vielleicht einmal hier vorüber gekommen waren.
Von dieser Atmosphäre zeugten auch die Gäste, alte Fischer und Marschbauern, die sich sogar noch ihre zerkauten Hornpfeifen ansteckten und sich stumm an den Ecktischen versammelt hatten.
Ich spürte ihre Blicke, als wir das Gasthaus betraten. Ich zuvorderst, mein Neffe dicht hinter mir. Dass meine Frau und ich die neuen Besitzer des alten Kottens waren, hatte sich wohl bereits herumgesprochen. Niemand aber begrüßte uns, nur die grauen, faltigen Augen über den Pfeifen beobachteten jede unserer Bewegungen.
Wir setzten uns an einen Tisch am Fenster. Der Wirt brachte uns zwei Biere. Sie schmeckten herb, aber sehr erfrischend und nach einer gewissen Zeit fühlten wir das heimische Flair der Umgebung. Die Steifheit, die uns bei unserem Eintritt noch umfangen hatte, wich und unser leises, wortkarges Gespräch wurde angeregter und lauter.
Felix besuchte uns das erste Mal und ich freute mich sehr darüber. Er war immer mein Lieblingsneffe gewesen, der Sohn meines Schwagers. Ulrich, der Bruder meiner Frau, und ich verstanden uns nicht gut. Er war fast zehn Jahre älter als Ursula und in meinen Augen ein Windhund. Als Felix acht Jahre alt war, verließ er die Mutter und ging nach Frankfurt. Von dieser Zeit an hörten wir lediglich sehr wenig von ihm und auch seine monatlichen Zahlungen für die Familie trafen nur sporadisch ein.
Die Mutter blieb allein in Hamburg zurück und so wuchs Felix also ohne Vater auf. Meine Frau und ich kümmerten uns ein bisschen um den Jungen, nahmen ihn während seiner Schulferien mit an die Nordsee und selbst in unserer Hamburger Wohnung richteten wir ihm ein kleines Zimmer ein, für den Fall, dass er bei uns übernachten wollte.
Sonja, seine Mutter, war sehr froh darüber. Sie arbeitete am Fischmarkt. Ein schwerer Job, um das nötige Geld für die kleine Familie zu verdienen und sie konnte nie viel Zeit mit dem Jungen verbringen. So wuchs Felix heran und ich wage zu behaupten, dass es ihm an nichts mangelte.
Als er sechzehn war, ging er zum Bau und lernte den Beruf des Maurers. Durch seinen Fleiß brachte er es bis zum Meister und letztendlich wurde er Inhaber seiner eigenen Firma und wir alle drei waren richtig stolz auf ihn.
An diesem Abend erzählte ich Felix ausführlich über den Ankauf des Kottens und die Mühe, die Ursula in den Umbau gesteckt hatte. Er stimmte mir zu, dass wir mit diesem Grund ein wirklich schönes Stück Erde erworben hatten und sein Urteil hob meine Stimmung weiter, dass ich zu dieser späten Stunde zwei Gläser Grog bestellte.
Schwer fühlten wir den heißen Rum in unseren Adern und wir lachten viel über kuriose Geschichten, die Felix nun von seiner Firma erzählte. Die übrigen Gäste waren weiterhin stumm geblieben und beobachteten uns, die wir momentan ihre Anwesenheit vergaßen und uns ganz in diesen gemütlichen Abend fallen ließen.
Nachdem Felix einige Anekdoten zum Besten gegeben hatte, über die wir uns herzlich amüsierten, kam ich wieder zurück auf den Kotten zu sprechen. Der Besitz ließ mich nicht los, ich musste darüber reden, um mir selbst Gewissheit zu geben, dass er tatsächlich uns gehörte.
„Das Haus ist über zweihundert Jahre alt“, erklärte ich Felix stolz. „Früher gehörte das Anwesen verschiedenen Marschbauern. Die letzte Tochter aber zog in die Stadt und wollte ihn nicht mehr.“
„Es ist eine Schande“, meinte Felix, „dass Familientraditionen so verloren gehen. Für euch natürlich war das ein Glück.“
„Ja“, bestätigte ich und dem war nichts mehr hinzuzufügen.
„Es wird sich zeigen, ob es ihr Glück war“, grummelte da eine Stimme hinterrücks, und als ich mich umwandte, sah ich dort an dem Tisch einen alten Mann sitzen. Er lehnte mit beiden Armen auf dem Tisch und beugte sich über seine Pfeife, in die er mit seinem gelben Daumen Tabak stopfte. Tiefe Furchen hatten sich in sein Gesicht eingegraben, so dass ich nicht schätzen mochte, wie alt er wohl war. Sicherlich über siebzig, möglicherweise aber auch weit über achtzig. Auf dem Kopf trug er eine abgegriffene Friesenkappe und unter ihr quollen wenige schlohweiße Haarsträhnen hervor, die schon lange keinen Friseur mehr gesehen hatten. Seine Augen waren so grau wie ein Unwetter über der Nordsee und seine Lippen hatten all ihr Blut verloren.
Er saß mit einer Gruppe Männer am Tisch, die ihm in ihrem Alter durchaus ebenbürtig waren und sie alle nickten stumm zu dem, was er uns sagte.
Ich stemmte mich am Tisch hoch, sah, wie der Alte seine Pfeife entzündete und sich an die rückwärtige Wand anlehnte. Auch Felix blickte zu ihm hinüber.
„Wie meinen sie das?“ fragte ich den Alten.
Bedächtig zog er an der Pfeife und blies den Rauch auf den Tisch. Die anderen hielten die Köpfe gesenkt, als lauschten sie dem fernen Rauschen der See.
Dann, als wir schon glaubten, dass er uns keine Antwort geben würde, nahm er die Pfeife aus dem Mund und schaute zu dem Fenster hinüber, in dem sich unsere Gestalten im Vordergrund der Finsternis widerspiegelten.
„Ich sage ihnen, dass kein Glück in diesem Kotten wohnt“, sprach er bedächtig in die Stille hinein.
„Lass sein, Jan Helmes!“ rief da der Wirt von der Theke, an der er mit mechanischen Handgriffen Gläser abtrocknete, herüber. „Die alten Geschichten will doch keiner hören!“
Und zu uns gewandt erklärte er weiter:
„Unser Jan weiß allerhand Geschichten zu erzählen. Aber glauben sie ihm nicht. Es sind nur erfundene Legenden hier aus der Marsch.“
„Nein, nein“, widersprach da der Alte zornig. „Sie sind wahr. Du, Piet Krüger, kannst sie nicht kennen. Deine Familie lebt erst seit drei Generationen in dieser Gegend. Aber ich, Jan Helmes, ich kenne das Land genau. Unsere Familie gab es schon immer hier.“
Wie zur Bestätigung grummelten seine Tischgenossen vor sich hin und manch einer von ihnen trank von seinem Grog.
Mag sein, dass der schöne Abend mir zu Kopf gestiegen war und auch mein Beruf als Geschichtslehrer meine Neugierde förderte, jedenfalls fühlte ich mich beschwingt und entschied, eine schaurige Geschichte passe nun ganz zu unserer Stimmung.
So wandte ich mich vollends dem Alten zu, der wieder seine Pfeife in den Mund gesteckt hatte und lachte:
„Legenden interessieren mich sehr. Was wissen sie über unseren Kotten zu erzählen?“
Erneut zog er einige Male bedächtig an seiner Pfeife und ich glaubte seine Zufriedenheit über die ihm gewidmete Aufmerksamkeit zu verspüren. Er genoss die Stille, die mittlerweile vollends die Stube erfasst hatte und in der jeder Gast darauf wartete, dass er mit seiner Geschichte beginnen würde.

*

„Früher einmal“, begann er bedächtig und verschränkte seine Arme vor der Brust, so dass sie geruhsam die Pfeife hielten, „war dieser Kotten kein heruntergekommenes Bauernhaus gewesen. Es gehörte einem der größten und reichsten Bauern der Marsch und seine Familie lebte so lange hier, wie die Menschen darüber zu berichten vermögen. Klaus Jörges war sein Name und er war ein angesehener Mann in dieser Gegend, so wie sein Vater und Großvater vor ihm.
Er hatte zwei Söhne, den Uwe und den Hendrik und dieser war der ältere von beiden. Hendrik war wie sein Vater, liebte das Land und war ein fleißiger Bauer. Uwe aber war ein unsteter Geselle, der in den Schänken der Umgebung ein häufiger Gast war und keiner Schlägerei aus dem Wege ging. Der alte Jörges hatte viel Kummer mit ihm und wusste gar nicht mehr, was aus dem Jungen einmal werden sollte. Der Hof, so war es von alters her, würde dem ersten Sohn übergeben und Uwe seinen Anteil ausgezahlt bekommen, dass er sein Glück als Handwerker oder auf einem anderen Kotten fände.
Als der alte Jörges starb, gab der ältere Bruder das versprochene Geld und Uwe ging fort. Hendrik heiratete die schöne Marte aus dem Nachbardorf und ein Jahr nach der Hochzeit wurde der kleine Sören geboren. So war die kleine Familie auf dem Besitz der Familie glücklich.
Von Uwe hörten sie überhaupt nichts, bis er eines Tages unvermittelt vor der Tür stand. Der Bruder freute sich über den Besuch und Marte, dass sie endlich ihren Schwager kennenlernte. Wie sich herausstellte, hatte Uwe sein gesamtes Erbe durchgebracht und nun, da er nichts auf der Welt mehr besaß als seine Kleider, die er am Leibe trug, war er zurückgekommen.
Die jungen Eheleute richteten Uwe ein Zimmer her und Hendrik bot ihm eine Arbeit auf dem Kotten an. Aber es ist nie gut, wenn ein Mann für Lohn auf der Erde arbeitet, die ihm fast selber gehört hätte. In Uwe wuchs der Hass auf seinen Bruder, der so wohlhabend und glücklich mit Frau und Kind lebte, während er selber derzeit wie ein Bettler auf die Gnade seines Bruders angewiesen war. In ihm wuchs die Überzeugung, dass das Erbe ungerecht verteilt worden war und in seinem Kopf begann er einen Plan zu schmieden, wie er sein Recht erlangen konnte.
Eines Morgens wurde im Nachbardorf ein Toter entdeckt. Lars Kindgen war ein listiger Händler, der von einem guten Geschäft aus der Stadt zurückgekehrt und mit einem hübschen Batzen Geld auf dem Weg nach Hause war. In der Finsternis hatte ihm der Mörder aufgelauert und den Schädel eingeschlagen. Als er aufgefunden wurde, war dieses Geld verschwunden.
Die Polizei suchte überall nach dem Täter, aber nirgends war eine Spur von ihm zu entdecken. Jetzt war allgemein bekannt, dass Hendrik Jörgens wegen eines Geschäftes, in dem der Händler ihn übervorteilt hatte, mit dem Toten auf keinem guten Fuße stand und so kamen die Beamten zu dem Kotten, Hendrik zu befragen.
In der Küche, hinter den Kacheln des Ofens, fanden sie die Börse des Händlers mit dem gesamten Geld.
Hendrik beteuerte seine Unschuld, aber die Polizisten glaubten ihm nicht. Sie verhafteten ihn gerade in dem Augenblick, als Uwe in die Stube trat. Er erkannte das Unglück, das seinen Bruder nun überkam und stürzte sich auf die Polizisten, die ihn schon am Arme hielten. In diesem Handgemenge kam Hendrik plötzlich frei und der Bruder stieß ihn zu der Tür.
„Flieh, flieh!“ rief Uwe ihm zu und Hendrik, noch überwältigt von Schmerz und Not, lief aus der Tür. Er kannte das Marschland so gut wie kein anderer und so fiel es ihm nicht schwer, ein Versteck für die Nacht zu finden.
Als er in der tiefsten Stunde zurückschlich, gewahrte er, dass die Polizeibeamten eine Wache auf dem Kotten zurückgelassen hatten und er nicht mit seiner Marte und seinem Bruder sprechen konnte.
Er war nun ein Verbrecher und keiner würde ihm mehr glauben, dass er unschuldig an dem Mord sei. Was sollte er bloß tun? Wenn sie ihn fassten, so würde er ein Leben lang im Gefängnis sitzen und nichts, nichts konnte ihn davor bewahren.
Doch hatte er ja Frau und Kind und er sehnte sich so sehr nach ihnen. Vier Tage blieb er im Versteck und in jeder Nacht versuchte er, zu dem Kotten zurückzukehren. Die Wache aber passte auf. So wusste Hendrik, dass er inzwischen alles verloren hatte und er floh nach Bremerhaven, wo er auf einem Schoner anheuerte und die gute alte Welt verließ.
Einige Jahre blieb er verschollen und Uwe war der neue Herr des Kottens geworden. Marte lebte weiterhin mit Hendriks Kind dort. Sie wartete auf ihren Mann. Die Leute auf der Marsch begannen, darüber zu reden, dass es nicht recht sei, wenn sie mit ihrem Schwager an jenem Ort so alleine wohnte und sie mieden das Haus.
Uwe war kein guter Bauer. Er hatte nicht den Fleiß und das Wissen, um dieses Land zu bewirtschaften und auch seiner alten Gewohnheit, die Gasthäuser der Umgebung zu besuchen, schwor er nicht ab. So ging es mit dem Besitz bergab. Das Haus verkam, die Felder lagen brach und Marte, in ihrem Kummer, klammerte sich an ihren Sohn, mittlerweile bereits ein hübscher Knabe von zwölf Jahren, der im Gesichte so aussah wie sein verschollener Vater.
Hendrik fuhr über alle Meere und brachte es mit seiner Geschicklichkeit bis zum Steuermann. Nie aber vergaß er Frau und Kind auf der Marsch, so weit entfernt. Dann, eines Tages fuhr ein Segler zurück nach Bremerhaven und Hendrik entschloss sich, zu seiner Familie zurückzukehren. Lange Jahre hatte er sich auf dem Meer versteckt, dass er glaubte, es wagen zu dürfen. Sie überquerten den Atlantik und schnell segelten sie an der Küste der lang ersehnten Heimat vorbei, dass Hendrik schon in der Ferne sein Haus zu sehen glaubte. Und stand davor nicht eine Frau mit einem Knaben? War das nicht seine Marte? Noch ein paar Stunden, dann würde er zu ihr eilen.
Doch ist die See auch ruhig, das Ungeheuer schläft niemals. Ein Sturm zog auf, dass die Wogen fünf Meter hoch wuchsen. Der blanke Hans zeigte sein wahres Gesicht. Das Schiff, ein Zweimastschoner, schlingerte auf der geifernden See und noch lange hatte das Ungeheuer nicht seine wahre Macht gezeigt.
Da rollte eine Welle an, so hoch, dass die weiße Krone nicht zu erblicken war und Hendrik wusste, dass nun seine letzte Stunde gekommen war. Die Woge trug das Schiff empor, fast bis auf die Spitze der geifernden See, und fiel plötzlich ab, dass es für einen Moment erschien, als fliege der Schoner. Längst waren schon die Masten gebrochen und die Matrosen schrien ihr Weh! heraus. Der Kapitän betete zum Allmächtigen, doch in der tosenden See war kein Laut davon zu vernehmen. Und Hendrik klammerte sich an der Reling fest, den Blick zur Marsch gerichtet, die er nun nicht mehr zu sehen vermochte. „Marte! Meine Marte!“ rief er gegen den Sturm, doch vermischten sich die Worte mit dem Salz der tobenden See.
Als das Schiff aufschlug, zerbarst es in tausend Stücke und der blanke Hans verschlang alles, was sich darauf befunden hatte.
Am anderen Morgen lag die See wieder friedlich im Sonnenschein, als habe es ein Gestern nie gegeben. Marte ging hinunter zum Deich, um auf das Meer zu blicken, so wie sie es jeden Morgen tat, seitdem ihr Mann geflohen war. Dort stand sie dann fast eine Stunde und stierte auf den gleißenden Spiegel hinaus, wartend, hoffend auf ein Zeichen des Geliebten. Als sie an diesem Morgen aber auf dem Deich stand, gewahrte sie einen reglosen Körper am Uferstrand und sie lief hinab, um zu sehen, ob sie helfen könnte. Reglos lag der Körper da und aufgedunsen wirkte er vom Wasser, das in ihn eingedrungen war. Und trotzdem, als sie in die gebrochenen Augen blickte – und auch der Mund, so zart in seinen Zügen –, da wusste sie, dass es ihr Hendrik war.
Schnell lief sie zum Kotten und holte Uwe. Dieser lief hinunter zum Deich und sah in des Bruders Antlitz. Marte hatte er ins Dorf geschickt, um Hilfe zu holen.
„So bist du doch zurückgekehrt“, sprach er in die leeren Augen des Toten. „Warum nur hast du das getan? Deinen Tod wollte ich nicht.“
Dann, als er sich nach einigen Augenblicken, in denen er den wässrigen Leib seines Bruders betrachtete, umwandte, bemerkte er, dass Marte hinter ihm stand. Sie hatte Sören ins Dorf geschickt und war dem Schwager nachgeeilt.
Und nun, als er die Worte gesprochen, da erkannte sie, dass Uwe es gewesen war, der den Händler umgebracht und den Bruder zur Flucht verleitet hatte. Ein Grauen erfasste sie und als Uwe einen Schritt auf sie zutrat, wich sie zurück.
„Bleib weg von mir, du Satan!“ kreischte sie und eilte fort, den Deich hinauf. Uwe wusste, dass sein Geheimnis verraten war und er lief Marte hinterher. Oben auf dem Deich holte er sie ein. Als er sie packte, wirbelte sie herum.
„Ich verfluche dich!“ schrie sie auf und schlug mit ihren Fäusten auf ihn ein, dass Uwe sie fortstieß. Marte fiel die nassen Steine des Deiches herab bis zu ihrem Mann, der leblos am Ufer des Meeres lag.
Als Uwe sie erreichte, sah er, dass sie sich das Genick gebrochen hatte und in der gleichen Nacht erhängte er sich im Gebälk des Kottens.
Sören wuchs bei einem Onkel im Dorf auf. Als er alt genug war, übernahm er den Kotten, denn er hatte den Sinn seines Vaters. Er heiratete die Heike, welche er schon als Kind gekannt hatte und sie bekamen einen Sohn. Endlich schien die alte Geschichte vergessen. Der Geist Martes aber fand keine Ruhe und in jeder Sturmnacht geht sie auf dem Kotten um. Und tost der Sturm auf seinem Höhepunkt, so sieht man ihre Gestalt auf dem Deich stehen und in die Ferne blicken, wie sie wartet auf den geliebten Mann.
Jeden, der die Marte gesehen hat, ereilte in der darauf folgenden Nacht ein Unglück. Sören ertrank, so wie sein Vater, als er mit dem Boot zum Fischen fuhr. Lars, sein Sohn wurde von dem Huf eines Pferdes erschlagen und all die Bauern nach ihm ereilte ein ähnlich schauriges Schicksal. Dieser Kotten ist verflucht, der Geist von Marte findet keine Ruh`.“

*

Der Alte hatte seine Erzählung beendet und klopfte die Pfeife aus. Die Geschichte hatte uns gefesselt und selbst der Wirt lag halb gebeugt auf dem Tresen und lauschte den Worten. Für einen Augenblick herrschte nun absolute Stille und mir war noch ganz benommen von der Legende, die sich hier, in dieser dämmerigen Schänke so gut ausnahm.
Felix aber lachte auf.
„Das war eine feine Geschichte“, sagte er.
„Geschichte?“ fragte der Alte ruhig. „Das ist eine wahre Begebenheit. Hüten sie sich, der Marte jemals zu begegnen!“
Felix lachte erneut und ich stimmte mit ein. Wir prosteten dem Alten und seiner Gesellschaft zu und tranken den inzwischen schon erkalteten Grog.
Es war spät geworden und bald brachen wir auf. Die Nacht war mild und langsam schlenderten wir den Weg zurück.
„Eine hübsche Legende“, sagte ich beiläufig. „Sie gehört hierher.“
„Vielleicht ist an der Geschichte mehr, als wir glauben“, gab Felix zu bedenken.
„Ich bitte dich!“ fiel ich im erstaunt ins Wort. „Du wirst doch wohl nicht solch alten Aberglauben anhängen? Das ist ja lächerlich!“
„Ich weiß, dass deine rationale Denkweise jegliche Form des Übernatürlichen ablehnt. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass sie nicht existiert.“
„Wir haben heute viel getrunken und die Atmosphäre tat ihr Übriges. Der Alte konnte prima Geschichten erzählen. Ich nehme an, dass er das fünfmal in der Woche macht und die Geschichte von Marte wird nur ein kleiner Teil seines Repertoires sein. Jedes Land braucht seine Sagen und Geschichtenerzähler.“
Felix schien nicht überzeugt, doch er schwieg darüber. Stattdessen unterhielten wir uns auf dem restlichen Heimweg über die neuesten Hamburger Bebauungspläne, die Felix, mit ein wenig Glück, einträgliche Aufträge verschaffen konnten.
Nach einer knappen halben Stunde hatten wir unseren Kotten erreicht und da wir nach diesem Weg müde geworden waren, gingen wir sogleich ins Bett.

*

Der Sommer kam und mit ihm meine Herzprobleme. Die Werte verschlechterten sich, so dass ich für einige Tage ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Schon lange wusste ich um mein schwaches Herz, nun aber, als ich langsam auf die sechzig zuging, verschlimmerten sie sich und mein Hausarzt empfahl mir dringend frische Luft und Ruhe. So entschloss ich mich, ein halbes Jahr im Schuldienst auszusetzen und mich in der friedlichen Umgebung der Marsch ausgiebig zu kurieren.
Ich hatte es mit meiner Frau besprochen. Da sie freiberuflich arbeitete und wir es uns finanziell wohl leisten konnten, beschlossen wir, bis Weihnachten in den Kotten einzuziehen. Hier, so meinte auch Ursula, würde ich die Entspannung finden, die ich für meine Gesundheit so dringend benötigte.
Der Sommer begann sehr schön, an jedem Tag hing die Sonne fest im blauen Himmel. Der leichte Nordwind blies nur wenige Wolken über die See und die Brise, die während unserer langen Spaziergänge auf dem Deich durch unsere Haare strich, empfanden wir als äußerst angenehm.
Gelegentlich kam Felix übers Wochenende vorbei und wir verlebten schöne Abende in der Wohnstube, während wir durch das geöffnete Fenster das ferne Rauschen der See vernahmen.
Ab und zu besuchten wir die Gaststätte, in der Jan Helmes uns die schaurige Geschichte erzählt hatte. Wie ich bemerkte, war er ein täglicher Gast in der Schankstube, und auch seine Gesellschaft saß an jedem Abend dort.
Piet Krüger, der Wirt, ein bulliger Mann mit dem Bart einer Seerobbe und dem herzlichen Lachen eines unbekümmerten Geistes, berichtete mir, dass Jan Helmes der beste Geschichtenerzähler der gesamten Gegend sei. Niemand wisse so viele Legenden und Wahres aus dem Dorf zu berichten wie er. Die Menschen hörten ihm gerne zu. Ich sollte dem Alten nicht die Sage der Marte übel nehmen, die der uns am ersten Abend erzählt hatte.
Ich lachte und versicherte dem Wirt, dass mich die Erzählung keineswegs erschreckt hätte, ich im Gegenteil Legenden liebte und sie mir großes Vergnügen bereitet habe.
Der Wirt war zufrieden mit meiner Antwort und meinte, dass ich doch ein rechter Kerl sei und wir im Laufe der Zeit sicher gute Freunde werden würden.
Als Jan Helmes erfuhr, dass ich durchaus gerne seinen Geschichten lauschte, lud er mich an seinen Tisch und jeden Abend, wenn ich Lust empfand, erzählte er mir eine andere Legende. So erfuhr ich viel von Rungholt und dem blanken Hans, wie die Nordsee hier in seinem tobenden Sturm genannt wurde, vom krausen Jens und Nils, dem Moorstecher. Und doch unterließ es der Alte nie, mich auf die Wahrheit seiner Geschichten hinzuweisen.
„Das Marschland“, so sagte er, „ist so alt wie die Welt und die See dahinter unergründlich. Wir wissen nichts und nur diese alten Geschichten sind unsere Fenster zu alten Zeiten.“
Freilich waren die Besuche in der Gaststätte eher selten. Oft spazierten meine Frau und ich den ganzen Tag über das offene Land und abends, wenn die Sonne am fernen Horizont in die See eintauchte und die sanften Wellen rot färbte, stellten wir unsere Stühle vor die Tür und genossen den Anblick.
Manchmal erhielten wir Besuch von dem Dorfpastor. Ich bin Zeit meines Lebens nie besonders gläubig gewesen, trotzdem empfand ich seine Anwesenheit immer als sehr angenehm. Pastor Reiners war ein gebildeter Mann, der sich hervorragend in Philosophie und Geschichte auskannte. Die Gespräche mit ihm verliefen sehr anregend und so geschah es nicht selten, dass sein Besuch erst weit nach Mitternacht endete und er gelegentlich unser Angebot, bei uns zu übernachten, annahm.
Der Sommer ging dahin und ich fühlte, wie diese Lebensweise meinem kranken Herzen wohl tat. Der örtliche Arzt, unter dessen regelmäßige Beobachtung ich mich begeben hatte, bestätigte mir diese Kräftigung meines Organs, aber er wies mich auch eindringlich darauf hin, dass ich noch einige Zeit dieser Schonung bedürfe und ich mich außerdem mit dem Gedanken abfinden müsse, dass ich Zeit meines Lebens dem Herzen besondere Aufmerksamkeit zu schenken hätte.
Im September wurde es kälter. Die ersten, leichten Stürme zogen über die See heran. Ursula hatte sich im Haus ein Zimmer hergerichtet, in dem sie wieder zu arbeiten begann. Zwar waren es keine Aufträge, für die sie hätte in die Stadt fahren müssen, aber sie fertigte Entwürfe für die Neugestaltung der Wohnzimmer des Pastors und Frau Mintrop, die mit ihrem Mann den kleinen Lebensmittelladen des Dorfes betrieb. Sie müsse in Übung bleiben, so erklärte Ursula, und außerdem mache es ihr Spaß.
Somit wurden meine Spaziergänge mit ihr seltener, was mich allerdings nicht daran hinderte, allein über die Marsch zu wandern.
Die Tage hatten sich bereits sichtlich verkürzt und es kam die Zeit, dass ich ausgesprochenes Vergnügen daran fand, mich in den Lehnstuhl an den Kamin zu setzen und Bücher über die Kreuzzüge zu lesen.
Eines Abends, es hatte zu regnen begonnen und die Tropfen klopften, wenn auch sanft, so doch unablässig an das kleine Fenster, welches zur Seeseite blicken ließ, saß ich wieder einmal in meinem Sessel und beschäftigte mich dem der wechselhaften Geschichte der Tempelritter. Meine Frau hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und erprobte am Computer die Wirkung unterschiedlicher Farben im Stoffbezug von Frau Mintrops Wohnzimmergarnitur.
Ich hatte ein kleines Feuer im Kamin entzündet und die angenehme Wärme ließ mich ein Stück näher rücken. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit hatte ich dezente Hintergrundmusik angestellt und mich in mein Buch vertieft.
Da hörte ich plötzlich ein leises Klopfen an der Tür. Ich sah auf und lauschte. Wahrscheinlich war es der Wind gewesen, der heute bereits recht kräftig vom Westen blies. Und da, vernahm ich dieses Klopfen nicht wieder? Ich lauschte zur Tür. Ein drittes Mal, ganz sacht kam das Geräusch herüber, fast mehr ein Scharren und Kratzen, und als ich mich aus meinem Sessel erhob, huschte da nicht eine dunkle Gestalt am Fenster vorüber? Nein, kein Huschen, eher ein Gleiten, langsam, doch unaufhörlich. Ich ging hinüber zum Fenster und öffnete es, doch niemand war zu sehen; ich ging zur Tür, der Eingang aber war leer.
Ratlos schüttelte ich den Kopf. Es stand nicht zu erwarten, dass der Pastor uns heute besuchen käme. Dafür war es schon zu spät. Ich konnte mir nicht vorstellen, wer es sonst gewesen sein mochte und vielleicht, wenn ich es recht bedachte, hatte ich mich auch geirrt. Nur der Wind und der Regen waren es, die mir einen Streich gespielt hatten.
Als ich mich setzte und das Buch erneut zur Hand nahm, da hörte ich es abermals und erneut glaubte ich einen Schatten am Fenster zu sehen. Doch auch dieses Mal blieb mein Nachsehen erfolglos. So setzte ich mich hin und lauschte. Aber so lang ich auch wartete, und das war fast eine Stunde, ich konnte die Geräusche nicht mehr hören. Schließlich nahm ich mein Buch wieder auf und las ungestört weiter.
Meiner Frau erzählte ich nichts von der Begebenheit, die, nachdem ich darüber nachgedacht hatte, sicherlich auf eine Sinnestäuschung zurückzuführen war und am nächsten Tag schien die Sonne in ihrem herbstlichen Glanz so verlockend, dass ich die Geschichte schließlich vergaß.
Doch ein zweites, seltsames Ereignis brachte die Erinnerung zurück. Es war ein paar Tage später. Wieder saß ich am Kamin, dieses Mal jedoch leistete meine Frau mir Gesellschaft und wir unterhielten uns über unsere weitere Zukunft hier auf dem Kotten, als wir unvermittelt aus der Küche ein Scheppern und Klirren vernahmen. Dieses Geräusch war so laut und eindringlich, dass ich es nicht durch den Westwind erklären konnte. Wir sahen uns beide erschrocken an und eilten hinüber, durch die Tür in die Küche. Da bemerkten wir Töpfe, die verstreut auf dem Boden herum lagen. Dazwischen zerborstenes Geschirr, unsere Teller und Tassen in kleine Teile zersprungen. Die hintere Ausgangstür stand offen und Regen fiel schräg auf das Holz des Bodens. Ich lief zur Tür und spähte hinaus, konnte aber niemanden entdecken. Meine Frau kauerte auf dem Boden und fegte die Scherben zusammen.
„Sicher ein paar Randalierer aus der Gegend“, sagte ich.
Sie sah mich ungläubig an, sagte aber nichts zu meiner Erklärung.
„Das ist doch unglaublich“, erboste sie sich stattdessen. „Wie ist hier denn jemand hereingekommen?“
An diese Frage hatte ich gar nicht gedacht. Für mich war es selbstverständlich, dass sie die Tür benutzt hatten, die wir immer verriegelt hielten. Als ich aber das Schloss untersuchte, war es unversehrt und, zu meinem Erstaunen, der Schließzylinder abgeschlossen.
„Morgen bringe ich den Einbruch zur Anzeige“, beschloss ich und Ursula stimmte mir zu.

*

Am nächsten Tag ging ich ins Dorf zur Polizeistation. Der Beamte war ein älterer, hagerer Mann und hieß Hein Olson. Er hörte sich meine Geschichte an und schüttelte den Kopf.
„So etwas ist bei uns in der Gegend noch nie vorgekommen“, sagte er und rieb sich das Kinn ausgiebig. „Jugendliche Randalierer gibt es hier einfach nicht.“
„Und wie erklären sie sich dann das Chaos in unserer Küche?“, fragte ich ihn aufgebracht, da er mir nicht so recht zu glauben schien.
„Vielleicht war es eine Katze, die sich verirrt hatte. Sie erschrak sich und warf das Geschirr herunter“, versuchte Olson zu erklären.
„Wobei sie vorher die verschlossene Tür öffnete“, fügte ich hinzu.
„Das ist allerdings seltsam“, gestand der Beamte ein. „Nun, nehmen wir erst einmal ihre Anzeige auf und ich werde der Angelegenheit nachgehen. Viel Hoffnung kann ich ihnen allerdings nicht machen.“
Nach dem Verlauf des Gespräches hatte ich es auch nicht anders erwartet.
Nach diesem unbefriedigenden Ergebnis beschloss ich, bei Piet Krüger einzukehren und einen Tee zur Beruhigung zu trinken. Es war kaum Mittag und doch hatte sich bereits Jan Helmes, der Geschichtenerzähler, eingefunden. Er saß auf seinem Stammplatz am Fenster und paffte an seiner Pfeife.
Es befanden sich noch zwei Gäste im Raum, die ich hier vorher noch nie gesehen hatte. Sie saßen am Tisch und aßen zu Mittag. Einer von ihnen war recht groß und ebenso voluminös. In seinem runden Gesicht glänzten rote, feste Wangen, die sich in diesem Moment ausschließlich mit der Mahlzeit beschäftigten.
Der andere war kleiner und besaß ein Gesicht, wie es tausende gab, ohne, dass man sich ihrer später zu erinnern vermochte. Er sah jünger aus, als ich ihm insgeheim zugestand. Sie beachteten mich nicht, als ich mich an die Theke setzte.
„Nun, Herr Pohl, was treibt sie denn schon so früh ins Dorf?“ fragte mich der Wirt und ich erzählte ihm von dem Vorkommnis der vergangenen Nacht.
Der Wirt hörte mir aufmerksam zu und als ich geendet hatte, wiegte er bedächtig den Kopf.
„Hein Olson hat wohl leider Recht“, entgegnete er, als ich schließlich geendet hatte. „Hier ist so etwas noch nie vorgekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, wer das gewesen sein könnte.“
„Ich auch nicht“, antwortete ich ihm, „aber ich weiß, dass es eine Tatsache ist und die lässt sich nicht verleugnen.“
„Am Ende war es wirklich eine Katze.“
Ich sah den Wirt zweifelnd an.
„Wie erklären sie sich dann die geöffnete Tür?“
„Möglicherweise haben sie an diesem Abend vergessen, sie abzuschließen“, entgegnete er.
„Diese Tür war immer verschlossen. Wir benutzten sie nicht.“
„Das ist allerdings seltsam“, bestätigte nun Piet Krüger sinnend.
„Gar nicht seltsam“, erklang da die Stimme von Jan Helmes hinter dem Rauch seiner Pfeife hervor. „Die Marte geht wieder um.“
„Sie meinen, ihr Geist besucht unser Haus?“ fragte ich ihn, als ich mich umwandte.
„Die Herbststürme beginnen und immer noch findet sie keine Ruh´. Hüten sie sich vor ihr, Frank Pohl!“ orakelte der Alte und paffte weiter an seiner Pfeife.
Ich sah ihn an und dieses Mal war ich gar nicht über seine Geschichten amüsiert.

*

In den nächsten Tagen besserte sich das Wetter und es wurde noch einmal richtig warm. Der Himmel lag fast wolkenlos über der See und nur die früh hereinbrechende Dämmerung ermahnte uns, dass das Jahr unaufhaltsam voranschritt.
Um das Haus herum hatte meine Frau den Sommer über einen Blumengarten angelegt. Sie besaß für Pflanzen das gleiche Geschick wie für die Wohnungsgestaltung und nun, im September, blühten Azaleen einträchtig neben Ginster und Astern. Am Eingang hatte sie zwei Magnoliensträucher gepflanzt und hoffte, so wie sie es mir erklärte, dass sie im kommenden Mai bereits wundervolle weiß-rote Blüten zeigen würde.
Sie war sehr zufrieden über das Ergebnis und den Kotten, welcher bisher so schlicht mitten in der Marsch gestanden hatte, umkleidete inzwischen ein farbiger Gürtel, der das Haus ein Stückchen mehr in ein Heim verwandelte.
Jetzt, so erklärte Ursula in ihrer planenden Art, fehle lediglich noch ein Pavillon, auf der windgeschützten Seite mit Blick auf den Deich, dass wir im Sommer dort die warmen Abende genießen könnten.
„Das wäre doch hübsch“, meinte sie lakonisch und mir war bewusst, dass sie diesen Gedanken keineswegs mehr vergessen würde.
Ich war nie ein geschickter Baumeister gewesen. Mir fehlte das handwerkliche Gespür und auch wenn ich mir Mühe gab, so waren die Ergebnisse doch recht mäßig. Kleinere Reparaturen traute ich mir durchaus zu, die Bau solch eines Pavillons überstieg meine Fähigkeiten allerdings bei weitem. Dies jedoch war für Ursula noch lange kein Grund, die Idee fallen zu lassen und da ich das wusste, beschloss ich, mich im Dorf nach einem geeigneten Helfer umzuhören.
Pastor Reiners hielt dies für eine ausgezeichnete Idee, ganz abgesehen davon, dass er ein Faible für Pavillons besaß und sich sehr gut vorstellen konnte, im kommenden Jahr dort mit mir bei einem Glas Wein ausgiebig zu philosophieren. Er empfahl mir Eric Johansson.
Nachdem ich den Bauern aufgesucht und ihm unsere Vorstellung erklärt hatte, fragte er mich, ob wir schon über genauere Zeichnungen verfügten, worauf ich ihm wahrheitsgemäß antworten musste, dass ich es nicht wisse und er sich darüber vielmehr mit meiner Frau unterhalten müsse. Er stimmte zu, uns am nächsten Tag zu besuchen.
Eric Johansson kam vormittags. Ursula erwartete ihn bereits. Im
Wohnzimmer lagen die Entwürfe des Pavillons aus allen möglichen Perspektiven bereit und kaum, dass ich die beiden einander vorgestellt hatte, begannen sie ein Gespräch im fachlichen Kauderwelsch, dass ich mich entschloss, sie in Ruhe arbeiten zu lassen und einen morgendlichen Spaziergang zu unternehmen, den ich mit einem Besuch bei meinem Arzt abzuschließen gedachte.
Zwei Stunden schritt ich so durch die Marsch. Der Tag war bedeckt, die Wolken hingen wie eine filzige Wolldecke über dem Land und ohne die direkte Einwirkung der Sonne wurde es bereits kühl. So verlor ich das Vergnügen an der Wanderung und wandte meine Schritte dem Dorf zu.
Dr. Basils Haus lag von unserem Anwesen aus hinter dem Kern des Dorfes. Es war keine Praxis im eigentlichen Sinne. Er besaß ein großes Haus, eines der wenigen, das in seiner schlichten, funktionellen Art erst vor gut dreißig Jahren errichtet worden war und inmitten der alten, traditionellen Bauten fehl am Platze wirkte. Da die vielen Räume für ihn als alleinstehenden, älteren Mann mehr als genug waren, hatte er im vorderen Teil eine Art Sprech- und Behandlungszimmer eingerichtet, mit all der notwendigen Ausstattung, die ein Landarzt benötigte. Das nächste Krankenhaus lag mindestens vierzig Kilometer entfernt.
Dr. Basil war der einzige praktizierende Arzt auf der Marsch, so dass er sich über einen Mangel an Arbeit nicht beklagen konnte. Da er auch Hausbesuche machte, hatte er eine Helferin angestellt, Annette Mühring, eine Frau Anfang vierzig, eine zierliche, schlanke Person, die in ihrer Art freundlich ruhig, doch eher verschlossen wirkte. Auch sie war alleinstehend, obwohl mich das bei ihrem Aussehen doch sehr überraschte, und wohnte kaum hundert Meter von der Praxis entfernt in einem kleinen, baufälligen Haus, das sie von ihren Eltern geerbt hatte und es ihr erlaubte, zu jeder Zeit des Tages für ihre Arbeit zur Verfügung zu sein.
Als ich eintrat, saß sie an ihrem Schreibtisch und ordnete die Tagespost.
„Guten Morgen“, sagte ich und Frau Mühring hob den Kopf.
„Guten Morgen“, antwortete sie. „Der Doktor ist nicht da, er macht einen Hausbesuch drüben bei Bauer Schellers. Ich erwarte ihn erst in einer Stunde zurück.“
„Dann werde ich warten, falls es ihnen nichts ausmacht“, entgegnete ich und setzte mich auf einen der beiden Stühle.
Sie nickte mir freundlich zu und beugte sich wieder über die Arbeit.
„Möchten sie vielleicht einen Kaffee?“ fragte sie zwischendurch und ich nickte dankend.
Doktor Basil kam tatsächlich nach kaum einer Stunde. Ich hörte, wie er den Wagen parkte und wenige Augenblicke später trat ein weißhaariger, spindeldürrer Herr ein. Er schüttelte sich und stellte seinen Stock, den er seit einigen Jahren benötigte, in den Schirmständer.
„Unangenehmes Wetter“, sagte er zu Frau Mühring gewandt. „Würde mich nicht wundern, wenn die Regenzeit nun bald beginnt.“
„Kann wohl sein“, entgegnete sie, um darauf gleich geschäftlich zu werden. „Herr Pohl wartet auf sie.“
Dies war mein Stichwort und ich stand auf. Der Doktor reichte mir die Hand, sein Griff war stark und kalt.
„Herr Pohl, wieder mal im Dorf?“
„Ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit, mein Herz überprüfen zu lassen. In der letzten Zeit gab es doch einige Aufregungen.“
„Na, da kommen sie mal mit!“ wies der Doktor mich an und ging mit einem leichten Hinken an mir vorbei in den Behandlungsraum.
Die Untersuchung dauerte nur eine halbe Stunde und als wir danach am Schreibtisch uns gegenübersaßen, blätterte Doktor Basil ein bisschen in meiner Krankenakte, während ich gespannt auf sein Urteil wartete.
Schließlich klappte er den Deckel zu und meinte:
„Ihrem Herzen geht es erstaunlich gut, mein Lieber. Die Seeluft und die Ruhe scheinen ihnen zu bekommen.“
„Was die Luft betrifft, so haben sie damit sicher recht, Herr Doktor“, entgegnete ich. „Mit der Ruhe haperte es in der letzten Zeit ein wenig.“
Und ich erzählte ihm von den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit. Abschließend berichtete ich ihm noch von Jan Helmes’ Urteil.
Da lachte der Doktor, so laut es seine heisere Stimme erlaubte, auf.
„Sie werden doch nicht an so etwas glauben, Herr Pohl?“ fragte er scherzhaft.
„Nein, im Grunde nicht“, entgegnete ich ernsthaft und fühlte mich dabei wie ein Kind, das sich das Märchen von Rotkäppchen erklären lassen musste.
„Ich bin sicher, dass es ganz logische Erklärungen für die Vorfälle gibt. Denken sie einfach nicht mehr darüber nach“, riet er mir und stand auf.
„Nun muss ich aber leider weiter“, erklärte Doktor Basil. „Pastor Reiners erwartet meinen Besuch. Er hat sich eine Erkältung zugezogen und ich fürchte, dass sie sich zu einer Mittelohrentzündung auswachsen kann. Bei diesem Wetter ist das ja kein Wunder.“
Er reichte mir die Hand und wir vereinbarten den nächsten Termin in zwei Wochen. Im Wartezimmer saß Annette Mühring nach wie vor über die Post. Ich lächelte ihr zu und verabschiedete mich.
Da ich erwartete, dass meine Frau und Eric Johansson ihre Besprechung längst schon beendet hatten, wandte ich meinen Schritt direkt dem Kotten zu. Ich freute mich über das Ergebnis der Untersuchung. Noch hatte ich vier Monate der Genesung vor mir und ich war sicher, dass ich zu Beginn des neuen Schuljahres meine Tätigkeit wieder aufnehmen konnte, die, wie ich gestehen musste, mir doch fehlte.
Unterwegs zum Kotten traf ich auf die beiden Männer, welche ich Tage zuvor in der Gaststätte von Piet Krüger bemerkt hatte. Nun, in voller Gestalt vor mir stehend, fühlte ich mich bestätigt, dass der eine von ihnen ein wahrhafter Riese an Größe und Fülle war. Sie schlenderten über die Marsch und sprachen angeregt miteinander.
Als sie mich kommen sahen, blieben sie stehen und erwarteten mich.
„Guten Tag“, grüßte ich die beiden freundlich. „Sie machen einen kleinen Spaziergang nach dem Essen?“ fragte ich augenzwinkernd.
„Guten Tag“, erwiderte der kleinere von beiden den Gruß. „Ja, es ist ein angenehmer Tag.“
„Hm, ich denke, dass es bald regnen wird. Hier in unmittelbarer Nähe der See schlägt das Wetter schnell um. Sie sind fremd hier?“ fragte ich ein wenig neugieriger als es mir zustand.
„Wir sind am Wochenende angekommen“, erteilte mir der Kleine amüsiert Auskunft. Er mochte wissen, dass nicht viel auf der Marsch passierte und jeder Fremde eine willkommene Abwechslung bot.
„Mein Name ist Markus Braun und dies hier“, dabei wies er auf seinen voluminösen Gefährten, „ist Christoph Leifert.“
„Sehr angenehm“, entgegnete ich. „ich heiße Frank Pohl und wohne auf dem Kotten, den sie dort hinten sehen.“
Markus Braun nickte.
„Ich weiß, wir wurden zufällig Zeugen ihres Gespräches in der Gaststätte.“
„Ja, ich erinnere mich“, antwortete ich unangenehm berührt. „Bitte entschuldigen sie, dass wir sie mit solchen Dorfgeschichten belästigt haben.“
Markus Braun lächelte.
„Ich bitte sie! Für uns Städter sind solche Erzählungen wirklich spannend, nicht wahr?“
Mit dieser Frage wandte er sich Herrn Leifert zu.
„Natürlich“, bestätigte dieser. „Der Alte scheint ja ein toller Geschichtenerzähler zu sein. Vielmehr aber interessiert mich ihr Bericht. Die Sache mit der Schloss klingt recht eigenartig.“
„Nun, ich glaube beinahe, dass letztendlich Hein Olson doch recht haben könnte und wir nur glaubten, die Tür abgeschlossen zu haben. Des Abends ist es in der Tat ziemlich dunkel in unserer Küche. Hoffentlich hat sich die Angelegenheit damit erledigt. Und sie“, wechselte ich das Thema, „sind sie zu Besuch hier?“
„So kann man es leider nicht nennen“, antwortete mir Herr Leifert und sein sonst so sympathisch heiteres Gesicht wurde ernster, „eine Tante von mir wohnte im Dorf und ist eben leider verstorben.“
„Das tut mir leid.“
„Sie war über achtzig und in den letzten Jahren doch schon etwas wackelig auf den Beinen. Ich bin ihr einziger Verwandter, jedenfalls von denen, die an der Beerdigung teilnehmen und sich um ihr kleines Häuschen kümmern können. Herr Braun erbot sich, mich zu begleiten.“
„Wann ist die Beerdigung?“ fragte ich.
„Am Freitag.“
„Wenn es meine Zeit erlaubt, werde ich kommen“, beschloss ich.
„Das ist sehr nett von ihnen“, nickte Herr Leifert. „Kannten sie meine Tante?“
„Sicher nicht. Meine Frau und ich stammen aus Hamburg und kommen nur zum Wochenende hierher. Im Kotten wohnen wir erst seit zwei Monaten.“
„Dann möchten wir sie nicht länger aufhalten. Vielleicht sehen wir uns ja noch einmal im Gasthof“, sagte Markus Braun und gab mir die Hand.
Wir verabschiedeten uns und ich schlenderte den Weg entlang zu unserem Haus. Die beiden Männer spazierten weiter in Richtung der Dünen, dass ich ihre Gestalten bald schon nicht mehr richtig erkennen konnte.

*

Als ich den Kotten erreichte, war Felix da. Er hatte zwei Tage Urlaub und sich kurzfristig entschlossen, uns zu besuchen. Eric Johansson war bereits gegangen und nun standen Ursula und Felix gemeinsam vor dem Haus, hielten einen Plan in der Hand und betrachteten die Fläche, auf dem der Pavillon entstehen sollte.
Felix hielt den Kopf schräg und sah auf die Zeichnung.
„Hallo mein Junge“, rief ich ihm entgegen.
Er sah auf und winkte mir zu.
„Wir haben gar nicht mit dir gerechnet“, sagte ich und klopfte ihm, nachdem ich die beiden erreicht hatte, herzlich auf die Schultern.
„Ich dachte, ich sehe einfach einmal vorbei, damit ihr auch keinen Unfug anstellt, aber wie ich sehe, komme ich wohl zu spät.“ Dabei grinste er zu meiner Frau hinüber.
„Felix ist von unserem Vorhaben begeistert“, sagte Ursula, die mir zur Seite trat und sich unter meinen Arm hakte. „Johansson hält es für durchführbar und ist mit dem Entwurf einverstanden, obwohl wenn er einige Änderungen für notwendig hält.“
Ich blickte auf den Computerausdruck. Ursula hatte den Pavillon in Form eines Pentagramms entworfen. An vier Seiten waren die Holzwände bis zur Hüfthöhe hochgezogen und auf der Brüstung mit Blumenkästen verkleidet. Eckpfeiler trieben das Gebilde bis zu einer Höhe von zwei Meter dreißig empor. Den Abschluss bildete ein spitzes Dach, das sich Ursula aus Stroh gedacht hatte. Zum Schutz gegen den Wind hatte sie vier Fensterscheiben eingesetzt. Dies alles, in hellem, braunem Holz gefertigt, sah recht hübsch aus und ich bewunderte den Geschmack meiner Frau.
„Der Preis, den Johansson verlangte, ist fair“, schloss sie ihren Bericht. „Nächste Woche können wir beginnen. Kommt mit ins Haus und lasst uns den bevorstehenden Bau feiern!“
Felix und ich machten es uns im Wohnzimmer gemütlich und Ursula kochte einen Kaffee.
„Ich freue mich, dass du gekommen bist“, sagte ich, während Felix sich in die Nähe des Kamins setzte und sich eine Zigarette anzündete.
„Ich muss doch wissen, wie es euch beiden hier so geht“, erklärte er gerade in dem Augenblick, als Ursula mit der Kaffeekanne den Raum betrat.
„Hervorragend, wie du siehst“, antwortete sie und lächelte Felix an.
„Bis auf kleinere Ärgernisse“, ergänzte ich und als mein Neffe mich verwundert anblickte, erzählte ich auch ihm von den Ereignissen, die sich nun in meinem Kopf festgesetzt hatten. Dies war der Tag der Erzählung.
Felix hörte mir aufmerksam zu und schüttelte schließlich den Kopf.
„Das scheinen mir dumme Zufälle zu sein.“
„Denkst du?“ fragte ich.
„Natürlich. Was denn sonst?“
Und nun berichtete ich ihm von Jan Helmes` Orakel. Doch Felix winkte ab.
„Das glaube ich jetzt wirklich nicht!“ entschied er bestimmt.
„So?“ ich zog die Augenbrauen hoch. „Hattest du mir nicht vom Mysterium der Welt erzählt und darauf hingewiesen, dass es mehr geben mochte, als wir zu wissen imstande seien?“
„Ja, das habe ich gesagt. Aber diese Geschichte hört sich doch zu absurd an. Ein Geist, der keine Ruhe findet und euer Haus besucht. Also wirklich, Onkel Frank! Gerade von dir habe ich das nicht erwartet!“
„Lasst das mal“, mischte sich daraufhin Ursula ins Gespräch. „Sprechen wir lieber über den Pavillon. Das ist etwas Anregendes!“
In der nächsten Stunde unterhielten wir uns ausgiebig über das Vorhaben, dass schließlich die Zeit für das Essen kam. Am Abend besuchte uns Pastor Reiners. Er erkundigte sich nach dem Ausgang meines Gespräches mit Eric Johansson und war erfreut, von dem Fortschritt unserer Pläne zu hören.
Es hatte zu regnen begonnen und was zunächst als leichter Landregen begann, steigerte sich schließlich in einen mächtigen, andauernden Guss, so dass ich dem Pastor anbot, diese Nacht bei uns zu verbringen. Das Haus verfügte über zwei Gästezimmer und somit hatte sowohl Pastor Reiners als auch unser Neffe genügend Platz. In dieser gemütlichen Runde öffnete ich eine Flasche Wein.
Wir saßen zu viert am Kamin und Felix, als der Auswärtige dieser Gesellschaft, sah sich dazu berufen, Geschichten aus Hamburg zum Besten zu geben, die sich hier in unserem kleinen Kotten wie Berichte einer fremden Welt ausnahmen und uns amüsierten. Später am Abend erzählte zudem der Pastor lustige Begebenheiten aus seiner langjährigen Dienstzeit. Es war gegen Mitternacht, als wir die Runde schließlich aufhoben und zu Bett gingen.
Noch immer hörten wir den Regen gegen die Fensterscheiben prasseln. In den letzten Stunden hatte er zwischenzeitlich immer wieder etwas nachgelassen, dann aber mit der gleichen Heftigkeit abermals eingesetzt, so dass ich davon überzeugt war, dass er bis zum Morgen andauern würde. Es war ein wohliges Gefühl, nach diesem schönen Abend ins warme Bett zu schlüpfen und für einen Augenblick lauschte ich noch dem Geräusch der Regentropfen, bis ich fest eingeschlafen.
Gegen drei Uhr erwachte ich schlagartig. Ich konnte nicht sagen, was mich geweckt hatte. Das Zimmer lag in völliger Dunkelheit und zu meiner Überraschung hatte es aufgehört zu regnen.
Ich öffnete die Augen und starrte empor, dorthin, wo ich die Zimmerdecke vermutete. Neben mir atmete Ursula gleichmäßig tief und nun, als ich auf weitere Geräusche des Hauses lauschte entdeckte ich nur Stille. Einige Minuten verharrte ich so und dachte an nichts. Langsam senkte sich der Schlaf wieder über meine Augen und ich döste ein.
Da, plötzlich, erst von Ferne, dann immer lauter, drang ein Geräusch durch die Schlafzimmertür. Es war kein Knacken oder Schlagen, was ich auf das alte Gebälk zurückführen konnte, noch ein Gemurmel. Vielmehr ein Ton, der sich anhob in hohe Lage, dann nach einigen Sekunden abflachte und als er zu verstummen drohte, ehe er sich wieder erhob. Wie das Pfeifen des Windes, doch ich bemerkte, dass sich draußen kein Lüftchen regte. Das Geräusch wurde lauter, eindringlicher, bis ich es als Seufzer erkannte. So intensiv, dass nun auch Ursula aus ihrem Schlaf aufschreckte, mich fest am Arm ergriff und aufrecht im Bett saß.
„Was ist das?“ fragte sie atemlos.
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Wir beide lauschten gemeinsam einige Sekunden angestrengt auf dieses Schluchzen, das mittlerweile immer eindringlicher durchs Haus drang.
Ich stand auf, langsam, vorsichtig, so als spüre ich eine Furcht, die mein Herz ergriff und ging zur Tür. Meine Frau folgte mir. Wir traten auf den Flur hinaus und bemerkten, dass Felix und Pastor Reiners ebenfalls von dem Geräusch geweckt worden waren.
„Hört ihr das?“ fragte Felix und wir nickten.
Da brach das Seufzen unvermittelt ab. Wir vier gingen die Treppe hinunter und horchten weiterhin in die Stille hinein. Im Flur und Wohnzimmer war nichts zu entdecken. Wir öffneten die Tür zur Küche. Sogleich bemerkten wir den Schein der Kerze und, als Ursula das Licht einschaltete, das geöffnete Fenster, vor dem diese Kerze auf dem Sims stand. Eine leichte Brise wehte herein und die Flamme flackerte.
„Was, um Himmels Willen, hat das zu bedeuten?“ fragte der Pastor erstaunt.
Doch niemand von uns reagierte auf seine Frage. Nach wie vor standen wir unbewegt in der Tür und auch wenn ich natürlich nicht sagen kann, was die anderen in diesem Augenblick wirklich dachten, so war ich doch überzeugt davon, dass sie die gleiche Verunsicherung wie ich empfanden und nicht fähig dazu waren, in irgendeiner Weise vernünftig zu denken.
Felix gewann als Erster die Fassung wieder. Er eilte zu dem Sims, blies die Kerze aus und schloss das Fenster. Ursula neben mir hatte sich an den Türrahmen gelehnt und ich kannte meine Frau zu lange, um ihr Zittern nicht zu bemerkten. Ich legte ihr meinen Arm um die Hüfte und sie stützte sich auf meine Schulter.
„Dies ist aber nun langsam kein Spaß mehr“, knurrte ich erbost.
„In der Tat“, nickte Pastor Reiners, „das waren keine Randalierer. Es scheint mir viel eher ein Zeichen zu sein.“
„Das einsame Licht“, murmelte Felix.
„Wie bitte?“
„Das einsame Licht“, wiederholte mein Neffe. „steht im Fenster und weist dem Wanderer, der nicht nach Hause finden kann, den Weg.“
„Sehr pathetisch“, sagte ich, doch niemand hörte darauf.
In diesem Augenblick, so glaube ich nun im Nachhinein, dachten wir alle vier nur an eine Person, die wir mit diesem Verhalten in Verbindung brachten: Marte.
Doch niemand von uns sprach es aus. Zu unglaublich erschien es, dass an dieser alten Legende tatsächlich etwas dran sein könnte. Ein ruheloser Geist war schwer zu akzeptieren. Mein Kopf sträubte sich dagegen. Es musste, es konnte allein eine einfache, logische Erklärung für all diese Vorfälle geben.
Doch an diesem Abend, nachdem wir sämtliche Türen und Fenster überprüft und das Haus auf Eindringliche durchsucht hatten, wollte mir dazu nichts einfallen. Niemand von uns schien die Lust zu verspüren, ausgiebig darüber zu reden. Wir gingen wieder zu Bett und ich träumte von Geistern, die sich in unserem Pavillon einnisteten und sich vom Pastor Aristoteles erklären ließen.

*

Am nächsten Morgen war vom Regen der vergangen Nacht nichts mehr zu spüren. Die Sonne schien und mit ihr hob sich auch unsere Stimmung, dass keiner von uns den Vorfall der vergangenen Nacht erwähnte. Ursula widmete sich mit unverminderter Kraft der weiteren Planung des Pavillons und Felix stand ihr dabei zur Seite. Pastor Reiners verabschiedete sich bereits früh; er hatte im Dorf noch einiges zu tun.
Niemand von uns brachte die Sprache auf das Ereignis und selbst wenn es höchst ungewöhnlich erschien, so war es wie eine stumme Übereinkunft, an die wir uns strikt hielten.
Trotzdem, aus irgendeinem Grunde, machte die Geschichte die Runde im Dorf. Ich hörte sie von Jan Helmes, als ich ein paar Tage später den Gasthof besuchte und meiner Meinung nach konnte es nur der Pastor gewesen sein, der das Stillschweigen nicht eingehalten hatte.
Selbstverständlich sah der alte Geschichtenerzähler ein Omen darin und wenigstens hatte er mit Herrn Leifert und Herrn Braun zwei neue Anhänger für seine Orakel gewonnen, dass er sich nicht mehr hauptsächlich auf mich konzentrierte, was mir in dieser Situation auch durchaus angenehm war.
Sie saßen gemeinsam mit Jan Helmes am Tisch und insgeheim amüsierte ich mich darüber. Diesen Hang zum Mystischen hätte ich den beiden nicht zugetraut. Ich hatte von ihnen den Eindruck gewonnen, sie wären als Handelsvertreter unterwegs.
Wie versprochen ging ich am Freitag zur Beerdigung von Herrn Leiferts Tante. Soviel ich wusste, hatte sie ihr ganzes Leben in diesem Dorf zugebracht und es verwunderte mich nicht, dass zu ihrem Begräbnis sehr viele Bewohner erschienen waren. Pastor Reiners hielt eine gefühlvolle Ansprache über die Erlösung und den Verlust eines Menschen. Er hatte Tante Lissie, so nannte er sie liebevoll in seiner Ansprache, ebenfalls gekannt und die Wertschätzung ihr gegenüber mochte sehr hoch gewesen sein, denn obwohl sein Ton sehr geschäftsmäßig klang, so schwankte die Stimmlage, woraus ich schloss, dass diese Arbeit ihm beträchtlich zu Herzen ging.
Christoph Leifert hatte einen schwarzen Anzug angezogen und stand zuvorderst am Grab. Markus Braun hatte ich in die hinteren Reihen zurückgezogen. Herr Leifert wirkte wuchtig, so wie er mit verschränkten Händen und gesenktem Kopf vor der zwei Meter tiefen Kuhle stand, wie ein griechischer Pankratiast, der die Götter vor dem Kampf um Beistand anflehte.
Markus Braun hingegen ließ den Blick durch die Reihen wandern und ich spürte, wie er mich ein paar Augenblicke ansah. Ich ließ mir nichts anmerken, verharrte starr in meiner demutsvollen Haltung und lauschte Pastor Reiners Stimme.
In einer halben Stunde war alles vorüber und die Gesellschaft löste sich auf. In kleinen Gruppen verließen sie den Friedhof. Viele von ihnen gingen nach Hause, einige jedoch auch in Piet Krügers Gasthaus.
Ich war einer der Letzten, der Christoph Leifert sein Beileid aussprach. Wortlos nickte er mir zu und ich wandte mich zum Gehen. Da trat sein Freund auf mich zu.
„Kann ich sie einen Augenblick sprechen, Herr Pohl?“ fragte er.
Ich war ein wenig überrascht, gestattete es jedoch.
Er warf Herrn Leifert einen kurzen Blick zu, schlenderte dann aber mit mir in einen der Seitenwege des kleinen Friedhofs. Ein Hain von Fichten beschattete hier die verwitterten Grabsteine, die zum Teil noch auf dem neunzehnten Jahrhundert stammten und sobald die Sonne uns nicht mehr direkt erreichte, wurde es empfindlich kälter, so dass ich froh war, meine warme Felljacke über den Anzug gezogen zu haben.
„Was kann ich für sie tun?“ fragte ich, als wir einen Teil des Weges zwischen den Grabsteinen durchgeschlendert waren.
„Ich habe gehört, was bei ihnen vor ein paar Nächten geschehen ist“, begann er und sah mich dabei mit schräg geneigtem Kopf an.
„So? Wird die Geschichte schon im Dorf erzählt?“ entgegnete ich und ich gestehe, dass es mich ärgerte.
Markus Braun lächelte.
„Jan Helmes hört sehr viel“, antwortete er wie zur Entschuldigung, sprach dann aber ernsthaft weiter. „Er war es auch, der uns die Legende von der Marte auf dem Deich ausführlich erzählte.“
„Sie werden doch diesen Unsinn etwa nicht glauben?“ fragte ich empört.
„Nein, ich glaube das nicht“, bestätigte mir Markus Braun absolut ruhig, „Geister sind nicht meine Welt. Ich glaube allerdings ganz fest, dass irgendjemand ihnen schaden will.“
„Auf diesen Gedanken sind meine Frau und ich auch schon gekommen. Möglicherweise ist es ein Nachbar, den unsere Anwesenheit hier nicht gefällt. Vielleicht jemand, der den Kotten für sich kaufen wollte.“
Doch Markus Braun schüttelte den Kopf.
„Das wäre eine Möglichkeit. Ich denke jedoch an jemanden aus ihrem direkten Umfeld. Jemanden, der ihr Haus kennt, vielleicht sogar einen Schlüssel besitzt.“
„Einen Schlüssel?“
„Ja, es bedeutet nicht unbedingt, dass sie ihm einen gegeben haben. Er könnte ihn sich nachgemacht haben. Außerdem kennt er die Geschichte von Marte auf dem Deich ebenso wie sie und diesen Umstand macht er sich zunutze.“
„Aber wer könnte das sein?“ fragte ich verblüfft und starrte meinen Gesprächspartner an.
Er antwortete mir nicht darauf, betrachtete stattdessen die Bäume, deren Geäst sich im sanften Wind über die Gräber neigte. Ich dachte nach und die Blätter rauschten, als eine kräftigere Brise durch sie hindurch fuhr.
„Sie meinen doch nicht etwa…“, ich stockte. Nein, dieser Gedanke, der mir nun gekommen war, schien mir zu absurd. Nie, nie im Leben könnte es so sein, und doch, wenn ich Markus Brauns Vorgaben in Betracht zog…, es konnte nur er sein.
„Sie meinen am Ende nicht etwa Felix?“ wiederholte ich und wagte dieses Mal den Namen auszusprechen.
Wieder ging Markus Braun auf meine Frage nicht direkt ein.
„Was geschieht, wenn ihnen etwas zustößt?“ fragte er ruhig.
„Dann erbt alles meine Frau, so wie ich, bei ihrem Tode“, gab ich zur Auskunft.
„Und wenn sie beide sterben?“ fragte Braun weiter. „Wer ist ihr Nutznießer?“
Ich stockte einen Augenblick und ahnte, dass Markus Braun die Antwort bereits wusste.
„Felix“, entgegnete ich zögerlich. „Aber“, hier wurde meine Stimme nun energischer, „warum sollte er uns so etwas antun? Er hat seine eigene Firma, ist auf unser Geld, und glauben sie mir, das ist nicht allzu viel, weder angewiesen, noch ist er gierig.“
„Läuft seine Firma wirklich so gut?“ bohrte der andere nach. „Woher wissen sie um die Verhältnisse?“
Ich schwieg.
„Auch wenn er kein Geld erben würde, so wäre es in diesem Fall immerhin Land.“
„Sie irren sich“, rief ich vehement. „Felix kann das unmöglich getan haben.“
„Bitte verstehen sie mich nicht falsch“, sprach Markus Braun gelassen weiter, „ich kann es weder behaupten, noch beweisen. Dass ihnen jedoch jemand schaden will, und zwar mit diesen Voraussetzungen, die ich vorhin umschrieben habe, das ist sicher.“
„Was sollen wir denn machen?“ fragte ich nun schon ein wenig verzweifelt.
„Kommt es zu einem Verbrechen, so wird es ganz sicher aufgeklärt werden. Doch das wollen wir nicht hoffen. Ich möchte sie warnen, seien sie vorsichtig!“
Wir sahen uns einen Augenblick in die Augen und dann, als wir das Ende des Seitenweges erreicht hatten, gaben wir einander die Hände und Markus Braun ging zurück zu seinem Freund, während ich langsam und in tiefen Gedanken versunken den Friedhof verließ und mich zu meinem Doktor begab.

*

Am Montag begann Eric Johansson mit dem Bau des Pavillons. Die ersten Bretter hatte er am Wochenende geschnitten, so dass er sie nun zum Fußboden des Pentagramms zusammenfügen konnte. Meine Frau und ich halfen ihm dabei und als der Nachmittag kam, war die untere Fläche fast vollständig fertig, dass Johansson meinte, am Mittwoch könnten wir bereits mit den Seitenwänden beginnen. Dies ginge leider nicht früher, da die Verzierungen am den Kopfenden doch mehr Arbeit bereiteten als die simplen Zuschnitte. Ursula gab sich damit zufrieden, auch wenn ihre Ungeduld nur schwer zu bändigen war.
Die ganze Zeit über ging mir das Gespräch mit diesem seltsamen Herrn Braun nicht aus dem Kopf. Er hatte mir mit seinen Überlegungen doch mehr Angst eingeflößt, als ich es zugeben wollte. Natürlich kam Felix nicht wirklich als Täter in Betracht, dies war einfach unmöglich. Immerhin hatte dieser Fremde Fakten aufgezählt und durch seine logischen Schlussfolgerungen durchaus meiner Geisteshaltung entsprochen. Irgendjemand, da gab ich ihm vollkommen recht, hatte es darauf abgesehen, uns einen gehörigen Schrecken einzujagen. Wenn man dabei berücksichtigte, dass es nicht allzu gut um mein schwaches Herz bestellt war, konnte diese Angelegenheit durchaus gefährlich werden.
Felix mir jedoch als Täter vorzustellen, gelang mir nicht. Gut, er war derjenige, dem wir einen Schlüssel für den Notfall überlassen hatten. Und er war es auch, der uns beerben würde. Dies aber rechtfertigte noch lange nicht diese Überlegung.
Doch wenn ich meinen Neffen aus dem Verdacht herausnahm, so fiel es mir schwer, jemand anderen zu benennen. Pastor Reiners besuchte uns von den Dorfbewohnern am häufigsten. Doch diese Idee war einfach lächerlich, abgesehen davon, dass ich mir beim besten Willen kein Motiv vorstellen konnte.
Die Leute aus der Gaststätte hatten sehr wohl schon die Legende der Marte gehört, doch war ich mit ihnen noch nie in solchen Kontakt getreten, dass mir von ihnen jemand aufgefallen wäre.
Möglicherweise handelte es sich bei dem Unbekannten um einen der angrenzenden Nachbarn, die sich Hoffnungen auf unser Land machten. Aber auch hier hatte ich sie nur kurz kennengelernt und weiter keinen Umgang mit ihnen, so dass ich es letztendlich nicht beurteilen konnte.
Dass ich in meinen Überlegungen nicht weiterkam, beunruhigte mich am meisten. Ich hatte meiner Frau von dem Gespräch nichts erzählt, da ich wusste, dass die Vorstellung eines solchen Anschlages sie arg mitgenommen hätte. So blieb ich mit meinen Gedanken allein.
Als ich am Nachmittag ins Dorf ging, tat ich dies in der Hoffnung, Herrn Braun zu treffen. Wie der Wirt mir aber erzählte, waren die beiden an diesem Morgen in die Stadt gefahren und gedachten erst morgen zurückzukehren.
So trank ich mein Bier allein in der Gaststätte, in der sich glücklicherweise auch Jan Helmes nicht befand. Seine Anspielungen auf das Unwesen Martes hätte ich an diesem Tag wohl sehr schwer ertragen.
Am frühen Abend, als die Stube sich langsam füllte, brach ich auf. Die Gefahr, dem alten Geschichtenerzähler letztendlich doch noch in die Hände zu laufen, schien mir zu groß.
Es war ein finsterer Abend, die Wolken schwarz und sie hingen tief über der Marsch. Kälte zog von der See herüber und ich hielt mit einer Hand meinen Kragen geschlossen, als ich langsam den Weg zu unserem Kotten zurückstapfte.

*

Mitten in der Nacht erwachte ich. Es war kein Geräusch, das mich aufgeschreckt hatte. Es war vollkommen still, nur die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge meiner Frau neben mir waren zu hören. Ich achtete jedoch nicht auf sie, lediglich auf den warmen, gelben Schein, der durch unser Schlafzimmerfenster drang.
Sofort sprang ich aus dem Bett und lief hinüber, öffnete in einem Ruck die beiden Flügel und steckte den Kopf hinaus. Da hörte ich das Prasseln, das Knacken und Lodern. Und Wärme zog zu meinem Gesicht hinüber, dass ich die Augen zusammenkneifen musste. Ein Geruch, beißend und penetrant, schlängelte sich durch meine Nase empor und nahm mir den Atem.
Schnell zog ich den Kopf zurück.
„Feuer!“ rief ich und meine Frau schreckte aus dem Schlaf empor. „Der Pavillon brennt!!“
„Wie? Was?“ rief sie erschrocken, noch ganz schlaftrunken und doch schon hellwach, um das Unglaubliche zu realisieren. „Mein Pavillon?“
Allerdings hörte ich schon nicht mehr auf sie, riss die Schlafzimmertür auf und stürmte die Treppe hinunter.
Als ich die Vordertür aufstieß, wurde die Hitze fast unerträglich. Kaum zehn Meter seitlich von mir züngelten die Flammen empor und selbst wenn bisher lediglich der Fußboden gelegt worden war, so brannten die Bohlen doch lichterloh.
Ich wich einen Schritt zurück und hielt schützend den Oberarm vor die Augen. Hinter mir hörte ich einen Schrei. Ich wandte mich um. Meine Frau stand in der Tür, die Hände vor dem Gesicht zusammengeschlagen.
„Mein schöner Pavillon!“ rief sie aus.
Ich drängte sie, ohne ein weiteres Wort, zurück ins Haus. Da hörte ich ein Wagengeräusch ganz in der Nähe und als ich in die Richtung stierte, gewahrte ich zwei Scheinwerfer, die sich unserem Kotten näherten.
Die Lichter wuchsen rasch und wenige Augenblicke später stoppten sie kurz vor meiner Frau und mir. Die Wagentür wurde aufgerissen und ein Mann sprang heraus. Es war Eric Johansson.
„Ich sah den Flammenschein von meinem Hof aus“, sagte er hastig, wandte sich dem Feuer zu und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Was ist passiert?“ fragte er.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete ich ihm. „Plötzlich erwachte ich von irgendetwas und da brannte der Pavillon bereits lichterloh.“
„Der ist nicht mehr zu retten“, urteilte Johansson und ich fand diese Aussage, wenn auch durchaus wahr, als zu hartherzig in Gegenwart meiner Frau.
„Wir müssen die Polizei rufen“, sprach er weiter.
„Polizei?“ fragte ich überrascht.
„Natürlich. Die Brandursache muss geklärt werden.“
„Wie meinen sie das?“ fragte ich ein wenig einfältig.
Johansson sah mich nur an, sagte aber nichts dazu. Dann aber erwiderte er:
„Es reicht auch morgen früh. An dieser Stelle ist eh nichts mehr zu retten und in der Dunkelheit kann man gar nichts erkennen. Außerdem“, er wies auf den grauschwarzen Himmel, an dem sich im matten weißen Mondschein riesige Kumuluswolken aufgetürmt hatten, „wird es nicht mehr lange dauern, bis es zu regnen beginnt. Er wird das Feuer, das nun bereits an Kraft verloren hat, gänzlich löschen. Kommen sie ins Haus, hier gibt es nichts mehr zu tun.“
Er drängte mich in die Tür hinein. Meine Frau stand immer noch an der gleichen Stelle und starrte auf die Flammen. Ich legte ihr meinen Arm um die Schultern.
„Wir bauen einen Neuen“, versuchte ich sie zu trösten, doch gelang es mir nur leidlich.
„Das Feuer ist nicht mehr gefährlich“, erklärte Johansson so kaltblütig, dass es mich schauderte. „Die Flammen hätten schon längst auf das Haus überspringen können. Nun ist es bereits zu klein. Sie haben Glück gehabt.“
„Glück?“ schrie meine Frau auf.
Johansson und ich sahen einander an. Er hatte recht. Wir hätten im Schlaf überrascht und getötet werden können. Dieser Gedanke war mir bisher gar nicht in den Sinn gekommen.
„Ich gehe in die Küche und koche einen Tee“, beschloss Johansson, weiterhin ohne jede Gemütsregung. „Sie setzen sich erst einmal und beruhigen sich ein wenig.“
Ursula nahm mechanisch im Lehnstuhl am Kamin Platz und ich ihr gegenüber. Durch das Fenster erkannten wir nach wie vor den Schein des abflachenden Feuers. Wir sprachen kein Wort. Als Johansson zehn Minuten später mit dem Tee eintrat, hatte der Regen eingesetzt. Die Flammen waren nun kaum noch zu erkennen.

*

Am folgenden Morgen regnete es weiterhin.
„Sauwetter“, knurrte Wachtmeister Olson, als er aus dem Wagen stieg. Er schüttelte seine Mütze aus und trat auf meine Frau und mich zu, die wir seinen Wagen gehört hatten und ihn nun in der Tür erwarteten.
Mit einem Seitenblick wandte er sich dem verkohlten Haufen zu, der gestern noch das Fundament unseres Pavillons gebildet hatte.
„Schade drum“, brummte er. „Wie ist das passiert?“
Wir gingen ins Haus und setzten uns in die Küche. Dort erzählte ich ihm die Geschehnisse der vergangenen Nacht. Er hörte mir aufmerksam zu und sah nur einmal kurz auf, um Ursula freundlich zuzunicken, die ihm einen Kaffee gab.
„Und sie haben nicht bemerkt, wie das Feuer entstanden ist?“ fragte er mich, nachdem ich meinen Bericht abgeschlossen hatte. Meine Frau und ich schüttelten den Kopf.
„Als ich erwachte, war bereits alles zu spät“, ergänzte ich.
„Kennen sie jemanden, der ein Interesse daran haben könnte, dieses Feuer zu legen?“ fragte der Wachtmeister.
Wieder verneinten wir.
„Es wird schwer werden, nach diesem Regen mögliche Spuren zu erkennen. Da müssten schon die Kollegen aus der Stadt ran. Aber sehen wir uns den Haufen trotzdem einmal an!“ Olson stand auf und ich folgte ihm. Meine Frau blieb in der Küche. Sie schmerzte der Anblick noch immer.
Wachtmeister Olson beugte sich über die schwarzen Stummel, die kaum mehr als Holz zu erkennen waren. Ich blieb im angemessenen Abstand hinter ihm stehen und beobachtete ihn. Mit einem Stab, den er aus seinem Wagen mitgebracht hatte, schob er an einigen Stellen die Asche auseinander. Dann wanderte er weiter um den Haufen herum und wiederholte diese Aktion einige Male.
Schließlich, es mochte wohl eine Viertelstunde vergangen sein, richtete er sich wieder auf und rieb sich am Kinn.
„Hm“, murmelte er und wandte sich dabei halb zu mir um, „es ist nichts zu erkennen. Kein Hinweis auf einen Brandbeschleuniger oder ähnliches. Aber wie ich bereits erwähnte, müssten meine Kollegen diese Reste begutachten. Es ist mir unerklärlich, wie dieses Feuer ausgebrochen sein kann. In dieser Jahreszeit ist das Holz feucht genug, um nicht beim ersten Funken zu entzünden.“
Ich musste ihm beipflichten. Dieser Brand konnte kein Zufall sein und als Olson mir sagte, dass er sofort nach der Rückkehr seine Kollegen benachrichtigen würde, stimmte ich zu. Möglicherweise, so meinte er, könnte es bis morgen früh dauern, ehe sie kommen würden und bis dahin sollten wir nichts an der Brandstelle verändern.
Ich versprach es ihm und Wachtmeister Olson stieg in seinen Wagen.
„Wirklich ein Sauwetter“, brummte er abermals wie zur Bestätigung.
Als ich beobachte, wie er in Richtung des Dorfes fuhr kamen mir unwillkürlich die Worte Jan Helmes in den Sinn.
„Auf dem Kotten wohnt nicht das Glück.“
Doch dieses Mal konnte ich nur schwer an ein Unwesen Martes glauben. Trotzdem, der Alte hatte recht behalten.

*

Es regnete den ganzen Tag über und am späten Nachmittag begann der Sturm. Zunächst hörten wir bloß den Wind um die Fensterläden streichen. Ich kontrollierte sämtliche Verschlüsse. Sie würden halten.
Der Himmel über der See hatte sich einen schlammigen Tümpel verwandelt und die Wellen brausten, dass wir sie bis zum Haus hören konnten. Der Regen peitschte vor die Scheiben und langsam versank auch das letzte Licht irgendwo am Horizont, dass tiefe Dunkelheit das Haus umgab.
Ursula und ich waren im Wohnzimmer und ich hatte wieder einmal den Kamin entzündet. Während ich unaufmerksam in einem Buch über die Völkerwanderungen blätterte, saß Ursula still auf dem Sofa und blätterte lustlos in einer Country-Style-Zeitschrift. Ohne die Ereignisse der vergangenen Nacht hätte ich es vielleicht sogar als gemütlich empfunden. Doch so konnte selbst die sanfte Hintergrundmusik die Stille nicht überdecken. Es wurde später und ich überredete meine Frau, ein Glas Wein zu trinken. Jetzt erst löste sich ihre Zunge und wie erwartet fragte sie mich:
„Was glaubst du, wer so etwas Hinterhältiges tun kann?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich mit einem tiefen Seufzer. „Morgen kommt die Polizei und die werden das schon herausfinden. Und danach“, ich blinzelte ihr aufmunternd zu, „bauen wir einen neuen Pavillon. Davon sind wir nicht abzuhalten.“
Sie nippte wenig überzeugt an ihrem Glas. Wieder kehrte die Stille ein und ich vertiefte mich in mein Buch. Der volle Mond hatte ein Schlupfloch durch die Wolken gefunden und ein schmaler Streifen milchiges Licht ergoss sich durch das Fenster. Der Sturm aber schien an Kraft noch zuzunehmen.
Da plötzlich hörte ich einen schwachen Ruf. Ich sah von meinem Buch auf und lauschte. Auch Ursula hatte etwas gehört und legte ihre Zeitschrift beiseite.
„Was ist das?“ fragte sie und sah mich aufmerksam an.
„Da ruft jemand“, entgegnete ich, nachdem ich noch einige Sekunden gelauscht hatte. „Es klingt wie ein Hilfeschrei.“
Noch einmal strengten wir beide unsere Ohren an und wirklich, nun klang es lauter.
„Hilfe, Hilfe!!!“
Meine Frau und ich sahen einander an. Entschlossen, wie es die Art meiner Frau war, stand sie auf.
„Da ist jemand in Not! Wir müssen etwas tun!“
Schon eilte sie zur Tür, ich ihr hinterher. Schnell warfen wir uns die Mäntel über und traten hinaus in die Dunkelheit. Der Regen peitschte uns ins Gesicht. Wir senkten unsere Köpfe tief und lauschten noch einmal gegen das Prasseln und Pfeifen.
„Dort“, wies Ursula in Richtung Deich, „von dort kommen die Rufe.“
So schnell es uns bei diesem Wetter möglich war, liefen wir zu der Barriere der See. Der Mond hatte sich erneut hinter einer Wolke versteckt und um uns herum herrschte tiefste Dunkelheit.
Ich packte Ursula bei der Hand und zog sie mit. Die Rufe waren verstummt. Trotzdem strebten wir weiter dem Deich zu. Nichts war mehr zu erkennen. Waren wir schon weit von unserem Haus entfernt oder erst ein paar Meter? Ich wusste es nicht länger. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte ich in Richtung des Meeres. Doch es war nichts zu erkennen.
Da, plötzlich, trat der Mond für einen Augenblick hinter der Wolke hervor und der mächtige Schatten des Deiches war zu erkennen. Dahinter brauste die See. Oben auf dem Deich erkannte ich die Silhouette einer Gestalt.
„Sieh dort!“ schrie ich meine Frau gegen den Regen an.
Sie hob den Kopf und folgte meinem Finger. Abrupt blieb sie stehen und ich hielt sie weiter am Arm. Wir starrten hinüber.
Es war ein Körper, eine menschliche Gestalt und so viel ich erkennen konnte, musste es sich der Kleidung nach um eine Frau handeln. Sie stand starr gegen den Regen, den Blick auf den blanken Hans gerichtet. In diesem Augenblick wusste ich es.
„Die Marte!“ rief ich. „So ist es also doch wahr!“
Meine Frau, der ich die Geschichte natürlich erzählt hatte, schlug die Hände vor den Mund.
„Mein Gott!“ keuchte sie.
Der Mond verschwand wieder hinter einem dichten Wolkenschleier. Ich packte meine Frau an den Schultern und zerrte sie fort. Wir liefen über das raue Marschland. In den Ritzen der Erde hatte sich das Regenwasser angesammelt. Einige Male stolperten wir hinein, sanken auf die Knie, rappelten uns, aneinander geklammert, abermals auf und liefen weiter. Ich wusste nicht mehr, ob es in die Richtung unseres Kottens ging. Nur fort, fort vom Deich!
Mein Herz pochte und ich bekam Angst. Was würde geschehen, wenn ich nun einen Anfall bekäme? Wer könnte uns jetzt helfen? Meine Frau hatte die Panik genauso ergriffen wie mich. Doch bloß nicht weiter darüber nachdenken! Vorwärts! Vorwärts!
Und dort! Nach unendlich langer Zeit, so wie es mir erschien, sah ich die Schemen eines Hauses, unseres Hauses! Nein, es war nicht unser Haus, es war viel größer und ein weiteres Gebäude erblickte ich daneben. Eine Scheune wohl. Jetzt erst erkannte ich das Anwesen von Eric Johansson. Wir waren viel zu weit nach Westen gelaufen und hatten es noch nicht einmal bemerkt.
Ich hämmerte an die Tür und es dauerte lediglich einige Augenblicke, bis Johansson sie öffnete. Erstaunt sah er uns an. So durchnässt und mit verzerrten Gesichtern, wie wir vor ihm standen, konnte ich ihm das auch nicht verdenken.
„Was ist passiert?“ fragte er, besann sich dann jedoch eines Besseren, öffnete die Tür und zog uns schnell hinein. „Mein Gott, sie sind ja völlig nass. Lisa, komm einmal!“
Er hatte diesen Ruf in den rückwärtigen Raum geworfen und fast im selben Augenblick erschien dort eine zierliche, braunhaarige Frau, mittleren Alters, die, als sie uns erblickte, einen Moment innehielt, dann aber entschlossen auf uns zueilte, meine Frau in die Arme nahm und direkt in die Küche führte.
Johansson und ich folgten ihnen. Wir setzten uns an den Küchentisch, der gerade für uns Platz bot.
„Können sie mir jetzt erzählen, was passiert ist?“ fragte er erneut. Ich atmete einige Male tief durch. Lisa Johansson kochte in der Zwischenzeit einen Tee.
Hier, im Schein der warmen Lampe, erschien das soeben Erlebte wie ein Traum, unwirklich, und wenn ich meine Gedanken zusammennahm, so mussten wir uns getäuscht haben. Diese Geschichte war doch blanker Irrsinn!
Trotzdem erzählte ich sie langsam, zögernd, mit einer Scheu, dass die Johanssons uns für verrückt erklären würden. Meine Frau nickte nur dazu und dann, als ich die Gestalt auf dem Deich erwähnte, schrie sie auf.
„Die Marte war´s! Die Marte!“
„Unsinn“, widersprach Johansson. „Das ist doch bloß eine Legende. Sie haben sich getäuscht!“
„Nein, nein!“ rief meine Frau erneut. „Die Marte war´s! Ich habe sie deutlich gesehen!“
Johansson atmete tief durch.
„Na“, sagte er schließlich, als seine Frau den Tee auf den Tisch gestellt hatte, „ trinken sie erst einmal einen Schluck. Das wird ihnen sicher gut tun.“
Nun saßen wir schweigsam in der Küche, jeder von uns in seinen Gedanken versunken. Der Sturm draußen hatte nachgelassen und die Tropfen an der Scheibe verloren ihr Stakkato.
„Könnten sie uns eventuell nach Hause fahren?“ fragte ich Eric Johansson nach einer Weile.
„Möchten sie nicht heute hier bleiben?“ bot Klara Johansson an.
„Nein“, lehnte ich dankend ab. „Ich glaube, eine warme Dusche und das eigene Bett wird nun das Richtige für uns sein.“
„Ich werde sie fahren, aber erst, wenn sie ihren Tee ausgetrunken haben“, entschied Eric Johansson mit energischem Gesicht.

*

Eine Stunde später setzte Herr Johansson uns an der Haustür ab. Mit müdem Gesicht dankte ich ihm dafür und wartete nicht, bis sein Wagen nur noch als schmale Lichtpunkte in der Dunkelheit zu erkennen war.
Nach dieser ganzen Aufregung ging meine Frau erschöpft zu Bett. Ich hingegen fühlte mich noch zu aufgewühlt und beschloss, im Wohnzimmer eine Weile über all die Ereignisse nachzudenken.
Ich setzte mich in den Lehnstuhl und goss mir ein Glas Wein ein. Es war nun vier Uhr in der Nacht. Der Sturm hatte aufgehört und nur noch vereinzelt schlugen Regentropfen gegen das Fenster. Im ganzen Haus war mittlerweile die Stille wieder eingekehrt und auch wenn ich mich mit dem festen Vorsatz, nachzudenken, hingesetzt hatte, fühlte ich nun doch die Müdigkeit und döste einige Minuten später ein.
Ich schrak hoch, als es an der Tür klopfte. Die Uhr an der Wand zeigte, dass ich lediglich eine Viertelstunde eingenickt war. Es klopfte wieder, dieses Mal ein wenig lauter. Ich wunderte mich darüber, stand aber langsam auf und ging zur Tür.
Zu meiner Überraschung sah ich Herrn Braun mit seinem Freund. Sie waren nicht allein. Sie hatten Doktor Basil mitgebracht.
„Wo ist ihre Frau?“ fragte mich Herr Braun, kaum dass ich die Tür einen Spalt weiter geöffnet hatte.
„Im Bett, sie schläft“, entgegnete ich verwundert.
Herr Leifert und Doktor Basil drängten an mir vorbei und eilten in die Richtung unseres Schlafzimmers. Erschrocken sah ich ihnen nach. Herr Braun aber nahm mich beim Arm und zog mich zurück ins Wohnzimmer.
„Was soll das alles?“ fragte ich ihn zornig. Es war unverschämt, einfach in der Nacht hier bei uns einzudringen, ohne eine weitere Rechtfertigung abzuliefern. Doch Herr Braun legte mir die Hand auf die Schulter.
„Bitte entschuldigen sie unseren Auftritt. Ich werde ihnen sofort alles erklären. Setzen wir uns solange und warten wir auf Herrn Leifert.“
Mechanisch nickte ich und vielleicht hätte ich mich vor diesen zwei Herren, die letztendlich Fremde für mich waren, gefürchtet, wären sie nicht von Doktor Basil begleitet worden.
So aber saßen wir uns gegenüber und schwiegen einander an. Nur wenige Minuten später kam Herr Leifert aus dem Schlafzimmer zurück und nickte seinem Freund zu.
„Alles in Ordnung. Sie wird durchkommen.“
„Durchkommen?“ fragte ich und sah ihn erschrocken an. „Was meinen sie damit?“
„Doktor Basil pumpte ihrer Frau noch rechtzeitig den Magen aus“, erwiderte Herr Leifert hart. „Sie wurde vergiftet.“
„Vergiftet?“ schrie ich ihn an und sprang auf, um zu ihr zu eilen. Herr Leifert allerdings hielt mich auf.
„Wie gesagt, der Doktor kam rechtzeitig. Ihre Frau braucht nun Ruhe, aber es geht ihr gut.“
„Aber wer sollte sie denn vergiften? Wir waren doch nur bei Herrn Johansson.“
„Ja“, nickte Markus Braun bedächtig, „sie waren bei Herrn Johansson.“
„Sollte er…?“ ich setzte diesen Satz nicht fort. „Aber warum?“ fügte ich hinzu.
„Bitte setzen sie sich wieder. Ich werde ihnen alles erklären“, entgegnete mein Gegenüber.
Herr Leifert und ich nahmen Platz, währenddessen Herr Braun die Beine übereinander schlug und sich im Sessel zurücklehnte.
„Alles begann mit der Geschichte, die Jan Helmes eines Abends in der Gaststätte erzählte. Die Legende der alten Marte, die auf diesem Kotten umgeht und in der Sturmnacht auf dem Deich nach ihrem Mann Ausschau hält. „Auf diesem Kotten wohnt kein Glück“, hatte der alte Mann erklärt. Und wirklich, wenig später hören sie diese Geräusche um ihr Haus. Kurz darauf wurde ihre Küche verwüstet. Sie erinnern sich bestimmt an den folgenden Tag, als sie Wachtmeister Olson besuchten und später in der Gaststätte von diesem Vorfall berichteten. Jan Helmes wies sie darauf hin, dass dies das Werk der Marte sei. Dies war auch der Zeitpunkt, dass Herr Leifert und ich zum ersten Mal von ihren Problemen hörten. Es vergingen nun einige Tage, bis sie eines Nachts jenes Wehklagen auf dem Wohnzimmer vernahmen. Als ihre Besucher und sie nachsahen, fanden sie den Raum jedoch leer. In diesem Augenblick verfestigte sich der Eindruck, dass an der alten Geschichte über die unglückliche Marte doch mehr zu sein schien, als man vielleicht glauben mochte. Es folgte der Brand ihres Pavillons und heute Nacht schließlich sahen sie die Gestalt der Marte auf dem Deich, was dazu führte, dass ihre Frau um ein Haar gestorben wäre, womit sich die Prophezeiung Jan Helmes erfüllt hätte. Legenden besitzen eine große Macht.“
Er unterbrach sich für einen Augenblick, nahm einen Schluck des Weines, der vor ihm auf den Tisch stand, setzte sich in seinem Sessel bequem und berichtete weiter.
„Dies sind die Fakten, soweit man natürlich an das Übernatürliche glaubt. Doch betrachten wir die Angelegenheit einmal anders. Jemand schleicht des Nachts um ihr Haus, und zwar so, dass sie ihn bemerken. Später dringt er in ihre Küche ein, ohne das Schloss zu beschädigen. Dies wiederholt er an einem anderen Abend, um sie mit Seufzer weiter zu verängstigen, zündet ihren Pavillon an und versuchte schließlich, ihre Frau mit einer Überdosis Schlafmittel zu töten.“
„Aber warum?“ rief ich dazwischen. „Wer sollte ein Interesse daran haben? Wir haben doch niemanden etwas getan!“
Markus Braun nickte zustimmend.
„Ja, das ist eine gute Frage. Warum? Sie haben hier ein schönes Stück Scholle, das ganz sicher gutes Geld bringen wird.“
„Sie meinen, meine Frau sollte wegen dem Land ermordet werden?“ Aufgeregt war ich aufgesprungen, aber Herr Leifert hob nur beschwichtigend die Hand. Ich setzte mich wieder.
„Warten sie noch einen Augenblick“, bat Markus Braun.
„Wenn wir davon ausgehen, dass es sich um eine Person handelte, so musste sie ihre Gewohnheiten kennen, sie vielleicht sogar beobachtet haben und einen Schlüssel für das Haus besitzen, der die unversehrte Tür erklären würde und ihr dazu den Zugriff auf die Medikamente ihrer Frau gewährte.“
„Außer uns hat nur noch Felix, unser Neffe, einen Schlüssel. Für den Notfall, verstehen sie“, erklärte ich.
„Genau, Felix, ihr Neffe“, bestätigte Markus Braun.
„Felix hat nichts damit zu tun“, bekräftigte ich. „Unmöglich. Er würde uns doch wegen des Geldes nie etwas antun. Das erhält er doch sowieso.“
„Das ist richtig, es sei denn, seiner Firma würde es gar nicht so gut gehen wie sie glauben. Dann wäre eine Finanzspritze zum richtigen Zeitpunkt Gold wert.“
„Aber…,“ ich stockte. Dieser Gedanke war ungeheuerlich.
„Ihr Neffe hörte die Geschichte am selben Abend wie sie, er besaß einen Schlüssel, kannte ihre Gewohnheiten und kam in der letzten Zeit öfter einmal unangemeldet“, fasste Markus Braun zusammen.
Ich senkte den Kopf. Alles was er sagte, stimmte. Ja, so betrachtet konnte es Felix gewesen sein. Nun ergriff Herr Leifert, der direkt neben mir saß, das Wort.
„Wir haben Herrn Schröder überprüft. Zwar befindet sich seine Firma derzeit in einem Engpass, doch handelt es sich hierbei nur um einen ganz normalen geschäftlichen Vorgang. Bis auf den Abend, als er sie hier besuchte, verfügt er für die restlichen Tatzeiten über solide Alibis.“
„Ihr Neffe fällt somit als Täter aus“, ergänzte Markus Braun. „Die Fakten aber ändern sich nicht. Wer also kommt als Täter in Betracht? Wer besaß das Material und die Möglichkeit dazu? Es kommt nur eine weitere Person in Betracht. Sie, Herr Pohl!“
Markus Braun schwieg und starrte mich an. Ich hob ruckartig den Kopf und starrte zurück.
„Sind sie verrückt“, flüsterte ich atemlos. „Warum sollte ich all dies veranstalten?“
„Um die Legende der alten Marte zu bestätigen.“
„Was würde das für einen Sinn ergeben?“
„Sie wollten ihre Frau ermorden?“
„Ich meine Frau ermorden? Wir sind über dreißig Jahre verheiratet. Warum sollte ich so etwas tun?“
„Um für Annette Mühring frei zu sein, ihre Geliebte.“
„Meiner was?“
Herr Leifert lächelte, das erste Mal, dass ich es bemerkte.
„Es ist ein kleines Dorf. Da spricht sich alles schnell herum. Meine Tante war eine beliebte Frau und ich war als Kind in den Sommerferien oft hier zu Besuch. Ich habe einige Bekannte. Da fällt es auf, wenn jemand zu oft den Doktor aufsucht, selbst wenn er gerade Hausbesuche macht.“
„Ich habe ein Herzleiden“, entgegnete ich barsch, „und muss regelmäßig untersucht werden.“
„Doktor Basil versicherte uns, dass ein monatlicher Check in ihrem Fall durchaus ausreichend wäre. Frau Mühring war nicht nur ihre Geliebte, sie war zudem ihre Komplizin, ohne die das ganze Unternehmen nicht durchführbar gewesen wäre. Als wir dies erkannten, beobachteten wir sie und es war schnell klar, dass sie der Legende folgten. Ich war mir sicher, dass sie ihre Frau töten wollten.
Sie benötigten eine Sturmnacht und ihre Geliebte musste die sehnsuchtsvolle Marte spielen. Doch konnten sie nun nicht ohne weiteres zur Tat schreiten. Sie benötigten einen unabhängigen Zeugen. Jemanden, dem ihre Frau beteuern musste, Marte gesehen zu haben und von dem aus sie dann nach Hause kamen. Ihr Nachbar bot sich an.
Ich bat Herrn Johansson heute Abend, als der Sturm aufzog, uns sofort zu benachrichtigen, wenn sie kommen würden. Hatte ich mit meiner Vermutung recht, so war in dieser Nacht höchste Eile geboten, damit ihre Frau nicht ein ebensolches Unglück erlitt, wie all die anderen Personen in der Legende. Wir Menschen sind so abergläubisch. Wider alle Logik wäre sie ein Teil der Legende geworden und die Polizei hätte wahrscheinlich auch ein Versehen aufgrund der großen Seelenzerrüttung vermutet. Die arme Frau hatte sich einfach vergriffen und sie wären mit ihrer Geliebten fort -gegangen.“
Markus Braun hatte seinen Bericht beendet und in die Stille hinein hörte ich die Uhr über der Musikanlage ticken.
„Sie sind wahnsinnig“, knurrte ich Herrn Braun an.
„Die hiesige Polizei hat Frau Mühring inzwischen verhaftet“, berichtete nun Herr Leifert. „In ihrer Waschmaschine fand sie einen vollkommen durchnässten Umhang und Rock. Ihre Stiefel waren verschlammt, dass wir nachweisen können, woher der Dreck stammt.“
„Außerdem“, ergänzte Braun, „hat sie bereits gestanden.“
Herr Leifert war aufgestanden und durch die Tür hinausgegangen. Als er wieder hereinkam, begleitete ihn Wachtmeister Olson. Er baute sich vor mir auf und sah herunter.
„Frank Pohl, ich verhafte sie wegen Mordversuches an ihre Frau Ursula Pohl.“

*

Eintrag ins Tagebuch
10. Oktober 20..

Zwölf Jahre lautete das Urteil. Ich ertrage es mit Fassung. Was soll mir das jetzt schon ausmachen? Annette bekam sieben Jahre. Sie hatte alles gestanden und dies wertete die Staatsanwaltschaft als schuldmindernd. Ich kann sie sogar ein wenig verstehen. Meine Frau reichte natürlich die Scheidung ein und hat das Haus verkauft. Sie lebt jetzt bei Felix in Hamburg.
Dabei hatte alles so wundervoll begonnen. Als wir uns damals für diesen Kotten entschieden, glaubte ich einen friedlichen Lebensabend verbringen zu können. Ursula und ich verstanden uns im Grunde doch sehr gut, wenn auch vieles zur Gewohnheit geworden war. Mit ihrem Einkommen als Innenarchitektin sicherte sie uns immerhin einen angenehmen Lebensstandard.
Als ich nach meinen Herzproblemen das erste Mal Doktor Basil besuchte, verliebte ich mich sofort in Annette. Sie entfachte in mir eine Leidenschaft, die ich nicht kannte. Zum ersten Mal in meinem Leben war mir die Liebe begegnet. Sie war so einfach und ich konnte gar nicht anders, als mich ihr hinzugeben. Ich liebe Annette immer noch. Das wird wohl nie enden und dafür haben sich all diese Mühen doch gelohnt, denn was ist wichtiger?
Allerdings war ich verheiratet. Was sollte ich tun? Um mit Annette leben zu können, benötigten wir Geld und bei einer Scheidung wäre mir nichts geblieben. Ursula ist so hart in diesen Dingen und sie hätte mir es nie verziehen.
Es war pures Glück, dass dieser Trottel Helmes mir die Geschichte von der alten Marte erzählte und von den Todesfällen, die sich nach einer Begegnung mit ihr ereigneten. Noch während seines Berichtes entstand in meinem Kopf der Plan. So aufgeklärt die Menschen sich auch geben, insgeheim glauben sie die alten Legenden. Ich benötigte lediglich eine Nacht, um mir die Ereignisse im Kopf vorzustellen.
Um Felix tut es mir natürlich leid, aber es war ein guter Umstand, dass er mich an diesem Abend begleitete. Die Polizei ist nicht so leichtgläubig. Ich freundete mich mit Helmes an und er erzählte mir mehr von den alten Geschichten, die ich für meinen Plan benötigte.
Annette war dagegen. Ich musste sie lange überreden, bis sie schließlich zustimmte, mir zu helfen. Ich brauchte sie unbedingt dafür.
Der erste Teil war simpel. Ich erzählte von den geheimnisvollen Schatten, die ich bemerkt hatte. Die Sache mit der Küche aber musste Annette arrangieren. Ich gab ihr einen nachgemachten Schlüssel und erklärte ihr eingehend, was sie tun sollte. Es klappte wunderbar.
Natürlich wusste ich, dass Helmes am anderen Tag in der Gaststätte sitzen und er diese Geschehnisse lautstark auf die Marte schieben würde. So kam die Geschichte ins Rollen. Dass dieser Braun ebenfalls dort saß, war einfach Pech. Wer konnte ahnen, dass er ein Privatdetektiv und sein Freund ein Kommissar war?
Für den dritten Akt hatte ich den Pastor als Zeugen auserkoren. Ein glücklicher Umstand führte auch Felix an diesem Abend zu uns. Das machte die Sache ein wenig schwieriger, aber trotzdem bin ich stolz darauf.
Bevor wir zu Bett gingen, legte ich eine CD in die Anlage. Vierzig Minuten davon waren unbespielt, der Rest bestand aus einigen Seufzern, die uns weckten. Ich hoffte auf den Pastor, der die Geschichte im Dorf verbreiten würde und die Leute nun wirklich an den Fluch über dieses Haus glauben lassen würden Die Sache mit dem Pavillon war nicht eingeplant. Nachdem Ursula aber an die Umsetzung gegangen war – und wer weiß besser als ich, dass sie sich dann nicht mehr davon abbringen lässt – bot mir dies doch die Gelegenheit einer weiteren Steigerung. Ich schlich hinunter und steckte die Bretter in Brand, eilte nach oben, legte mich ins Bett, wartete einige Minuten und als ich sicher war, dass der Pavillon nicht mehr gerettet werden konnte, entdeckte ich das Feuer.
Abermals kam mir das Glück zu Hilfe. Johansson bemerkte die Flammen ebenfalls und das kam mir jetzt äußerst gelegen. Von dem alten Olson hatte ich nichts zu befürchten. Immerhin aber rief er seine Kollegen und die hätten möglicherweise Spuren entdeckt. Eile war nun geboten.
Doch wieder hatte ich Glück. Der Regen setzte ein und es gab die Ankündigung eines Sturms. Lange schon war dieser finale Teil meines Planes besprochen und ich eilte sofort zu Annette, um ihn in dieser Nacht umzusetzen.
Annette sollten nur einige Male um Hilfe rufen und als Marte auf dem Deich stehen. Den Rest würde ich schon erledigen. Es klappte auch wunderbar. Was war ich froh, dass ich in dieser Dunkelheit tatsächlich den Hof von Johansson erreichte. Ich musste dort ankommen, denn er allein konnte mein Zeuge für die seltsame Begegnung sein. Als Johansson uns nach Hause fuhr, wähnte ich mich schon fast am Ziel.
Vor dem Schlafengehen reichte ich Ursula ein Glas mit Wasser und einer Schlaftablette, wie ich ihr versicherte. Natürlich war die Dosis viel höher. Ursula vertraute mir doch so sehr.
Noch hätte ich Zeit gehabt, in jener Nacht alles so zu arrangieren, dass ich meine Spuren hätte verwischen und Ursula selbst versehentlich eine Überdosis eingenommen haben können. Aber dazu kam es ja nicht mehr.
Dieser verdammte Markus Braun hatte die Geschichte durchschaut. Na ja, ich kann ihm gar nicht böse sein, das ist schließlich sein Beruf. Trotzdem ist es schade um den schönen Plan und um Annette. Ich glaube nicht, dass ich sie jemals wiedersehen werde. Aber einmal im Leben sollte man doch alles auf eine Karte setzen und dafür hatte es sich bestimmt gelohnt.


© Mark Gosdek


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Beschreibung des Autors zu "Der Geist der alten Marte"

Eine Geschichte um den Privatdetektiv Markus Braun

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Kommentare zu "Der Geist der alten Marte"

Re: Der Geist der alten Marte

Autor: axel c. englert   Datum: 07.02.2016 18:24 Uhr

Kommentar: Spannend und MIT Geist geschrieben!
Auch ein Ambiente zum Verlieben...

LG Axel

Re: Der Geist der alten Marte

Autor: possum   Datum: 09.02.2016 1:48 Uhr

Kommentar: Fesselnde Sache lieber Mark, Danke dafür herzlich! LG!

Re: Der Geist der alten Marte

Autor: Mark Gosdek   Datum: 09.02.2016 6:06 Uhr

Kommentar: Schön, dass die Geschichte Euch gefällt. LG Mark

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